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Die Zeiten, in denen Paula Anders alles und jeden verfluchte – außer die Eltern, aber inklusive Gott – sind vorbei.

© Sven Darmer

Leben mit einer seltenen Krankheit: 20 Jahre Schmerz, Heilung nicht in Sicht

20 Jahre Schmerz, 24 Stunden am Tag: Myoklonus-Dystonie-Syndrom heißt die Krankheit, an der Paula Anders leidet. Sie ist so selten, dass niemand sie erforscht. Heilung gibt es nicht.

Paula lacht. Sie lacht gerne und viel. Später wird sie sagen, dass sie ein glücklicher Mensch ist.

Es ist nicht so, dass es Paula Anders gut ginge, wahrlich nicht. 24 Stunden am Tag leidet sie, aber deswegen auf Fröhlichkeit und Glücklichsein verzichten? Das hat Paula Anders lange genug gemacht in ihrem bisherigen noch kurzen Leben, in den 20 Jahren, in denen sie der Schmerz durchgehend durchzuckt. Jetzt streckt sie aber erst mal zur Begrüßung ihre rechte Hand aus. Die versteckt sie sonst lieber, weil diese Hand stark verkrampft ist.

Paula Anders ist inzwischen stabil. Sie ist eine selbstbewusste junge Frau, ist, wenn man das in ihrem Fall sagen darf, ein unverkrampftes Wesen. Die Zuckungen in ihrem Körper aber sind sichtbar, sie sehen aus wie Stromschläge. Das sagt sie auch, dass sie „24 Stunden diese Stromschläge bekommt“. Man muss sich das vorstellen, kann man sich das vorstellen? 24 Stunden am Tag Stromschläge bekommen, nicht als Anfall, nicht als sich ankündigender Schub, der wieder vorbeigeht, sondern Stromschlag, der auf Stromschlag folgt, auf Stromschlag, auf Stromschlag, auf Stromschlag, auf Stromschlag … „Wie kann man da schlafen?“ Paula Anders zuckt mit den Achseln, diesmal selbstbestimmt, und sagt: „Ich kenne es nicht anders, so ist mein Leben.“

Ihre Stimme bebt ein wenig, aber das kann die Aufregung sein, von ihrem Leben zu erzählen. Wenn sie geht, geht sie etwas schräg, stolpert auch schnell. Vor einiger Zeit hat sie versucht, mit ihrer Mutter Hilke, 57, durch den Wald in ihrem Viertel im brandenburgischen Kleinmachnow zu joggen. „Da bin ich nur hingefallen, ging gar nicht“, sagt sie. Mutter und Tochter lachen über die Stürze. Es ist, als lachten die beiden Paulas Krankheit einfach weg.

Paula Anders ist schwer krank, unheilbar krank, sie leidet unter dem Myoklonus-Dystonie-Syndrom, einem sehr seltenen Gendefekt. Wo der herrührt, wissen die Ärzte nicht, weiß die Forschung nicht, folglich gibt es auch keine Medikation. „Ist so“, sagt Paula Anders, „ich habe lernen müssen, die Krankheit zu akzeptieren, aber ich bin ja noch jung, vielleicht findet die Forschung ja etwas.“ Vielleicht ist das der Strohhalm, an den man sich klammert, vielleicht ist es das Pfeifen im Walde, realistisch ist es nicht.

Meistens sind es Gendefekte

Das Myoklonus-Dystonie-Syndrom zählt zu den seltenen Krankheiten. Das ist eine Vielzahl unterschiedlichster Erkrankungen, die im Bereich der Europäischen Union in weniger als fünf Fällen pro 10 000 Einwohnern auftreten. Meistens handelt es sich um Gendefekte. Nur: So selten sind die seltenen Krankheiten gar nicht. Alleine in Deutschland leiden vier Millionen Menschen darunter, an Paula Anders’ Dystonie sind hierzulande 160 000 Menschen erkrankt.

