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Kein Referendum in Katalonien: Eingeknickt

Er stand im Jubel – und ahnte schon: Das wird nichts mit der Unabhängigkeit. Doch Oriol Junqueras hat einen Plan B für die Abspaltung Kataloniens.

Er drückt die Handballen in die Augenhöhlen und schnauft schwer. Er ahnt: Er wird nicht Geschichte schreiben. Erst mal nicht. Erst mal wird Katalonien nicht unabhängig. „Das ist ein Riesendrama“, murmelt Oriol Junqueras in Richtung seines Fahrers. Es ist Freitag, gerade hat Junqueras – seit drei Jahren Vorsitzender der linken Partei Esquerra Republicana de Catalunya, kurz ERC – im städtischen Theater der Küstengemeinde Lloret de Mar für die Unabhängigkeit geworben. Vor 400 Zuschauern erklärte er selbstbewusst und immer wieder, Katalonien würde es ohne Spanien viel besser gehen. Und der mächtige Mann mit den gutmütigen Augen rief seinen Zuschauern am Ende der Rede zu: „Für eine unabhängige Republik Katalonien!“ Es folgte minutenlanger Jubel.

Doch der Jubel muss einen schalen Beigeschmack für ihn gehabt haben. Denn Junqueras wusste da bereits, was der katalanische Regierungschef Artur Màs, sein politischer Partner, erst am späten Montagabend verkünden würde: dass er die Volksabstimmung gegen den Willen von Madrid nicht ausrichten lassen, dass er spanisches Recht nicht brechen wird.

Der Spruch des Verfassungsgerichts war ihm egal

Drei Wochen zuvor, kurz nachdem die Schotten sich in einem Referendum gegen ihre Unabhängigkeit ausgesprochen hatten, klagte die spanische Regierung vor dem Verfassungsgericht gegen das geplante katalanische Unabhängigkeitsreferendum. Vor zwei Wochen dann setzten die Richter die Abstimmung aus, sie wollten die Rechtslage in Ruhe prüfen. Eine Entscheidung gibt es bis heute nicht. Doch es existiert ein Präzedenzfall. Als vor etwa zehn Jahren die baskische Regierung ein Referendum über die Bildung eines unabhängigen Freistaats ankündigte, entschied das Gericht: Keine einzelne spanische Region darf über die nationale Souveränität entscheiden. Junqueras war es, der sich die Abstimmung über die Unabhängigkeit von Katalonien ausgedacht hat, die für den 9. November angesetzt wurde. Zwei Fragen sollten gestellt werden: Wollen Sie, dass Katalonien ein eigener Staat ist? Und: Wollen Sie, dass dieser Staat unabhängig ist? Seitdem begleitet ihn ein Polizist, rund um die Uhr.

Im Grunde war Junqueras der Spruch des Verfassungsgerichts sowieso egal. Spanien ist für ihn so etwas wie eine Besatzermacht, keine, nach der die Katalanen sich richten müssen.

Plan B steht bereits

Den Plan, mit der katalanischen Unabhängigkeit Geschichte zu schreiben, hat Oriol Junqueras deshalb auch nach der Absage nicht aufgegeben. Dass sein Referendum nicht stattfinden wird, ist für ihn nur eine Zwischenniederlage. Noch am Freitag – im Auto, auf der Rückfahrt von Lloret de Mar – entwirft er seinen Plan B. Er ruft Joan Herrera an, den Vizepräsidenten der Ökopartei Iniciativa per Catalunya Verds, einer von seinen Verbündeten im Kampf um die Unabhängigkeit. Sein Ziel: Neuwahlen zu provozieren. Seine Taktik: Das Parlament aufzufordern, trotz allem die Unabhängigkeit zu verkünden. Dass es darauf nicht eingeht, weiß er, als er es am Dienstagmorgen tut, aber auch, dass darüber die Regierung zerbrechen wird. Die Neuwahlen will er dann zum Referendum über die katalanische Unabhängigkeit machen. Seine ERC wird ankündigen, die Unabhängigkeit auszurufen, wenn sie bei den Wahlen die Mehrheit bekomme. Unilateral. Auch gegen den Willen Spaniens also. „Unterstützt ihr uns?“ fragt er Herrera mit geschlossenen Augen. Er lauscht, schweigt. Dann entspannen sich seine Gesichtszüge. „Alles klar.“ Er legt auf. „Das klappt“, sagt er zu seinem Fahrer. Joan Herrera und seine Iniciativa wollen die ERC unterstützen. Dass die Separatistenpartei Candidatura d'Unitat Popular an seiner Seite steht, ist sowieso klar. Junqueras’ Plan ist kein Hirngespinst. Seine ERC ist die zweitstärkste Partei im katalanischen Parlament und seit der Europawahl die stärkste politische Macht in der Region, laut Umfragen würde sie auch die Neuwahlen gewinnen. Bislang unterstützte die ERC die regierende Convergencia i Unio, kurz CIU. Doch einzig die geplante Volksabstimmung verband die beiden Parteien. Weil Artur Màs das Referendum am Montag abgesagt hat, ist der Pakt gebrochen, und damit steht die Regierung vor dem Ende. Am Dienstagnachmittag war klar: Junqueras Strategie ist aufgegangen. Màs hat Neuwahlen angekündigt. Eine unilaterale Unabhängigkeitserklärung kommt für ihn jedoch nicht infrage.

