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Neue Protestform. Das „Komitee für die Verteidigung der Demokratie“ organisiert sich via Facebook. Die alten Kämpfer der Solidarnosc marschieren mit.

© dpa

Massenproteste gegen Regierung in Polen: Die dunkle Seite der Macht

Polens Regierung weitet ihren Einfluss aus. Zehntausende gehen dagegen auf die Straße. Auch Henryk Wujec, Legende der Solidarnosc – Schulter an Schulter mit der jungen Opposition.

Er kennt das ja schon. Die Massenproteste, die Empörung, die Propaganda. Dieses Gefühl, dass die Regierung immer mehr Macht an sich reißen möchte. Dass da etwas kaputtgeht in seinem Land.

Henryk Wujec steht in seiner Wohnung am südlichen Rand von Warschau und setzt einen Kessel Wasser auf. Er ist jetzt 75 Jahre alt. Frisch rasiert, die Kleidung leger. Wujec war einer der führenden Köpfe der Solidarnosc, später Vize-Landwirtschaftsminister und Berater des Präsidenten. In den Regalen im Wohnzimmer finden sich zahlreiche Bücher, Aktenordner und Fotoalben. Erinnerungen an jene Zeit. Auf dem Tisch stehen die Bilder seiner Enkelkinder. Für sie wollte er damals ein anderes Polen.

Während Wujec drinnen von seinem Leben erzählt, wiederholt sich draußen die Geschichte. Seit Anfang Dezember sind zehntausende Polen gegen die Politik der neuen Regierung auf die Straße gegangen. In Warschau, Posen, Breslau, Krakau, Bialystok, Oppeln und dutzenden größeren und kleineren Städten in der ganzen Republik, aber auch im Ausland, in Prag und Berlin. Diesmal jedoch sind nicht die Kommunisten die Feinde der Demokratie.

Im Oktober vergangenen Jahres hat die rechtskonservative Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwosc, auf Deutsch „Recht und Gerechtigkeit“) um den Parteivorsitzenden Jaroslaw Kaczynski die Parlamentswahlen gewonnen und stellt nun in beiden Kammern die absolute Mehrheit. Die neue Macht nutzte die Regierung, um gleich doppelt ins Staatsgefüge einzugreifen. Zunächst beschloss das Parlament eine Neuordnung des Verfassungsgerichtes, schrieb vor, dass Entscheidungen nur noch mit Zwei-Drittel-Mehrheit getroffen werden können. Außerdem sollen Verfassungsbeschwerden nicht mehr nach Wichtigkeit, sondern nur nach der Reihenfolge ihres Eingangs verhandelt werden dürfen. Das bedeutet, dass die Richter auf Jahre hinaus die Gesetzgebung der neuen Regierung nicht kontrollieren können.

So abgesichert, setzte Kaczynski auch eine Medienreform durch, die es der Regierung erlaubte, die Spitzenposten des staatlichen Rundfunks nach Belieben zu bestimmen.

Auf der falschen Seite zu stehen, ist gefährlich geworden

Seitdem ist die polnische Gesellschaft polarisiert wie seit Jahren nicht. Die Politik spaltet Freunde und Familien. Und Henryk Wujec sieht die Parallelen. „Ich habe festgestellt, dass es tatsächlich nach dem gleichem Muster läuft“, sagt er. „Früher gab es den ersten Sekretär, der keine offizielle Funktion im Staat hatte und trotzdem über alles entschied.“ Und nun gebe es einen Parteivorsitzenden, der im Hintergrund die Strippen ziehe. Doch während die Gewaltenteilung im Staat langsam aufgeweicht wird, formt sich auf der Straße eine neue Opposition.

Ania war in den vergangenen Wochen oft auf Demos. Die 34-Jährige ist fast zwei Generationen jünger als Wujec. Eine kleine, sympathische Frau mit frohen Augen hinter einer modernen Brille. Völlig unpolitisch, sagt sie, bisher. Doch nun marschiert sie an einem kalten Samstag durch Warschau. Ihr Nachname soll nicht in der Zeitung stehen. Sie habe Angst, wie so viele, sagt sie. Niemand wisse, welche Gesetze die Regierung als Nächstes erlasse. Doch sie hat auch Angst, weil sie nicht weiß, wie die Nachbarn, die Arbeitskollegen reagieren, auf welcher Seite sie stehen.