Eines der größten Probleme der Behandlung seltener Krankheiten wird deutlich in der internationalen englischen Bezeichnung des Phänomens: „Orphan Diseases“ werden sie genannt, verwaiste Krankheiten. Sie sind weitgehend unerforscht, es gibt so gut wie nie eine frühzeitige Diagnose, keine Kenntnis über die Ursachen, keine Therapie, keine Medikation zur Heilbarkeit, allenfalls zur Linderung der Symptome und zur Verlängerung der Lebensdauer der Patienten.

Die Pharmaindustrie hat kein besonders großes wirtschaftliches Interesse daran, Arzneimittel gegen seltene Krankheiten auf den überschaubaren Markt zu bringen. „Ich habe lernen müssen, die Krankheit zu akzeptieren“, hatte Paula Anders gesagt. Das ist zwar Resignation, aber in der derzeitigen Situation wohl auch der einzige Weg, mit der körpereigenen Katastrophe zu leben.

Als ihre Tochter zwei Jahre alt war, merkte Hilke Anders, damals arbeitete sie noch als Kinderkrankenschwester, dass irgendetwas nicht stimmte mit der Kleinen. Paula hatte etwas spät, aber noch im Rahmen, angefangen zu laufen. Und nach einem halben Jahr wieder aufgehört. Eine befreundete Physiotherapeutin riet damals dazu, etwas zu unternehmen, das Mädchen untersuchen zu lassen. Zumal Paula schrie, weit mehr, als andere kleine Kinder schreien, sie schrie und schrie und schrie. Was aus heutiger Sicht verständlich ist, weil das kleine Kind ständig mehr oder weniger starke Stromschläge bekam.

Die Untersuchungen brachten ein dünnes Ergebnis, ein nichtssagendes. Zwei Jahre wurde das Kind in der Charité untersucht. Ohne Ergebnis. Paula wuchs und wurde älter und immer wieder gab es neue Untersuchungen. Mal wurde ein Tumor diagnostiziert – aber nicht gefunden. Dann glaubten die Ärzte, das Leiden rühre von einer Cerebralparese her, einer Lähmung, die durch eine frühkindliche Hirnstörung hervorgerufen wird und sich auf Muskulatur und Motorik auswirkt. Dann wurde Parkinson vermutet und mit Dopamin behandelt, was bei dauerhafter Einnahme zur Demenz führt. Dann bekam Paula Clonazepam, weil man in den Zuckungen ADHS gesehen haben wollte, die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung.

Viele Fehldiagnosen

Am Ende aller Untersuchungen und Vermutungen stand der hilf- und ratlose Satz: „Bewegungsstörung unbekannter Herkunft“. Und die zumindest ehrliche Aussage einer Ärztin vom „Sozialpädiatrischem Zentrum Neuropädiatrie" der Charité: „Ich weiß nicht, was Paula hat, ich weiß es einfach nicht.“ Paula hat Schmerzen, Paula stolpert, Paula zuckt.

Die Auswirkungen waren zu Anfang noch vergleichsweise harmlos. Paula Anders stolperte zur Schule, fiel dort auf mit ihren Zuckungen, wurde, wie sie sagt, „vielleicht ein bisschen gehänselt, weil ich nicht mittobte, wenn die anderen tobten, aber sonst war alles ganz gut, man sah mir ja nicht wirklich an, dass ich krank bin.“ Alles ganz gut, bis auf die Zuckungen, bis auf die Schmerzen, Schmerzen, die nie nachlassen. „Es gibt keine Phasen der Entspannung“, sagt Paula Anders. Schmerzmittel, gut, Schmerzmittel könnte sie nehmen, sagt sie, „die bringen 30 Prozent Erleichterung und 130 Prozent Schwindel, Appetitlosigkeit, Gedächtnisschwund“.

