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Das Abwarten. Stundenlang ließ die Polizei den Randalierern Zeit, um die Straße Schulterblatt zu zerstören.

© Michael Kappeler/dpa

Krawalle beim G20-Gipfel: Hamburg und die Schuldfrage

Dem Kampf auf der Straße folgt an der Elbe der um die Verantwortung. Keiner will es gewesen sein. Und eine Stadt erkennt sich selbst nicht wieder.

Hamburg räumt auf. Oder hat aufgeräumt. Auf jeden Fall dauert es, sowohl optisch wie emotional. Auch drei, vier Tage nach der Schlacht ums Gewaltmonopol im Staat sind die Spuren einer der vielleicht brutalsten und hemmungslosesten Ausschreitungen der Geschichte der Republik sicht- und spürbar.

Die ausgebrannten Kleinwagenwracks auf der Elbchaussee und der Max-Brauer-Allee in Altona sind noch nicht abgeräumt, die zerschlagenen Fensterscheiben des Schulterblatts, dieser Straße des autonomen Glücks im Schanzenviertel und der jetzigen Straße des Grauens, sind noch nicht wieder ersetzt, vor den Türen der geplünderten Geschäfte stehen Bauzäune und daran hängen Plakate: „Liebe Nachbarn, wir räumen auf und sind bald wieder für sie da.“

Liebe Nachbarn? Nach offizieller Lesart, nach polizeilicher, behördlicher, politischer und boulevardesker Mediensicht waren es doch auch und gerade diese Nachbarn, die in dieser fürchterlichen Freitagnacht gar nicht lieb waren, sondern kriegerisch und zerstörerisch.

Unbedacht, dumm, verhängnisvoll

Olaf Scholz, der Erste Bürgermeister dieser, wie er sagt, „stolzen Stadt“, hat am Mittwoch in seiner Regierungserklärung vor der Bürgerschaft genau diese Nachbarschaft, die autonome Szene des Schanzenviertels mit ihren schwarzen Blöcken, als eine Antwort auf die Schuldfrage erkoren: „Mitverantwortung tragen auch die, die solche Taten verharmlosen oder sie als politisches Handeln rechtfertigen.“

Das zielte auch auf Andreas Beuth, Sprachrohr und Rechtsanwalt der „Roten Flora“, der nach der Freitagnacht sehr leichtfertig, sehr unbedacht und auch sehr dumm diesen verhängnisvollen und als programmatisch interpretierbaren Satz in die Übertragungskameras sagte, dass man ja nichts habe gegen solche Aktionen, „aber doch nicht hier bei uns in der Schanze, wo wir leben“, das gehöre doch nach Blankenese oder Pöseldorf, Stadtteile, in denen das reiche, zum Teil protzreiche Hamburg lebt.

So wie in der neuen Hafen-City um die neue Elbphilharmonie herum, wo Wohnungen zum Beispiel mit 110 Quadratmetern für monatlich 2195 Euro Nettokaltmiete angeboten werden, dafür aber „mit traumhaften Elbblick“. Was schon eine deutliche Diskrepanz bietet, wenn man danach über die Reeperbahn durch St. Pauli zur Schanze spaziert und dabei an dem Heer von Obdachlosen vorbeikommt, die hier in nahezu jedem Hauseingang Schutz vor dem Regen suchen.

Touristen sitzen bei Latte Macchiato und Prosecco

Fairerweise muss man sagen, dass Andreas Beuth schon einen Tag später nach seinem wütenden Satz, also lange vor der Schuldzuweisung durch Scholz, eine verbale Volte schlug und die Zerstörungen und Plünderungen als „sinnentleerte Gewalt“ anprangerte, die durch nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen wäre.

Hamburg räumt auf, optisch im Rahmen der handwerklichen Möglichkeiten, aber emotional nur im Hin und Her der Schuldzuweisungen. Was Aufarbeitung und Aufklärung der Geschehnisse stagnieren lässt.

Aber dafür hat Hamburg jetzt eine neue Sehenswürdigkeit. Die Rote Flora, jenes seit 27 Jahren besetzte ehemalige Theater, Zentrum der autonomen linken Szene Hamburgs, wenn nicht Deutschlands, wenn nicht Europas, und wohl auch Treff und Ausgangspunkt der ausschwärmenden, marodierenden Horden des vergangenen Wochenendes, dürfte in diesen Tagen eines der meist fotografierten Objekte der Stadt sein.