Inzwischen befürwortet rund die Hälfte der Katalanen die Abspaltung

Dass Oriol Junqueras das Schicksal seiner Partei mit der Unabhängigkeit verknüpfen will, ist nicht verwunderlich. Der 45-Jährige sagt, in die Politik sei er nur gegangen, um für die Unabhängigkeit zu kämpfen, das sei sein Traum, solange er denken kann. Und: „Sobald ich das geschafft habe, kehre ich zurück an die Uni.“ Junqueras ist Wirtschaftshistoriker an der Universität von Barcelona. Er sagt, wohler als im Parlament fühle er sich im Hörsaal, da gehe es weniger starr zu. Er mag es gern lässig, auch bei der Kleidung. Seine Hemden spannen am Bauch, den Hemdkragen lässt er am liebsten offen, die Farbe seiner Hose passt selten zum Sakko. Seit drei Jahren ist Oriol Junqueras nicht nur Präsident der ERC, sondern auch Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Sant Vicenc dels Horts im Westen von Barcelona. Mehr als 80 Prozent der Bewohner sind aus dem übrigen Spanien zugewandert, sprechen kein Katalanisch. Dass sie ihn, den Unabhängigkeitsbefürworter, zum Bürgermeister gewählt haben, ist für Junqueras der Beweis dafür, dass er ganz Katalonien für die Unabhängigkeit gewinnen kann. Nach verschiedenen Schätzungen kommt mehr als die Hälfte der 7,5 Millionen Katalanen aus anderen spanischen Regionen. Für Junqueras kein Problem. „Katalane ist, wer unsere Kultur und Geschichte kennt und lebendig hält.“

Der lange Kampf für die "katalanische Nation"

Wie die Basken und die Galicier verstehen sich die Katalanen als eigene Nation im Sinne von Kulturnation, mit eigener Sprache, eigener Kunst, eigener Geschichte, eigenem Rechtssystem. Seit dem Jahr 1980 wählen die Katalanen ein eigenes Parlament, sie haben eine eigene Polizeieinheit, Katalanisch ist Unterrichtssprache.

Vor zehn Jahren ging der damalige sozialistische spanische Ministerpräsident José Rodriguez Zapatero auf die Katalanen zu – und gab damit ungewollt den Anstoß für die aktuellen Unabhängigkeitsbestrebungen. Er rief das katalanische Parlament auf, die regionale Verfassung in ihrem Sinne zu erneuern. Die Katalanen schrieben die Worte „katalanische Nation“ in die Präambel. Dagegen klagte die konservative Partido Popular vor dem Verfassungsgericht. Im Jahr 2010 entschieden die Richter, es gebe keine katalanische Nation, nur die spanische. Mehr als eine Million Katalanen protestierten gegen das Urteil. Die Separatisten argumentieren nicht nur mit kulturellen Besonderheiten und der Geschichte, sondern auch mit der aktuellen Wirtschaftskrise. Der Satz „Ohne Spanien ginge es Katalonien viel besser“ ist zum Mantra geworden. Junqueras sagt: „Wir Katalanen machen gerade mal 16 Prozent der spanischen Bevölkerung aus, bringen aber mehr als 20 Prozent der spanischen Steuereinnahmen und bekommen keine zehn Prozent der Investitionen aus Madrid.“

Seit Junqueras den Vorsitz der ERC übernommen hat, steigen die Zahlen der Separatisten in Katalonien. Etwa die Hälfte der Katalanen befürwortet derzeit die Abspaltung von Spanien. Vor vier Jahren war es nur ein Fünftel.

