zum Hauptinhalt
Nicht vergessen. Demenzkranke nehmen oft täglich Medikamente, die bislang allerdings nur die Symptome lindern.

© Kai-Uwe Heinrich

Medikamenten-Tests: Ein langer Kampf gegen die Demenz

Der Bundestag will Medikamentenstudien mit demenzkranken Patienten künftig zulassen - auch wenn sie sich keine Besserung erhoffen können. Die Geschichte eines Betroffenen.

Die Pfütze in der Küche machte sie dann doch stutzig. Nach einer Reise kam Brigitte Schneider nach Hause zu ihrem Mann. Eigentlich war alles wie immer. Nur die Kühlschranktür stand offen, das Eis war geschmolzen, der Boden nass.

Hans Schneider nahm es im Leben nie so genau. Er war ein Tagträumer, arbeitete zwei, drei Tage die Woche, verließ das Haus auch mal mit einer blauen und einer roten Socke. Es gab nicht viel, worüber sich Brigitte Schneider bei ihrem Mann wunderte. Bis zu diesem Tag.

Die beiden gingen zum Arzt. Bald stand fest: Hans Schneider, damals 58 Jahre alt, hat Alzheimer. Das ist die häufigste Form von Demenz. In Deutschland leiden daran fast 1,6 Millionen Menschen. Zwei Drittel sind älter als 80. Anders als Hans Schneider. Ein Heilmittel gibt es nicht. Noch nicht.

Es macht Brigitte Schneider nicht traurig, wenn sie, 53 Jahre, graue Haare bis zum Kinn, Lehrerin, Mutter eines Zwölfjährigen, von der Diagnose erzählt. Für sie war es viel schlimmer, ihren Mann so chaotisch zu erleben – ohne zu wissen, weshalb das plötzlich so extrem wurde. Es hat sie wütend gemacht, dass er seine Schuhe nicht mehr wegräumte und im Schrank die Hemden und Hosen durcheinanderwarf. Aber, dass er krank sein könnte? Das ahnte sie erst in jenem Sommer vor zwei Jahren, als sie die Pfütze sah.

Gröhe will Tests an Dementen ausweiten

Die Suche nach dem richtigen Arzt führte sie in Europas größte Universitätsklinik, die Charité. Ihre Neurologin dort sprach im vergangenen Herbst von einer Medikamentenstudie: Hans Schneider sei der perfekte Kandidat, jung, im Frühstadium. Sie stimmten sofort zu.

Es war eine persönliche Entscheidung, die sie trafen. Doch derzeit beschäftigen Fälle wie dieser die Bundespolitik. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) möchte, dass schwer Demenzkranke, die nicht mehr einwilligungsfähig sind, an bestimmten Studien teilnehmen können. „Gruppennützig“ nennt man solche Untersuchungen: Den Teilnehmern wird das Experiment wahrscheinlich nichts mehr bringen, vielleicht aber späteren Generationen. Voraussetzung für die Teilnahme ist eine – im gesunden Zustand – unterschriebene Patientenverfügung.

Bundestag für Zulassung der Studien

Die Kirchen waren gegen Gröhes Vorschlag. Die Opposition protestierte. Trotzdem will der Bundestag Forschungs- und Medikamentenstudien mit demenzkranken Patienten künftig zulassen, auch wenn sie selbst davon keine Besserung erhoffen können. Der Antrag der Gegner fand an diesem Mittwoch bei einer namentlichen Abstimmung im Bundestag keine Mehrheit. Wie bei der Debatte zur Sterbehilfe mussten sich die Abgeordneten die Fragen stellen: Wie klar muss jemand bei Verstand sein, um eine solche Entscheidung treffen zu dürfen? Und was ist, wenn sich der Wille des Betroffenen ändert, er das aber nicht mehr ausdrücken kann?

Hans Schneider hatte von der Debatte im Bundestag zuvor nichts gehört. An einem Sommerabend sitzt das Paar in seiner Kreuzberger Küche. Hans Schneider runzelt die Stirn, überlegt, sagt dann: „Wenn es keine schlimmen Nebenwirkungen gibt, würd’ ich das unterschreiben.“ Es sei doch so: Natürlich hoffe er, durch das Medikament, das er jetzt nimmt, die Krankheit aufzuhalten. Seinen Verfall zu verlangsamen. Wenn das aber nicht gelingt, möchte er wenigstens der Forschung helfen.