In den Cafés gegenüber dem von Graffiti übersäten roten Gebäude sitzen die Touristen bei Latte Macchiato und frühem Prosecco, fotografieren und berichten die Anekdoten der gewaltgetränkten Nacht, deren Augenzeugen sie waren als kulinarische Genießer. „Was hier los war“, sagt ein unüberhörbarer Franke drei Tage später zu seiner unüberhörbaren Fränkin, „aber ich zahle jetzt, wir wollen doch noch zur Hafenrundfahrt, ob wir hier ein Taxi finden?“

Geht es nicht ein paar Nummern kleiner?

Eine französische Schülergruppe auf Klassenfahrt versammelt sich vor der Flora um ihre Lehrerin, die ihrerseits von der „Resistance“ spricht, die hier seit fast 30 Jahren geleistet werde, ein paar Schüler klatschen. Resistance, der Sammelbegriff für den französischen und belgischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazibesatzungsmacht?

Geht es nicht ein paar Nummern kleiner, oder ist das etwa ein Bild, das sich die Welt von Deutschland macht nach der Schlacht am Schulterblatt: Eine kleine, aber unbeugsame Gruppe trotzt dem deutschen Polizeistaat? Ein verheerendes, verzerrendes und falsches Bild wäre das, und ist hoffentlich nur die ungeschickte Wortwahl einer übereifrigen, pathetischen und uninformierten Lehrerin.

Die Eskalation. Ziel der Angriffe vom vorvergangenen Freitag war auch ein Restaurant, das Mittagessen an Obdachlose verschenkt.
Die Eskalation. Ziel der Angriffe vom vorvergangenen Freitag war auch ein Restaurant, das Mittagessen an Obdachlose verschenkt.

© David Young/dpa

Derweil Davide Martello, ein Deutsch-Italiener, vor der Flora auf den den Stufen, die Wohnort etlicher Obdachloser sind, auf seinem ans Fahrrad angehängten Flügel schöne Weisen spielt und damit den Traum vom anderen, alternativen Leben neben dem globalisierten und kapitalistischen beswingt.

Die genießenden Franken finden ihr Taxi vor dem „Better feeling“, einem Laden für Allerlei, unter anderem für Hoodies, jenen Kapuzen- Pullovern gegen Kälte, Nässe und Wiedererkennung und wichtigster Bestandteil der Nonkonformisten-Uniform des Schwarzen Blocks, „zu G 20 für 27,95, danach für 39,95“. Es ist aber nur Zufall, dass der Pianist in diesem Moment „Bella Ciao“, das Lied der italienischen Partisanen und eine der Hymnen der Anarchisten, anstimmt. Das wirkt irgendwie trotzig und standhaft, so als sei die Schanze wieder im Einklang mit sich, der Schanze als Gegenentwurf zum bürgerlichen Leben.

Beuth sagt ab, Blechschmidt auch

Ist sie nicht, sie ist weit davon entfernt. Wir waren verabredet mit Andreas Beuth, dem bereits erwähnten Sprachrohr der linken Autonomen, als Jurist aber im Ruhestand, 64 Jahre alt und mit einem Gesicht, dem man abzulesen glaubt, dass er schon manche Schlachten geschlagen hat, gewonnene und verlorene. Wir waren verabredet mit Andreas Blechschmidt, dem aktuellen Rechtsvertreter der Flora und zusammen mit Beuth Anmelder der „Welcome to hell“-Demo.

Und wir waren verabredet mit Emily Laquer von der IL, der Interventionistischen Linken, die sonst sehr wortreich und wortgewandt mit Logik und Verstand Gewalt gegen Sachen in einer Welt voller Gewalt, deren Vertreter und Protagonisten und Staatsführer zum G 20 nach Hamburg gekommen sind, zu erklären versteht.

Kurz vor dem Treffen im Café Stenzel in unmittelbarer Nachbarschaft zur Flora ruft Beuth an, später auch Blechschmidt, man müsse leider absagen, das Plenum der Flora habe beschlossen, bis auf Weiteres nicht mit Pressevertretern zu reden. Falsch fänden beide den Beschluss, aber man sei nun einmal daran gebunden. Autonome, die sich an Mehrheitsbeschlüsse gebunden fühlen, ist das nicht ein Widerspruch an sich? Oder ist das ein Beleg dafür, wie verunsichert die Szene ist, wie ratlos und uneins sie ist bei der Bewertung der Gewaltorgie? Emily Laquer meldet sich zunächst gar nicht.

