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Nai oder Oxi. Die Stimmung in Athen ist entspannt am Wahltag. Die meisten Griechen sind überzeugt: Das Ringen mit der EU geht weiter. So oder so.

© AFP

Kurz vor Ende des Referendums: Der Wahltag in Griechenland

Sie wissen, es gibt keinen einfachen, schmerzfreien Weg aus der Krise. Nur, was sie ihren Politikern noch glauben können, wissen sie nicht. Noch läuft das Referendum. Um 19 Uhr schließen die Wahllokale

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Dilemma ist ein Gast aus Griechenland. Als vor zweitausend Jahren ein paar Männer in Athen anfingen, das logische Denken in Begriffe zu fassen, stießen die alten Griechen rasch auch auf seine Grenzen. „Dilemma“ beschreibt eine dieser Grenzen: Du hast zwei Möglichkeiten, aber egal wie du’s machst, wird es schlecht. Alexis Tsipras weiß wahrscheinlich sehr gut, wie es sich anfühlt in so einer Zwickmühle. Die neuen Griechen wissen es seit einer Woche auch.

Folgt mir und alles wird gut

Doch als Tsipras am Sonntag in die Schule in seinem Athener Wohnviertel Kipselis kommt, um die Stimme für sein eigenes Referendum abzugeben, lächelt der Regierungschef das Problem kurzerhand weg. „Man kann den Willen einer Regierung ignorieren, aber nicht den Willen eines Volkes“, sagt Tsipras. Ein Dilemma? Aber nicht doch, liebe Landsleute – folgt einfach mir, und alles wird gut!

So ging das jetzt seit einer Woche. Seit Tsipras die Verhandlungen in Brüssel abgebrochen und das Angebot der Gläubiger seinem Volk zur Abstimmung vorgelegt hat, ist der 40-Jährige fast täglich seinem Fernsehpublikum erschienen. Er trug immer das weiße Hemd mit offenem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln, und hinter ihm ertrug jedes Mal eine Bücherwand ehrwürdig gebundener Folianten regungslos die immer gleiche Botschaft: Es gibt gar kein Dilemma. Es gibt nicht mal ein Risiko.

Auf ihn blickt heute ganz Europa: Alexis Tsipras bei der Stimmabgabe.
Auf ihn blickt heute ganz Europa: Alexis Tsipras bei der Stimmabgabe.

© Reuters

Das gab es aber doch, beides, das Risiko wie das Dilemma. Trotzdem ist in vielen Athener Vierteln die Stimmung am Sonntag nicht angespannt. Die meisten glauben, die EU werde so oder so „Maßnahmen“ verhängen – welche auch immer. An den Geldautomaten stehen wieder etliche Menschen an. In Sichtweite vieler Abstimmungslokale steht etwas, was die Griechen „die Tischchen“ nennen. Der Wahlkampf geht weiter. Im „linken“ Viertel Kesariani sitzen die Nein-Vertreter direkt vor der großen Grundschule an der Hauptstraße. Man kennt sich, man redet, raucht zusammen eine Zigarette. Im Wahllokal ist direkte Werbung verboten, die Sticker auf der Brust der Wahlbeobachter der Parteien nicht. Syriza dominiert, also „Nein“.

„Es tut mir leid“, sagt die Zahnärztin Stamatia Papatriantafyllou und hebt die Schultern. Die 68-Jährige hat „Nein“ angekreuzt. „Wir wollen unsere Schulden bezahlen, aber die Wirtschaft ist am Boden. Wir können im Moment nichts mehr geben.“ Sie hat ihre kompletten Steuern für 2016 vorauszahlen müssen, 70 Prozent weniger Patienten als vor fünf Jahren und einen arbeitslos gewordenen Mann und zwei Söhne zu Hause, Studenten, zum Glück hier in Athen: „Sonst könnten wir uns das gar nicht leisten.“ Ihr Mann erzählt noch von dem deutschen Kindermädchen, das seine Cousins in Patras hatten, „Fräulein Ingrid war sehr groß, zwei Meter“ – Costas zeigt in die Höhe. „Und sehr streng. Sie hat uns immer verboten, beim Essen Wasser zu trinken. Das finde ich gut. Aber sie wollte das auch, wenn es 42 Grad hatte. Das hältst du nicht aus. Und die Leute ändern sich nicht.“ Dann zitiert er ein bisschen – Habermas und Heidegger.

