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Der Motor hinter dem Fahrrad-Volksentscheid: Heinrich Strößenreuther (rechts).

© Sophia Kembowski/dpa

Lobbyist Heinrich Strößenreuther: Mit Streitsucht zur Fahrradstadt Berlin

Es kann bis zum Krawall gehen. Heinrich Strößenreuther will die Verkehrspolitik in Berlin grundlegend erneuern. Politiker kommen an ihm nicht vorbei, schon gar nicht vor der Wahl.

Heinrich Strößenreuther fällt als Erster um. Neben seinem schwarzen Tourenrad sinkt der Mann, der Berlin zur Fahrradstadt machen will, auf den Asphalt der Oranienstraße. Strößenreuther ist Unternehmensberater von Beruf, Fahrrad-Aktivist und politischer Aktionskünstler. Das demonstrative Sterbe-Schauspiel - das „Die-in“ - hat er sich ausgedacht, um eine Kreuzberger Radler-Initiative zu unterstützen. Die möchte die Oranienstraße sicherer machen. Reihenweise lassen sich die Leute jetzt auf dem sommerlich erhitzten Straßenbelag nieder.

Es entsteht ein Happening der Berliner Radler-Kultur - die Polizei hat die Straße gesperrt. Hunderte sitzen oder liegen, trinken Bier, rauchen, plaudern - eine Show für die Touristen auf dem Gehweg. Dürre alte Rennradfahrer sind dabei und junge Frauen mit Kopftüchern. Eine Stunde wird es dauern, dann setzen sich zwei- bis dreitausend Fahrradfahrer in Bewegung. Sie werden, wie jeden letzten Freitag im Monat, als „Critical mass“, als fahrender Demonstrationszug mit unbekanntem Ziel, möglichst viele Straßen abfahren, den Autoverkehr bremsen und zum Stillstand bringen.

„Dieses Jahr sind wir mehr als in Hamburg“, sagt Strößenreuther. Allerdings seien in Berlin weniger Kinder mit dabei. Seinem eigenen Sohn habe er das Radfahren auf Feldwegen beigebracht. „Als wir die ersten Male in der Stadt gefahren sind, habe ich geschwitzt, ob das gut geht und was passiert, wenn jetzt der 40-Tonner vorbeikommt“, sagt Strößenreuther.

Der Radverkehr wächst schnell - schneller als die Infrastruktur

Immer wieder zieht eine „Critical mass“ auf ihren Rädern durch die Stadt. In Berlin werden es immer mehr, die die Dominanz des Autos nicht mehr akzeptieren; seit Jahren wächst der Radverkehr in der Innenstadt schneller als die Infrastruktur. Das verschärft Konflikte und erhöht die Zahl der Betroffenen. Eine Herausforderung der Lokalpolitik. Und so ist das Thema wichtig geworden in diesem Wahlkampf, in dem die vier großen Parteien fast gleichauf liegen. Es ist eines, mit dem sich Politiker und Lobbyisten profilieren können: als Hüter der freien (Auto-)Fahrt oder als Kämpfer für die gefühlt Entrechteten am Straßenrand.

Strößenreuther gehört zu den Kämpfern. Der 48-Jährige ist ein Grüner - und mehr als das: ein Alpha-Radler. Er glaubt zu wissen, wie man die Berliner Verkehrspolitik voranbringt. Er macht nicht gerne Kompromisse, vor allem nicht, wenn es darum geht, die Stadt für die Radler zurückzugewinnen. Er ist freundlich zu denen, die ihn verstehen, unnachgiebig gegenüber den anderen. Das raue Klima auf den Straßen, die Mischung aus Gereiztheit, Aggression, Ungeduld und Brutalität, scheint ihm nichts auszumachen. Vom Geist her Öko, vom Typ her Manager der harten Sorte. Anzugträger, schlank, gut 1,90 groß, den Rücken stets durchgedrückt, akkurat vom Scheitel bis zur Sohle. Geschieden, ein Sohn.