Auf der falschen Seite zu stehen, ist in Polen gefährlich geworden. Dazu trägt auch die Kriegsrhetorik des PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski bei. Als „Polen der schlimmsten Sorte“ bezeichnete er Journalisten und Politiker, die in ausländischen Medien kritisch über die Situation berichten. Immer wieder werden Kritiker von Mitgliedern der PiS als „Verräter“, „Volksdeutsche“ oder „Gestapo-Mitarbeiter“ betitelt. Wer die Regierung kritisiere, so der Tenor, sei kein wahrer Pole, sondern wolle das Land an die EU und vor allem an Deutschland verkaufen. Wegen der Gesetzesänderungen in Polen hat die EU  zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Verfahren zum Schutz des Rechtsstaats eröffnet und prüft nun, ob beim Mitgliedsland Polen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Gefahr sind. Ein langwieriges, mehrstufiges Prozedere, an dessen Ende zumindest theoretisch empfindliche Strafen für Polen stehen könnten, etwa der Verlust des Stimmrechts. Auch aus Deutschland kam viel Kritik. Die polnische Regierung nutzte ein ohnehin geplantes Gespräch mit dem deutschen Botschafter, um den Eindruck zu erwecken, sie habe ihn aus Protest einbestellt.

Die Bewegung funktioniert vor allem über soziale Medien

Ania geht trotz aller Einschüchterungsversuche demonstrieren. Die feuchte Winterluft dringt durch ihre Jacke. Eine Schlange aus Tausenden von Menschen zieht langsam durch die Straßen. Einige Leute haben die weiß-rote Flagge Polens oder die blau-gelbe der EU dabei, gehen mit kleinen Schritten voran, Schulter an Schulter. Transparente ragen aus der Menge: „freie Medien, freies Polen“. Auf den Wintermänteln das Erkennungszeichen – Aufkleber mit drei Buchstaben: KOD, eine Abkürzung für das „Komitee für die Verteidigung der Demokratie“.

Es ist eine Bewegung neueren Typs, die vor allem über die Sozialen Medien funktioniert. Keine Mitgliedsbeiträge, Internet statt Sitzungen. Innerhalb von sechs Wochen bekam die Plattform fast 120 000 Likes auf Facebook.

Drei Stunden nach der Demo sitzt Ania in einem Café und wärmt ihre durchgefrorenen Hände an einer Tasse Orangentee. Sie erinnert sich noch genau an den Moment, in dem sie beschloss, sich politisch zu engagieren. Es ist erst zwei Monate her, ein Abend im November. Ania spielte gerade mit ihrem kleinen Neffen. Im Hintergrund lief der Fernseher, eine Parlamentssitzung wurde live übertragen. Und am Rednerpult stand der PiS-Abgeordnete Kornel Morawiecki. Er sagte einen Satz, der Ania so empörte, dass er ihr Leben ändern sollte. Morawieckis Satz lautete: „Der Staat darf das Recht brechen.“ Ania weiß noch, dass sie wütend eingeschlafen ist an jenem Abend und aufwachte mit der Gewissheit, etwas unternehmen zu müssen.

Viele junge Menschen erhoffen sich von der neuen Regierung eine Verbesserung der Lage

Es war dann eine merkwürdige Situation, auf den Demos mitzulaufen, erzählt sie. Sie trifft dort viele junge Familien mit Kindern und Großeltern, aber kaum Jugendliche, kaum Berufsanfänger oder Studenten. Viele von denen sind wegen der schlechten Situation auf dem Arbeitsmarkt noch immer wütend auf die Vorgängerregierung, die schmerzhafte soziale Einschnitte verordnet hatte. Gerade sie erhoffen sich nun von der neuen Regierung eine Verbesserung ihrer Lage. Sie wollen glauben, dass Polen „ein Land in Ruinen“ ist, wie es die PiS-Politiker in ihrer Wahlkampagne behaupteten. Das ärgert Ania. „Totaler Quatsch“, sagt sie.

Ania ist derzeit aber auch nicht auf den Sozialstaat angewiesen. Mit ihrem Job in der IT-Branche ist sie zufrieden, hat einen festen Vertrag und ordentliches Gehalt. Das Gefühl der Jugend, zu einer „verlorenen Generation“ zu gehören, ist ihr fremd. Ja, klar, manchmal mache sie sich schon Sorgen um die Zukunft, gibt sie zu. Sie hat einen Kredit aufgenommen und Angst, dass die Zinsen unter der neuen Regierung steigen. Verlöre sie ihren Job, wäre sie in großen Schwierigkeiten. „Aber wer hat schon nicht solche Gedanken – auch in anderen Ländern?“, fragt sie. Ihr reicht, was sie hat.