Ein wohltätiges Restaurant - entglast

Also zurück auf die Straße. Vor dem „bok“, einem asiatischen Restaurant, das auf einem Schild darauf hinweist, dass es täglich zwischen 11 Uhr 30 und 12 Uhr gebratenen Reis mit Huhn an Obdachlose ausgibt – „Bitte das Angebot nicht ausnutzen, es ist wirklich nur für Obdachlose bestimmt“, steht auch noch auf dem Schild –, einem Restaurant, das offensichtlich politisch sehr korrekt zu agieren scheint und kein Objekt des antikapitalistischen Kampfes sein müsste, jetzt aber entglast mit notdürftig geflickten Scheiben die zahlreichen Obdachlosen versorgt, vor dem „bok“ also steht Lilly, zumindest nennt sie sich so. Sprachstudentin sei sie, sagt sie, 25 Jahre alt, und „nein, wir waren das nicht“, sagt sie. Wir? „Ich wohne hier auf der Schanze, ich lebe hier gerne, auch und gerade wegen der Flora und den Autonomen und den Linken. Ja, wir. Wir waren das nicht.“

Ähnliches ist von anderen Schanzenbewohnern zu hören, die Frau im entglasten Teeladen, der Eisverkäufer nebenan, der Kellner in einem der Cafés gegenüber der Flora, sie sprechen von „Adrenalin-Junkies auf Drogen“, die nichts mit ihnen zu tun hätten, nichts mit der Schanze, nichts mit den Autonomen, nichts mit der linken Szene, die hier so bunt, so lebhaft und so real ist wie wohl sonst nirgends in Deutschland.

Die Schanze solidarisiert sich

Cord Wöhlke, der Geschäftsführer der Drogeriemarktkette Budnikowsky, dessen Filiale im Viertel gelobt wird für Nachhaltigkeit und soziales Engagement, steht derweil immer noch fassungslos im Chaos des Ladens: „Wenn sie die Sachen wenigstens mitgenommen hätten, einfach nur zerstört, rausgerissen aus den Regalen, pure Zerstörungswut.“

Die Schanze solidarisiert sich, auch und gerade mit der Flora, immerhin das scheint ein erster Schritt aus der Stagnation zu sein. Es ist auf jeden Fall ein Statement gegen die Forderung etlicher Politiker der Hamburger Bürgerschaft, die Flora endlich gewaltsam zu räumen. Vor 27 Jahren wurde das Gebäude besetzt, ist inzwischen auch Aufführungsort bei Konzerten, politischen Veranstaltungen und im erst kürzlich mithilfe örtlicher und sympathisierender Handwerker renovierten Café Treffpunkt der Anwohner zum Feierabendbier. Ein Bollwerk gegen die auch hier um sich greifende schleichende Gentrifizierung.

Der Kneipenbereich wurde renoviert, das Treppenhaus, die Balustrade wurde erneuert, schmuck sieht es aus, fast schon bürgerlich mit Blick auf die kleine Parkanlage hinter dem Gebäude. Die allgegenwärtigen Spontisprüche an den Wänden lassen jedes autonome Herz höher schlagen, sind aber von einer Harmlosigkeit, dass sie jeder unterschreiben könnte, der sich gerne und mit Überzeugung als Gutmensch beschimpfen lassen muss.

In der Nacht war die Flora Lazarett

In der Nacht war die Flora Lazarett für die vielen Verletzten, von denen allerdings, im Gegensatz zu den angeblich 476 verletzten Polizeibeamten, in den offiziellen Bilanzen nicht die Rede ist. Dass die Flora einer der touristischen Hotspots Hamburgs ist und mithin reichlich Umsatz bringt in den umliegenden Cafés und Restaurants, mag allerdings auch ein Motiv für die Solidarisierung sein.