Im Schritttempo legen sie los

Langsam, eher im Schritttempo, setzt sich die „Critical mass“ in Bewegung. Es ist, wie Strößenreuther scherzt, eine „Leistungsshow“ des Fahrradgewerbes: Kohlefaser-Rennräder vor und neben Lastenrädern. Einer hat eine Musikanlage auf sein Lastenrad gepackt, ummt-ummt-ummt vibriert es durch die Oranienstraße. Daneben Fixies aller Art - das fährt der Großstadtbewohner, der keine Schaltung braucht und sein Rad technisch so schlicht wie möglich halten will, Mountainbikes, im Flaschenhalter ein Bier. Nicht wenige Radler kennen den Mann im blauen T-Shirt der Initiative für den Fahrrad-Volksentscheid. Strößenreuther winkt ein paar Leuten zu.

Gegenüber Autofahrern ist Strößenreuther streitlustig bis hin zum Krawall. Aber er ist längst zu wichtig, um ignoriert zu werden. Seine Agenda entsteht aus der Kombination von taktischer Überlegung und persönlicher Überzeugung. Die jüngste Besetzung einer Spielstraße in Prenzlauer Berg dürfte manche seiner Kritiker ins Grübeln darüber bringen, wem die Stadt gehört - und bei seinen Sympathisanten als Signal ankommen, dass sein Fahrrad-Volksbegehren nach dem Blitzstart mit rund 100 000 gesammelten Unterschriften bei den Bewohnern in der Stadt präsent bleibt. Die Initiative fordert ein Fahrrad-Gesetz, das unter anderem breite Radwege an jeder Hauptstraße vorsieht. Außerdem verlangen die Aktivisten mehr Stellplätze und 100 Kilometer Radschnellwege innerhalb von acht Jahren. „Nur ein Gesetz zwingt Politiker, Dinge zu tun, die sie nicht von allein tun würden“, sagt Strößenreuther.

Es hilft nur Druck. Strößenreuther fährt mitten im Pulk, der jetzt langsam über den Mariannenplatz rollt - Autofahrer müssen warten. Zu denen, die bei der „Critical mass“ so etwas wie ein Amt übernehmen, gehören die „Korker“. Die steigen an jeder Einmündung vom Rad und platzieren sich vor wartenden Autos. Das wirkt. Nur eine Gruppe junger Männer will die Straßensperre nicht begreifen, sie schütteln die Köpfe, steigen in ihren Renault Clio, wenden und rasen mit durchdrehenden Reifen davon.

Eine feste Route gibt es nicht. Den Kurs bestimmen offenbar die, die ganz vorne fahren. Die „Critical mass“ hat etwas von einem Schwarm, der einem eigenen Bewegungsgesetz folgt. Außerdem gibt es einen rechtlichen Aspekt: Wenn sich ein paar hundert Fahrradfahrer zusammentun, um Rad zu fahren, ohne dass es einen „Veranstalter“ gäbe, ist diese Fahrt keine Demonstration oder polizeilich zu begleiten, sondern eine Tour. „Wir wollen nicht als ,die Critical mass sprechen. Manche haben Spaß. Manche wollen was erreichen“, sagt einer.

Was erreichen will Strößenreuther unbedingt. „Als Radfahrer hat man irgendwann die Schnauze voll, dauernd diskriminiert zu werden: Bei der Infrastruktur, juristisch, finanziell“, sagt er. Und als einstiger Campaigner bei Greenpeace weiß er, wie man Aufmerksamkeit für seine Sache bekommt. Er hat es schon im vergangenen Jahr bewiesen, als er vor dem Kriminalgericht Moabit mit Rollrasen und Blumen eine Beerdigung inszenierte, nachdem ein Lkw-Fahrer, der bei Rot einen Radfahrer totgefahren hatte, mit einer Geldstrafe davonkam und seinen Führerschein behalten durfte. Auch seine Aktion, die Radspurmarkierung in der immer zugeparkten Schlüterstraße in Charlottenburg mit Sprühsahne über die illegal abgestellten Autos nachzuzeichnen, kam bei den Radlern gut an. Bei den betroffenen Autofahrern weniger.