In Kolonaki residieren die Botschaften, es ist eins der teuersten Viertel der Stadt. Hier dominieren die „Ja“-Sticker. Auch Katherina Angelopoulou hat mit „Ja“ gestimmt. „Damit wird es leichter sein“, glaubt die 20-jährige Studentin. Ihre Mutter, eine elegante Anwältin in Designerbluse und Hermessandalen, hat ebenfalls Ja angekreuzt. „Wir wollen optimistisch sein“, sagt sie und lacht. „Die Partner sind keine Racheengel.“

Finanzminister Yanis Varoufakis hat seine politische Zukunft mit dem Referendum verknüpft.
Finanzminister Yanis Varoufakis hat seine politische Zukunft mit dem Referendum verknüpft.

© AFP

Es gibt übrigens noch eine dritte Variante. Vor der Kirche an der zentralen Bushaltstelle von Kesariani wirbt die kommunistische KKE für „zweimal Nein“. Sie haben dafür eigene Stimmzettel gedruckt, dazu einen Merkzettel: die Folgen von „Ja“ oder „Nein“ aus ihrer Sicht. Die Kommunisten glauben, dass beides falsch ist; beides zu wenig im Kampf für die Arbeiter. „Wir wissen, dass es diese Tendenz gibt und wollen sie stärken“, sagt Vasilis Stamoulis, Chef der Textilgewerkschaft. Auch das ist also eine Methode, das Dilemma aufzulösen.

Varoufakis ist ein großer Sophist

Im übrigen Europa haben sie in den letzten Tagen zunehmend fassungslos dem Schauspiel zugeguckt, das sich da vor ihren Augen abspielte. Das übrige Europa hat die Logik einst von den alten Griechen gelernt. Solche wie Tsipras oder Yanis Varoufakis kamen im Philosophieunterricht nur unter dem Stichwort „Sophisten“ vor. Sophisten, das sind Wortverdreher und Scheinlogiker. Historisch nicht ganz gerecht, aber man braucht ja auch für Menschen ein Wort, die man nicht direkt Lügner nennen will.

Varoufakis, wenn er nicht gerade seine früheren Gesprächspartner als „Terroristen“ bezeichnet, ist ein großer Sophist. Der Finanzminister hat seinem Volk erst erzählt, dass die Banken nicht schließen, und danach erzählt, dass sie an diesem Montag früh gleich wieder öffnen. „Wenn das ,Nein’ gewinnt, werden wir eine andere Vereinbarung haben, die lebensfähig sein wird.“ Das konnte man vom griechischen Finanzminister noch am Sonntag in Interviews lesen. Das hat auch Tsipras immer wieder behauptet: Griechenland muss bloß Nein sagen zu den Gläubigern, schon sagen die Gläubiger Ja zu Griechenlands Forderungen.

Wahlkampf bis zum Schluss. Die kleinen "Tischchen" mit der Wahlempfehlung gibt es überall in Griechenland. Nur direkt im Wahllokal sind sie verboten.
Wahlkampf bis zum Schluss. Die kleinen "Tischchen" mit der Wahlempfehlung gibt es überall in Griechenland. Nur direkt im Wahllokal sind sie verboten.

© Ingrid Müller

Mit herkömmlicher Logik ist das nur schwer vereinbar. „Es wäre falsch anzunehmen, dass ein Nein die griechische Verhandlungsposition stärken würde“, hat denn auch zuletzt der EU-Währungskommissar Valdis Dombrovskis eingewandt. „Das Gegenteil ist der Fall.“ Der Lette ist ein höflicher Mann. Martin Schulz hat die Höflichkeit längst aufgegeben. Tsipras manipuliere sein eigenes Volk, schimpfte der Präsident des Europaparlaments, „das hat fast demagogische Züge“. Auch so ein Wort, nebenbei, das wir von den alten Griechen geerbt haben. Es hat nur heute einen anderen Sinn. Damals meinte Demagoge den Volksredner, der überzeugt, nicht den Verführer.

Tsipras passt auf beides. Der Mann weiß, wie man sein Volk packt. Auf der Abschlusskundgebung der „Oxi“- Fraktion, der Neinsager, hat er auf dem Syntagma-Platz noch einmal die „Würde eines Volkes“ beschworen, um die es hier gehe – nicht um Euro oder Grexit.