Das „bok“, jener politisch korrekte Asiat, befindet sich im Nachbarhaus zum Schulterblatt 1. Auf dessen Dach hatten sich in der fatalen Nacht Randalierer positioniert und Steine und Sprengkörper auf die am nahen Neuen Pferdemarkt versammelten und verharrenden Polizeikräfte geworfen. Offizieller Grund, warum die Polizei nicht in die Straße vorrückte und den marodierenden Mob stundenlang unbehelligt gewähren ließ. „Also ich kenne noch andere Zugänge zum Schulterblatt“, sagt Lilly. Was auch ein Hinweis auf die andere Lesart der Randale ist, die Lesart der Gegenpartei, die die Polizei ursächlich verantwortlich macht als Auslöser.

Zahlreiche Filmaufnahmen belegen, dass die Einsatzkräfte, nun ja, sagen wir so, nicht gerade deeskalierend agiert haben. Am überschwänglichen Lob der Bürgerschaft und dem allerorten in Hamburg plakatierten Dank an die Polizei mag sich hier in der Schanze, in St. Pauli und Altona, den Zentren der wechselseitigen Gewalt, kaum einer beteiligen.

„Organisierte Strukturen, spontane Wut, maskulines Gehabe“

Und dann taucht die Szene doch noch auf aus ihrer Schockstarre und ihrer selbst auferlegten Schweigsamkeit. Nico Berg meldet sich, 28, Student der Soziologie, der gerade seinen Master macht und ebenfalls Sprecher der Interventionistischen Linken ist. „Wir sind ja nicht die Flora“, sagt er, „gleichwohl sind wir in dieser Auseinandersetzung solidarisch mit ihr.“ Wenn der linken Szene, den Autonomen, stets vorgeworfen wird, undifferenziert auf die Welt zu schauen, Berg könnte jederzeit den Gegenbeweis antreten.

„Was hier geschehen ist, ist nicht unsere Aktion, erst recht nicht unser politisches Ausdrucksmittel“, sagt er. „Wir sind noch im Prozess der Aufarbeitung, die wollen wir ohne ökonomische Hektik der Medien betreiben.“ Und, nein, sie wüssten noch nicht differenziert genug, wer die treibenden Kräfte auf der Protestseite gewesen seien, „es hat organisierte Strukturen ebenso gegeben wie spontane Wut über die Polizeigewalt der Tage zuvor und auch Leute, die ihr maskulines Gehabe mit geringer Vermittelbarkeit ausgetobt haben. Nach dem Motto, hey, in der Schanze geht es ab, ist doch geil“.

Auf der Gegenseite macht er „einen autoritären Staat“ aus, „der diesen Gipfel mit aller Gewalt hier in Hamburg haben wollte und zur Durchsetzung einen völlig hysterischen Polizeiapparat benötigte“.

Ein Reisebus rollt heran, dann ein Sightseeing-Doppeldecker

Aber das sei, „ich sage das ausdrücklich“, sagt Berg, nur eine Seite des Geschehenen. Eine andere die schwer bis gar nicht zu vermittelnde Gewalt der Freitags-Riots, „die jetzt vom Senat genutzt werden, um vom eigenen Versagen abzulenken und die großen Erfolge der anderen Demos, zum Beispiel unserer eigenen mit 80 000 Teilnehmern, in der Wahrnehmung völlig untergehen zu lassen“.

Eine Bilanz dieses Wochenendes, das die gesamtdeutsche Linke in einen linksterroristischen Zusammenhang stellt? „Die Proteste waren ein Erfolg, der offizielle Gipfel ein Fehlschlag“, sagt Berg. „Das vergessen wir nicht, wenn wir die Freitagnacht aufarbeiten.“ Aber eine Bilanz, dazu wisse man noch nicht genug. Nur so viel: „Es ist wohl die Wut der Ohnmacht auf die Arroganz der Macht geprallt.“

Zurück auf der Straße ist eine andere Art Bilanz zu beobachten. Durchs Schulterblatt, diese viel befahrene und viel belebte bunte Straße, zwängt sich von Eimsbüttel kommend ein Reisebus Richtung Neuer Pferdemarkt. Die Köpfe der Reisenden drehen sich nach rechts, man hört sie förmlich aufstaunen, ah, das also ist die Rote Flora. Ziemlich dicht hinter dem Reisebus mit unbekanntem Ziel rollt ein Sightseeing-Doppeldecker heran. Die Empörung und der Schauder wollen schließlich auch bedient werden.

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