Die 2013 vom Senat beschlossene, bisher nur rudimentär umgesetzte Radverkehrsstrategie scheint Strößenreuther erst richtig gerne als „gute Seminararbeit“ zu bezeichnen, seit Verkehrssenator Andreas Geisel (SPD) sich das bei einer Diskussionsrunde als Beleidigung seiner Verwaltungsleute verbat. Während sein Staatssekretär, Christian Gaebler (SPD), unverdrossen die bescheidenen Erfolge preist, spart Geisel nicht mit Selbstkritik. Und sagt, dass er die Verdreifachung des Radverkehrsbudgets auf jährlich 40 Millionen Euro vernünftig fände - obwohl es der Verwaltung schon bisher nicht gelingt, das vorhandene Geld auszugeben. Ein Aufreger. Einer von vielen, und er regt mehr Leute auf, weil mehr Fahrrad gefahren wird. Groß genug, um das Wahlergebnis im September zu beeinflussen. Womöglich entscheidend angesichts des knappen Rennens.

Auch privat soll der Rad-Aktivist direkt sein

Der Berliner Radverkehr wächst seit Jahren schneller als die Infrastruktur
Kritische Masse. Der Berliner Radverkehr wächst seit Jahren schneller als die Infrastruktur.

© Zinken/dpa

Vor allem die Nachrichten aus anderen europäischen Großstädten lassen Berlin alt aussehen: Fahrradhighways in London, massenhaft Leihräder und Autofahrverbote in Paris, eine Expressroute durchs Ruhrgebiet, ganz zu schweigen vom Radler-Ideal Kopenhagen. Dass in London zuvor kaum ein Mensch Rad fuhr und in Pariser Häusern kein Platz fürs eigene Rad ist, gehört zwar auch zur Wahrheit, aber vordergründig bleibt der Eindruck: Die Berliner Politik, die sich selbst für so fortschrittlich hält, dämmert vor sich hin. Noch so ein Beispiel: Das Bundesverkehrsministerium will den Bau von Radschnellwegen ab 2017 fördern. Da Berlin keine festen Pläne hat, geht die Stadt leer aus.

Als die Spree in Sicht kommt, sagt Strößenreuther: „Da gehe ich manchmal in der Mittagspause schwimmen.“ Das ist verboten, aber das Wasser sei einwandfrei. Das passt zu dem Anspruch dieses Mannes, etwas mehr von der Stadt zurückzuerobern, als die Politik derzeit gestattet. Mit dem Freitagabendprogramm und dem „Die-in“ endet für Heinrich Strößenreuther eine typische Aktivisten-Woche. Sie hat mit einem Gespräch mit Journalisten begonnen, am Mittwoch war er bei einem Street-Völkerball-Turnier in einer Spielstraße in Prenzlauer Berg - als Einladung der Erwachsenen an die Kinder, sich eine Straße zurückzuerobern, auf der sie zwar formal gleichberechtigt sind, die sie aber real sonst dem Autoverkehr überlassen müssen. Donnerstag hatte sich Strößenreuther dann mit Aktivisten vom Volksentscheid zum „Sit-in“ in Grunewald getroffen - an jener Stelle, an der kurz zuvor eine 85-jährige Radfahrerin schwer gestürzt und an ihren Verletzungen gestorben war, nachdem ein Auto sie in der Tempo-30-Zone zu knapp überholt hatte.

Strößenreuther macht sich überall unbeliebt

Strößenreuther hat das Talent, sich in kürzester Zeit unbeliebt zu machen. Exemplarisch war das beim Sommerfest der Grünen-Fraktion zu erleben: Auf einer Terrasse unter freiem Himmel traf der Fahrrad-Aktivist dort auf den Sprecher des Fahrgastverbandes.

Es wäre ein Smalltalk geworden, wenn Strößenreuther nicht nach der ersten Kritik des Bahnkundenvertreters geantwortet hätte, ob hier der Hund zum Knochen komme oder der Knochen zum Hund. Und ob der andere überhaupt Lokomotiven fahren könne wie er, Strößenreuther, der lange im Management der Deutschen Bahn gearbeitet hat sowie als Interimsgeschäftsführer bei den Konkurrenten Metronom und Odeg. Und warum der Fahrgastlobbyist nicht rechtzeitig von sich hören lassen habe, wenn er was wolle. Er habe jedenfalls nichts gehört, sagte Strößenreuther und zeigte dazu auf seine Ohren. Strößenreuther und Knigge - dazwischen können Welten liegen.