Das Tsipras' Drohungen ernst gemeint waren, glaubten nur wenige

Von, sagen wir mal, Angela Merkels Büro im Kanzleramt aus betrachtet muss so ein Auftritt wie politisches Mittelalter anmuten. Das könnte immerhin erklären, warum sich Merkel wie fast alle anderen Europäer in Tsipras getäuscht hat, diesem enervierend hartnäckigen, aber höflichen und anscheinend durchaus verständnisvollen Verhandlungspartner – der nur leider, kaum zu Hause, in wütende „Erpresser“-Polemik verfiel.

Dass die ernst gemeint sein könnte und nicht nur ein taktisches Zugeständnis war an den kunterbunten Haufen von Maoisten bis Ökos, aus dem die regierende Syriza-Bewegung besteht, hat kaum einer glauben wollen. Außer, vielleicht, Wolfgang Schäuble. Seine Kanzlerin kennt den Typus des politischen Überzeugungstäters ja nur in der freundlichen Version des DDR-Bürgerrechtlers, dessen Träume von einer anderen Republik die D-Mark überrollte und der danach melancholische Bücher schrieb. Schäuble kennt auch die andere, die harte Version. Der Finanzminister hat zu 68er-Zeiten studiert. Er hat die frühen Grünen gesehen. Er hat all die ideologischen Kämpfe miterlebt, derer die heutige Bundesrepublik längst müde geworden ist.

In Griechenland scheinen viele dieser Kämpfe noch lebendig. Alleine, was in einem Wort wie „Oxi“ mitschwingt, dem Nein! 1940 hat es der Militärherrscher Ioannis Metaxas dem Italiener Benito Mussolini entgegengeschleudert, als der Faschistenführer von ihm die Unterwerfung forderte. Der Tag ist bis heute ein Nationalfeiertag. „Oxi“, der Stolz, die Würde – da klingt vieles mit. Tsipras hat ein Gespür für Resonanzen und keine Angst vor Größenwahn. Am Sonntag haben seine Freunde in sein Wahllokal ein Podest aus Paletten gewuchtet. „Ich bin sicher, dass wir für alle Völker Europas einen neuen Weg öffnen werden“, verkündet er. Der Tag der Abstimmung sei ein „Festakt“.

Die Wahlbeteiligung liegt bei über 40 Prozent. Rechtlich ist das Referendum damit bindend.
Die Wahlbeteiligung liegt bei über 40 Prozent. Rechtlich ist das Referendum damit bindend.

© Ingrid Müller

Ein Festakt? Eine Zitterpartie in Wahrheit auch für ihn. Tsipras hat nach der Nacht, in der er das Referendum verkündete, praktisch jeden angerufen, der in Europa etwas zu sagen hat. Er wollte weiter verhandeln. Die anderen aber nicht.

Das Problem ist bloß, dass die Griechen nicht allein dastehen mit einem Dilemma. Die anderen Europäer haben ab Montag auch eins, und zwar unabhängig vom Ergebnis in Athen. Das ist mit jedem Tag der letzten Woche deutlicher geworden. Als Varoufakis am Dienstag vergeblich versuchte, mit einem Veto-Trick das Ende des zweiten Hilfsprogramms zu verhindern, ließen ihn die 18 übrigen Euro-Finanzminister einmütig ziehen. Aber seither haben sich einige Risse im Lager der Gläubiger aufgetan.

Christine Lagardes Internationaler Währungsfonds (IWF) hat zum Beispiel vorgerechnet, dass Griechenland einen Schuldenschnitt brauchen werde, wenn man dem Land Zugeständnisse bei Wachstumszielen und Reformen machen würde. „Schuldenschnitt“ ist in Berlin ein Reizwort, vor allem in der Unionsfraktion. Und dann war da die Frage, ab wann man wieder miteinander redet. Die Franzosen haben auf eine Vereinbarung gedrungen, noch vor diesem Referendum. Merkel hat aber auf stur geschaltet: Erst mal soll dieser Tsipras die selbst eingebrockte Volksabstimmung hinter sich bringen. Was will man vorher reden?

Das ist logisch. So wie es logisch wäre, ein griechisches Nein beim Wort zu nehmen und das Land seinem Schicksal zu überlassen. Aber Politik ist mehr als Logik. Die alten Griechen wussten das, und die neuen vertrauen darauf. Gerade die „Nein“-Sager. Alexandros Kyrgios, ein 19-jähriger Student, ist sicher: „Wir werden leben, sie wollen uns nicht außerhalb Europas.“ Keine Angst vor dem Chaos? „Wir haben 2015, da wird verhandelt.“

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