Aus ihrer Kindheit kann sie sich noch an die leeren Regale in den Läden erinnern. Und an den Geruch in einem Delikatessengeschäft in Westdeutschland, als sie zu Besuch bei Verwandten war. „Ich habe Warschau ohne U-Bahn erlebt, ohne gute Straßen, farblos“, erzählt sie. Vielleicht liege es daran? Dass die jüngeren Menschen diese Änderungen nicht miterlebt haben und sie nun nicht zu schätzen wissen? Oder daran, dass sie sich so an die Demokratie gewöhnt haben, dass sie nicht sehen, wie gefährdet sie nun ist? „Ich merke schon, dass viele Menschen, vor allem junge, gar nicht wissen, was das Verfassungsgericht ist und welche Rolle es spielt“, sagt Ania. „Warum sollen sie sich dann ärgern, dass es praktisch abgeschafft wird?“

KOD und KOR

Dass auch die KOD-Bewegung ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat, dass es vor Solidarnosc noch eine demokratische Bewegung gab, die nun als Vorbild für den Protest dient, hat Ania erst nach und nach erfahren. „Ich habe den Geschichtsunterricht immer gehasst“, sagt sie und lächelt.

„Für meine Generation ist KOD jetzt und hier, eine souveräne Sache, keine Fortsetzung“, sagt sie.

In seiner Wohnung in Warschau nimmt Wujec den pfeifenden Kessel vom Herd und gießt Tee auf. Nein, sagt er, als Kämpfer würde er sich heute nicht mehr bezeichnen. Das solle die neue Generation übernehmen. „Junge Menschen, die haben Sprengstoff in sich“, sagt er, und in seiner Stimme schwingt viel Sympathie und etwas Wehmut mit. Sie kalkulierten nicht, seien ehrlich und so idealistisch. „Wir waren früher genauso“, sagt Wujec.

Eine Gruppe junger Leute, die sich gegen Lügen auflehnte. Bei den Protesten 1968 war Wujec dabei, da lernte er seine Frau kennen. Leute wie er schlossen sich damals zum KOR zusammen, dem „Komitee für Verteidigung der Arbeiterrechte“, aus dem später die Solidarnosc hervorging. „Wir waren ganz unterschiedlich: Katholiken und Atheisten, Liberale und Konservative. Vereint hat uns nur die Ablehnung des verlogenen Systems und dessen Menschenverachtung.“ Demokratie und Wahrheit – die Träume damals und heute.

Die Hartnäckigkeit der Alten macht den Jungen Mut

Es ist dunkel geworden. Henryk Wujec holt eines seiner Fotoalben aus dem Regal und blättert sich durch die Erinnerungen an Weggefährten von damals. „Wir trafen uns mit den Legenden. Autoritäten noch aus der Vorkriegszeit. Intellektuelle, Offiziere, Geistliche, die sich vom kommunistischen System nie brechen ließen. Kristallklar, mutig, edel.“ Dass er einmal selbst zur Legende, eine Autorität werden würde, damit habe er nie gerechnet.

Mit den Fingern fährt er über die Seiten des Albums. Da sind Adam Michnik, Jacek Kuron, Bogdan Borusewicz. Legenden des KOR und später der Solidarnosc. Aber auch Antoni Macierewicz, bei dem Wujec traurig den Kopf schüttelt. Der ehemalige Kollege sitzt heute als Verteidigungsminister in der Regierung, weit entfernt von den demokratischen Idealen von damals. Macierewicz ist inzwischen für antisemitische Ausfälle bekannt. In einer Radiosendung beklagte er eine angebliche jüdische Weltverschwörung in Medien und Politik und berief sich dabei auf die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“.

Wujec blättert weiter. „Und hier Krzysztof Lozinski.“ Er ist derjenige, der 40 Jahre nach Wujecs KOR dazu aufrief, eine neue demokratische Bewegung zu gründen. So entstand die jetzige KOD. Dass sie in solch kurzer Zeit so schnell wachsen würde, glaubten die wenigsten. Henryk Wujec war einer von ihnen.

Wujec legt das alte Fotoalbum auf den Tisch neben seinen Tablet-PC. Über Facebook hat er zum ersten Mal von der neuen Bewegung gehört, in der auch Ania sich engagiert. Seitdem marschiert er mit. Wieder einmal, Schulter an Schulter mit Kollegen, mit denen er sich früher schon in der Solidarnosc engagierte. Älter seien die geworden, mit mehr Falten, mehr Pfunden und etwas weniger Haaren, aber im Herzen immer noch dieselben.

„Das ist mein Polen“, sagt Wujec. So wie sie es sich früher erträumt hatten. „Der Mechanismus, auf den Jaroslaw Kaczynski nun zurückgreift, ist schon einmal gescheitert, nicht wahr?“, fragt er und lächelt.

Es ist gerade die Hartnäckigkeit der Alten, die den Jungen Mut macht. „Diese Menschen haben schon viel Böses gesehen“, sagt Ania. „Wenn die sich jetzt wieder engagieren, dann, weil es auch wirklich dringend notwendig ist.“ Am kommenden Samstag wollen wieder Zehntausende in Warschau demonstrieren. Ania und Henryk Wujec werden dabei sein.

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