„Das ist doch horrormäßig“, sagt sie

Nicht vergessen. Demenzkranke nehmen oft täglich Medikamente, die bislang allerdings nur die Symptome lindern.
Nicht vergessen. Demenzkranke nehmen oft täglich Medikamente, die bislang allerdings nur die Symptome lindern.

© Kai-Uwe Heinrich

Weil die Gesellschaft im Schnitt älter wird, nimmt die Zahl der Demenzkranken zu. Experten der Bundesregierung gehen davon aus, dass es bis 2050 hierzulande 3,2 Millionen Betroffene sein werden. Wie, fragt Hans Schneider, soll es bei der Behandlung von Demenz ohne Studien zu Fortschritten kommen?

Seine Frau findet die Idee von Gröhe furchtbar. „Da hab ich ein ganz schlechtes Gefühl!“ Wehrlose Menschen benutzen - ohne dass sie Chancen auf Heilung haben? „Das ist doch horrormäßig“, sagt sie und zupft an ihrem T-Shirt: „Das erinnert mich an Nazi-Deutschland.“

Pille gibt ihm Gefühl von Selbstbestimmung

Noch dürfen Betroffene nur an Experimenten teilnehmen, wenn ihnen die gesamte Studienzeit über bewusst ist, worauf sie sich eingelassen haben. Und die Aussicht besteht, dass ihnen das Medikament noch helfen kann. Um sicher zu gehen, dass die Krankheit nicht zu weit fortgeschritten ist, wurde Hans Schneider an der Charité monatelang untersucht. Drei Ordner liegen vor ihm auf dem Küchentisch. Protokollieren seine Krankheitsgeschichte. 26 Seiten musste er lesen, bevor er der Studie zustimmen durfte.

An ihrer Charité-Studie fanden die Schneiders nichts fragwürdig. Alles wurde ihnen in Ruhe erklärt, Hans Schneider wusste, was er unterschreibt. „Für mich klang das vielversprechend“, sagt der 59-Jährige und fährt sich mit der Hand durch die blond-grauen Strubbelhaare. Wichtig war ihm: keine schlimmen Risiken, vor allem keine Schlafprobleme! Seine Frau und er stammen aus Arztfamilien. Sie glauben nicht an Heilkunde, diesen „Humbug“, sondern an die wissenschaftliche Medizin. Hans Schneider will nicht zusehen, wie er immer hilfloser wird. Er möchte so lange wie möglich selbstbestimmt leben. Ein Gefühl, das ihm die Pille aus der Charité jeden Morgen gibt.

Genaue Ursache von Alzheimer unbekannt

Warum Alzheimer ausbricht, dazu wird seit Jahrzehnten geforscht. Die genaue Ursache ist nicht bekannt. Eine Theorie ist, dass sich Proteine im Gehirn ablagern und so dessen Funktion beeinträchtigen. Die Pille aus der Charité soll dafür sorgen, dass sich solche Eiweiße dort nicht mehr bilden.

Bei Hans Schneider zeigt sich die Alzheimer-Erkrankung noch nicht so sehr an Erinnerungslücken. Sondern daran, dass er kaum noch etwas sieht. Mal trägt er sein Unterhemd auf links, mal hält er den Löffel falsch herum. Forscher gehen davon aus, dass sich die Proteine, die Alzheimer verursachen könnten, nicht nur in den Nervenzellen des Gehirns absetzen, sondern auch in Linse und Netzhaut.

Sein Gedächtnis funktioniert noch recht gut. Trotzdem hat die Krankheit sein Leben fest im Griff. Weil Hans Schneider sie doch nicht lesen könnte, legt ihm seine Frau keine Zettel mehr hin. Selbst die rote Telefonnummer vom Pflegedienst, die am Stromkasten klebt, erkennt ihr Mann nicht.

Was ist, wenn er sich „Butter“ und „Hose“ nicht merken kann?

Nicht vergessen. Demenzkranke nehmen oft täglich Medikamente, die bislang allerdings nur die Symptome lindern.
Nicht vergessen. Demenzkranke nehmen oft täglich Medikamente, die bislang allerdings nur die Symptome lindern.