Paula Anders sitzt bei ihrer Erzählung am Esstisch im Elternhaus, der kleine Flügel in einer Ecke ist übersät mit den Geschenken für Mutters Geburtstag am Vortag, Paula Anders erzählt, nun ja, nicht gerade unbeschwert, aber auch ohne jegliche Verbitterung. So, als habe sie ihren Frieden gemacht mit sich und ihren Umständen, so, als sei doch alles halb so wild. „Als Kind ist doch alles normal für einen selbst, dass ich anders bin, als die anderen, diese erschreckende Erkenntnis kam erst später, auf dem Gymnasium.“

Dort aber dann mit Macht und Wucht. Die vielen Fehldiagnosen, die vielen deswegen irrtümlich verabreichten Medikamente fordern Tribut. Paula Anders hat Schwindelanfälle, sie kann sich nicht konzentrieren, sie ist vergesslich, „so sehr, dass ich am Abend nicht mehr wusste, was ich am Tag gemacht habe“. Die Mitschüler in der beginnenden Pubertät sind nicht so nett zu ihr, „doch, da wurde ich schon gemobbt“. Sie hat hohe Fehlzeiten, sie kann nicht mitmachen, wenn die anderen etwas unternehmen, sie ist die Außenseiterin, aber sie will es nicht sein. Dauerhafte Zuckungen und viele Tränen, man kann sich das vorstellen, sind eine grausame Mischung.

Als Paula Anders 14 Jahre alt ist, erleidet sie einen epileptischen Anfall – was zur nächsten Fehldiagnose führt und zu weiteren verheerenden Medikationen. Aber immerhin entdeckt eine Ärztin auf dem EEG, der elektroenzephalografischen Untersuchung der Gehirnströme, die Zuckungen und verweist sie in die Erwachsenenneurologie. Drei Jahre wird Paula Anders dort beobachtet, dann, sie ist mittlerweile 18 Jahre alt, bekommt ihr Leiden einen möglichen, wahrscheinlichen Namen: Myoklonus-Dystonie-Syndrom.

Jahre der Verzweiflung

„Erleichterung ist das falsche Wort“, sagt sie, aber das Gefühl, zu wissen, was man hat, sei besser gewesen als das ständige Achselzucken. Am Ende dieser Untersuchungen und mit dem Wissen einer Diagnose eröffnet sie der Mutter am letzten Tag der Schulferien, dass sie diese Schule nicht mehr betreten wird: „Ich kann da nicht mehr hin.“ Der Anfang, so etwas wie Selbstbewusstsein aufzubauen?

Paula Anders wechselt die Schule, wiederholt die neunte Klasse, baut Freundschaften auf zu Mitschülern, bekommt einen Nachteilsausgleich bewilligt. Das sind Sonderrechte, in ihrem Fall ist das eine Sportbefreiung und eine Zeitverlängerung bei ausgewählten Prüfungen. Aber es läuft nicht gut in der Schule, Paula Anders nimmt immer noch Medikamente, immer noch die falschen, weil es die richtigen nicht gibt, weil die Krankheit wohl 1999 erstmals medizinisch beschrieben wurde, aber noch nicht erforscht ist.

Die Auswirkungen sind dieselben wie zuvor. „Was ich am Abend gelernt habe, war am anderen Morgen weg“, sagt sie, „nicht mal an das Fach, für das ich gelernt habe, konnte ich mich erinnern.“ Die Noten werden schlechter, „Rücksicht wurde nicht genommen“. Im Nachhinein weiß sie, dass offenbar nicht alle Lehrer von der Schulleiterin informiert worden waren, dass sie eine diagnostizierte Krankheit hat. Der Mutter wird mitgeteilt, dass „so ein Gymnasium vielleicht doch nicht die richtige intellektuelle Schulform für ihre Tochter ist“. Paula Anders schmeißt hin. Das sind die Jahre der tiefen Verzweiflung.

Die Eltern erfasst diese Verzweiflung ebenso wie die Tochter. Weil nichts anschlägt, keines der Medikamente, die Paula Anders in eineinhalb Jahren ausprobiert – oder die an ihr ausprobiert werden – wirkt, weil mit dem Abbruch des Gymnasiums auch der Berufswunsch ihrer Tochter, Innenarchitektin, hinfällig geworden ist. „Ich weiß nicht, ob das geklappt hätte“, sagt Paula Anders, „aber vielleicht, vielleicht, wenn mal eine Medizin geholfen hätte.“

Inzwischen gibt es die Möglichkeit eines „Hirnschrittmachers“, der durch elektrische Impulse die überaktiven Regionen im Gehirn hemmt. Die Elektroden werden durch ein Bohrloch im Schädel ins Gehirn gesetzt und mit einem elektrischen Stimulator verbunden, der in Höhe des Schlüsselbeins implantiert wird. So gruselig sich das anhört, so übel wird Paula Anders bei dem Gedanken, „ich will mir nicht im Gehirn rumbohren lassen.“ Zumal die Behandlung keineswegs sicheren Erfolg verheißt.