Am vergangenen 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag, haben fast zwei Millionen Menschen für die Abstimmung demonstriert. Sie haben sich entlang der zwei großen Prachtstraßen von Barcelona aufgestellt und gemeinsam ein V geformt. Es stand für „vote“ (Wähle), „voluntad“ (Wille) und „victoria“ (Sieg). Im Jahr zuvor haben eineinhalb Millionen Katalanen eine 480-Kilometer lange Menschenkette gebildet, vom Süden Kataloniens bis zum Norden. Sprecher der Bürgerinitiativen, die seit einem Jahr fast jede Woche Demonstrationen für die Unabhängigkeit organisieren, haben am Dienstag erklärt, sie seien zwar enttäuscht, würden aber weiterhin für die katalanische Republik kämpfen. Auf den Straßen von Barcelona zeigt sich kaum jemand wirklich überrascht über das Aus für die Abstimmung. „Schade, dass sich Màs nicht gegen Madrid durchgesetzt hat“, sagt Miquel Eroles, ein 36-jähriger Informatiker, am Dienstagnachmittag in einem Café. „Aber ich bin sicher: Irgendwann kommt die Unabhängigkeit.“ Rosa Prat, Immobilienmaklerin, Mitte 50, hingegen ist erleichtert, dass die Abstimmung nicht stattfindet. Sie will nicht, dass Katalonien unabhängig wird, „das wäre eine wirtschaftliche Katastrophe für Spanien und Katalonien“, glaubt sie.

Drei Streifen - oder neun?

Prat steht mit dieser Meinung nicht alleine. Am Sonntag, dem spanischen Nationalfeiertag, war die Placa de Catalunya im Zentrum von Barcelona voller Menschen, manche schwenkten die spanische Flagge – rot-gelb-rot –, manche die katalanische – gelb-rot-gelb-rot-gelb-rot-gelb -rot-gelb -, manche beide. Eine Bürgerinitiative hatte aufgerufen, das Motto: „Spanien für alle“. Die Polizei zählte 38 000 Menschen, 8000 mehr als im vergangenen Jahr. „Wir wollen keine weiteren Grenzen“, erklärte am Rande der Demonstration Albert Rivera. Auf seiner linken Brust prangte ein Aufkleber in Herz-Form, dreigeteilt in die spanische Flagge, die katalanische und die europäische. Der 34-Jährige ist Vorsitzender der Partei Cuidatans, die 2006 gegründet wurde, um die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu bekämpfen. Der Sohn einer zugewanderten Andalusiern und eines Katalanen ist eigentlich Anwalt. Im Gegensatz zu Junqueras sagt er, er sei nur in die Politik gegangen, um gegen die Unabhängigkeit zu kämpfen. Er will kein katalanisches Referendum, er will, dass alle Spanier über die Zukunft der Region abstimmen.

Noch gibt Junqueras nicht auf

Dann erzählt er, dass Unabhängigkeitsbefürworter vor ein paar Tagen sein Auto zerstört haben. Vier Tage zuvor, im Auto, auf der Rückfahrt von Lloret de Mar, hat Junqueras noch gesagt: „Der historische Moment für die Unabhängigkeit – der ist jetzt.“ Und er erklärte, er habe gute Beziehungen zu Europa. Ein unabhängiges Katalonien würde innerhalb weniger Tage anerkannt. Am Dienstag, als klar ist, dass es keine offizielle Abstimmung geben wird, schrieb er dann auf seiner Facebookseite: „Wir brauchen jetzt eine starke Mehrheit im Parlament. Dann können wir die Unabhängigkeit verkünden und beginnen die katalanische Republik aufzubauen.“ Seinen Plan, Geschichte zu schreiben, er hat ihn noch nicht aufgegeben.

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