© Kai-Uwe Heinrich

Die erste Tablette schluckte Hans Schneider vor ein paar Wochen. Danach meinte er, sich gleich etwas besser gefühlt zu haben. Heute würde er das nicht mehr sagen. Sonst erwarte er zu viel. Er weiß ja nicht einmal, ob er das richtige Medikament nimmt oder ein Placebo. Wie bei Tests üblich, bekommt ein Drittel der Probanden eine niedrige Dosis, ein Drittel eine hohe. Und die anderen erhalten nur ein Scheinmittel. Wer in welche Gruppe kommt, entscheidet der Computer nach dem Zufallsprinzip, wie beim Werfen einer Münze.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Hans Schneider tatsächlich einen Wirkstoff einnimmt, der ihm vielleicht helfen kann, liegt bei 66 Prozent. „Immerhin besser als Fifty-fifty“, sagt er. „Aber wie beim Doppelkopf kann es auch schlecht ausgehen.“ Das Kartenspiel hat er immer gemocht. Mittlerweile spielen seine Freunde ohne ihn.

250 Probanden testeten die Pille

Vor dem Beginn der Studie wurde das Medikament von 250 gesunden Probanden getestet. Jeder Zwölfte klagte über Kopfschmerzen. Ab und zu tauchten Hautausschlag oder Schwindel auf, selten Übelkeit oder Bauchweh. „Das hier“, sagt Hans Schneider und zeigt auf eine der weißen Pillen, „macht auf mich keinen gefährlichen Eindruck“.

Seit er sich für die Studie verpflichtet hat, sind die Tage des Paares festgelegt. Was manchmal nervt. Jeden Morgen muss Hans Schneider das Medikament möglichst zur gleichen Zeit nehmen - und dabei am besten kontrolliert werden. Wenn seine Frau morgens um sechs Uhr aus dem Haus geht, muss er mit ihr aufstehen. Ist sie den ganzen Tag weg, kommt der Pflegedienst oder ein Freund.

Die Studie dauert zwei Jahre. Geld bekommt Hans Schneider nicht. Mindestens 18 Termine an der Charité sind eingeplant, fast jeden Monat eine Untersuchung. Wann sie zur Klinik fahren, steht auf dem Plan, der auf dem Esstisch liegt. Jedes Mal ist ein optimaler Termin und ein Zeitfenster von ein bis zwei Wochen für einen Ersatztag vorgegeben. Am Wochenende spontan wegfahren, einen Urlaub buchen, ist nicht mehr so leicht.

Was ist, wenn er in weiter abbaut?

Brigitte Schneider guckt auf ihren Zettel: Besuche beim Augenarzt. MRT-Untersuchungen, Ergotherapie. Manchmal nehmen die Ärzte ihm nur Blut ab, machen vielleicht noch ein EKG. Manchmal stehen diverse Fragebögen und Gedächtnistests an. Ihm werden Wörter wie „Butter“ und „Hose“ genannt, die er sich merken soll. Er muss eine Faust machen und Dreiecke zeichnen. Was für ihn am schwierigsten ist, weil er ja kaum noch sehen kann.

Doch was ist, wenn Hans Schneider in den kommenden Monaten abbaut, er sich „Butter“ und „Hose“ nicht merken kann? Sonja Fabian ist Ärztin an der Charité und gehört zum Team, das die Studie betreut. „Der Patient muss immer verstehen, was passiert“, sagt sie. „Er muss orientiert sein. Wissen, wo er ist und wer er ist.“ Bei den neuropsychologischen Tests müsste eine Punktzahl erreicht werden, sonst werde die Studie abgebrochen. Ein Risiko, das es bei längeren Studien und älteren Probanden immer gebe.

Um zu wissen, wie gut Hans Schneider seinen Alltag lebt, befragt das Studienteam auch seine Frau. „Es ist hart, dabei zu merken, wie er langsam Dinge verlernt, die mal selbstverständlich waren“, sagt Brigitte Schneider. „Vor ein paar Wochen wusste er sofort, welcher Tag ist. Jetzt fragt er fünf, sechs Mal nach.“ Ihr Mann kann sich nicht mehr allein anziehen. Wenn er sich ein Brot schmiert, klebt danach der Tisch.