„Das war aber auch der Punkt, an dem ich mir gesagt habe, dass mir Jammern nicht weiterhilft“, sagt Paula Anders am Esstisch in ihrem Zuhause. „Oh, was habe ich all die Ärzte und psychotherapeutischen Begleiter verflucht, die mir das immerzu gesagt haben. Die haben ja keine Ahnung, habe ich denen gesagt, wie es ist, so aussichtslos und chancenlos den Zuckungen ausgesetzt zu sein.“ Und damit beginnt auch das Happy End ihrer traurigen Geschichte.

Medikamente hat sie abgesetzt

Inzwischen besucht sie das OSZ, das Oberstufenzentrum, sie lernt jetzt Bürowirtschaft, ist Jahrgangsbeste. „Das wird schon gehen“, sagt sie und lacht wieder, „das Schicksal hat es nicht immer gut mit mir gemeint, aber in einem Punkt war es mal gnädig.“ Ihre Verkrampfung in der Hand ist rechtsseitig, „ha, Schicksal, ich bin aber Linkshänderin, da stört mich das beim Schreiben nicht.“ Sie hat alle Medikamente abgesetzt, nimmt seit einem Jahr nur noch Magnesium, weil das für kurze Momente zu einer leichten Muskelentkrampfung führt und die Stromschläge milder werden.

Die Zeiten, in denen sie alles und jeden – außer den Eltern, aber inklusive Gott – verfluchte, sind vorbei. Spazierengehen kann sie immer noch nur kurz, wird sie auch nie länger können, „das ist zu anstrengend“, Tanzen ebenso. Kino-, Theater-, Konzertbesuche lässt sie lieber gleich bleiben. Denn sich von den ständigen Stromschlägen nicht ablenken zu lassen, erfordert eine sehr hohe Konzentration.

Inzwischen ist sie in Amsterdam gewesen, nach Prag und Paris gereist, hat halb Italien gesehen. „Das Reisen ist zwar immer aufwendig und vorher beängstigend, aber es war immer schön“, sagt sie. Paula Anders ist aktiv, zum Beispiel bei der „achse“, einer Stiftung, die sich speziell um seltene Krankheiten kümmert, ist Vorsitzende der Jugendgruppe der Deutschen Dystonie-Gesellschaft. „Ich glaube schon, dass ich irgendwann mal alleine, autonom leben könnte“, sagt sie. „Einkaufen, kochen, Haushalt führen, ich wünsche mir, das zu können.“ Das „aber“ lässt sie aus. Paula Anders zuckt.

Zurzeit hat sie keine Beziehung. „Da bin ich ohnehin das größere Problem, weil ich immer Angst hatte, mein Freund mag mich nicht wegen meiner Krankheit, war aber nie der Fall.“ Und, vielleicht eine etwas zu intime Frage, Kinderwünsche? Paula Anders hat die Frage erwartet, hat wohl auch selber schon darüber nachgedacht. „Körperlich würde es gehen“, sagt sie, „und eine eingeschränkte Lebenserwartung habe ich laut Ärzten auch nicht. Aber meine Krankheit ist nun einmal ein genetischer Defekt, und der kann sich vererben. Nein, nein, damit möchte ich mein Gewissen nicht belasten.“

Paula Anders versteckt sich nicht. Der Fotograf sagt zu ihr: „Deine Zuckungen kann ich auf einem Foto nicht festhalten, ich kann aber den Krampf in der Hand sehen.“ Anfangs schiebt sie immer wieder die linke Hand über die rechte. Und dann lässt sie sie langsam frei. Sie zuckt, sie krampft, sie leidet. Und dann lässt sie den linken, unverkrampften Arm fallen. Und lacht. Und lacht. Mutter Hilke tritt zu ihr, nimmt sie in den Arm, küsst sie auf die Schläfe, „ach, du Süße“. Paula lacht. Es ist ein stolzes Lachen.

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