Auch privat soll er direkt sein, bis über die Schmerzgrenze hinaus. Bekannte, die gern Auto fahren und sich dazu auch bekennen, müssen jederzeit auf verbale Attacken gefasst sein. Ein Radikaler - wie so ziemlich alle, die Bewegung in die Politik brachten. Der gebürtige Ostfriese fliegt aus Klimaschutzgründen möglichst nicht, meidet die USA - wobei er in jungen Jahren zum Studium und Trekking in Kanada war - und nutzt in Berlin nur notfalls ein Carsharing-Auto.

Dabei haben er und seine Mitstreiter den Fahrrad-Volksentscheid bewusst nicht als Anti-Auto-Kampagne angelegt. Die würde er im Erfolgsfall ohnehin, weil der Platz auf der Straße anders verteilt werden müsste. Die Vorarbeit haben Studenten geleistet, die für Strößenreuthers „Initiative clevere Städte“ 200 Berliner Straßen vermessen haben. Ergebnis: Autos haben im Vergleich zum Radverkehr den 19-fachen Platz.

Die Masse kommt auf Touren

Die Masse kommt auf Touren. Über die App der „Critical mass“ verfolgt er den Kurs und die Richtung, die der Konvoi nimmt. Als die Radler an der Spree entlangrauschen, lockert sich der Pulk, Abstände entstehen, ein Gefühl von Leichtigkeit und Freundlichkeit. Die Radler riechen, dass die Straßen gerade mal nicht stinken, sie hören das Rauschen der Reifen: Für die Dauer dieser Tour gehört ihnen die Stadt.

Ein gutes Gefühl, auch wenn es ein bisschen was von Auge um Auge hat. Was ihr mit uns macht, das machen wir jetzt mal mit euch: Das ist das „Critical mass“-Prinzip. Strößenreuther spricht von den Parkplatzbesetzungen, eine andere Art der Aktion, um den Autofahrern konfrontativ zu kommen: Fahrrad auf Parkplatz, Ticket lösen - und man bekommt einen Blick dafür, wie viel Platz ein Auto allein zum Stehen braucht.

Bekannt ist Strößenreuther als Erfinder des „Straßensheriffs“. Ein Onlinetool zum Melden von Falschparkern inklusive eines direkten Links zu den Ordnungsämtern. Gut 19 000 Falschparker-Meldungen verzeichnet die Online-Karte inzwischen unter dem Namen „Wegeheld“, 4000 davon aus Berlin. Womit ein weiterer Beweis dafür geliefert ist, dass im Straßenverkehr das Recht des Stärkeren gilt. Und überhaupt jeder machen kann, was er will - also auch Radfahrer die Fußgänger drangsalieren. Strößenreuther bestreitet das nicht, sondern verweist aufs Radverkehrsgesetz, das die Radfahrer dank guter Infrastruktur von den Gehwegen holen soll. Und die umsteigewilligen Autofahrer aus dem Stau, sodass die Fahrbahnen dann frei würden für die, die wirklich nicht aufs Auto verzichten könnten.

Partystimmung bei den Radlern, Frust bei den anderen

Schließlich geht es in Richtung Großer Stern. Dort windet sich die Masse einmal um die Siegessäule - und riegelt dadurch den Stern komplett ab. Fünf Straßen, fünf Zugänge - für Autofahrer verkorkt. Ein paar Minuten lang herrscht Partystimmung am Stern - bei den Radlern. Auf dem Mittelstreifen der Straße des 17. Juni steht ein älterer Mann. Er hat sein Auto verlassen, hebt resigniert die Arme und lässt sie fallen: nichts geht mehr. „Das wars wohl“, sagt er. Ein Polizist auf seinem Motorrad nickt. „Das geht noch ne Weile.“

Diese Reportage erschien zuerst auf der Seite Drei des Tagesspiegel und war online zunächst nur über den digitalen Kiosk Blendle erhältlich. Den vollständigen Text haben wir erst später online zur Verfügung gestellt.

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