„Er ist“, sagt sie leise, „so dünn geworden.“

Nicht vergessen. Demenzkranke nehmen oft täglich Medikamente, die bislang allerdings nur die Symptome lindern.
Nicht vergessen. Demenzkranke nehmen oft täglich Medikamente, die bislang allerdings nur die Symptome lindern.

© Kai-Uwe Heinrich

Ohne einen Begleiter darf niemand an dieser Studie teilnehmen. Das kann der Partner, ein Freund oder Kind sein. Voraussetzung ist, dass beide zusammenleben oder mindestens zehn Stunden in der Woche miteinander verbringen. Der Studienpartner muss zu jeder Visite mitkommen und beurteilen, wie gut der Patient zurechtkommt. Ob er gewohnte Dinge anders tut. Er soll aber auch beschreiben, wie sehr die Krankheit ihn selbst belastet. Wie gut er schläft.

Brigitte Schneider liegt nachts oft wach im Bett. Einmal, als sie allein in der Wohnung war, ihr alles zu viel wurde, schrie sie. Da ist der Lehrerjob, ihr kleiner Sohn, ihr Mann, den sie von nun an pflegen muss. Da ist diese Studie, zu der sich beide verpflichtet haben. Die ihr Leben fast so sehr bestimmt wie seins.

Irgendwann wird ihr Mann sie nicht mehr erkennen. Er wird sich nicht an ihre gemeinsamen Jahre erinnern. Wird kaum sprechen, nicht schlucken können. Wahrscheinlich wird er das nicht mehr mitbekommen. Seine Frau schon.

Sie sorgt sich. Und sie misstraut ihm

Hans Schneider versucht, nicht zu oft über all das nachzudenken. „Sonst kann ich mir gleich einen Strick nehmen.“ Er will positiv wirken, hat aber Angst. Jedes Mal, wenn er nicht so schnell kann, wie er möchte. Wenn er etwas aufschreibt, die Schuhe anzieht, den Müll rausbringt. Er vermisst es, Zeitung zu lesen, Karten zu spielen, Fahrrad zu fahren. „Ich hoffe, dass ich das eines Tages wieder kann.“

Brigitte Schneider schaut ihren Mann an, wie er da sitzt, in dem weißen T-Shirt, mit dem Löwen drauf. Hin und wieder vergisst er, zu essen und zu trinken. „Er ist“, sagt Schneider leise, „so dünn geworden.“ Vielleicht ist das ein Zeichen seiner Krankheit, vielleicht aber auch einfach er, ihr etwas chaotischer Hans. Das Bad ist nun behindertengerecht, weil ihr Mann die Stolperstellen nicht sieht. Über der Herdplatte hat Brigitte Schneider ein Blech anbringen lassen, damit er nicht kocht, wenn sie aus dem Haus ist. Sie sorgt sich. Und sie misstraut ihm.

Am Schlüssel hat er einen GPS-Tracker

Weil Hans Schneider schon öfter verloren gegangen ist, hat er an seinem Schlüssel einen GPS-Tracker, mit dem seine Frau ihn orten kann. Einmal war er am Flughafen verschwunden, fand sich einfach nicht mehr zurecht. „Ich stieg aus dem Shuttlebus, guckte kurz woanders hin, und plötzlich war der Hans weg“, sagt Brigitte Schneider. „In der Menge verloren gegangen.“ Mitten in den Passagieren, die hastig in den Flieger stiegen, ging ihr Mann unter. Nach einigen Minuten sah sie ihren Sohn mit dem Vater an der Hand. Aufatmen. „Allein“, sagt sie, „kommt er nicht zurecht.“

Im Frühjahr 2019 endet die Studie. Erst dann steht fest, ob das Mittel wirksam war und auf den Markt kommt. Hans Schneider wird nie erfahren, ob er das echte Präparat oder ein Placebo erhalten hat. „Das müssten sie uns eigentlich mitteilen!?“ Seine Frau unterbricht: „Nein, aber wir sind dann die Ersten, die das Medikament bekommen.“ In diesem Moment wirkt sie ruhig. Aber ein, zwei Mal, erzählt sie, war die Versuchung da. Nur eine seiner kleinen Pillen zu nehmen und sie einem Chemiker zu geben.

Namen des Ehepaars geändert

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false