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Schicksale auf Papier. Viele Akten in der Stasiunterlagenbehöre sind beschädigt oder wurden vorsätzlich zerstört. Sie müssen aufwendig restauriert werden.

© imago/Rolf Zöllner

Mein Vater, der Spion: Was die Stasi-Akte des Vaters für das Leben des Sohnes bedeutet

Sein Vater war politischer Gefangener in der DDR. Mehr wusste er nicht. Doch dann begann Peter Goyn nachzuforschen. Er stellte einen Antrag auf Akteneinsicht bei der Jahn-Behörde. Und erfuhr Dinge, die er lieber nicht erfahren hätte.

Eines aber hatte er unterschätzt. Dass in so einer Akte tatsächlich etwas drinsteht. Dass man etwas erfahren könnte aus ihr, dass sie Wissenslücken schließt, über den Vater und die Mutter und über einen selbst. Dass man womöglich klüger ist hinterher und kuriert davon, die Welt für heiler zu halten, als sie es tatsächlich ist. Dabei hatte er es doch genau darauf angelegt.

Der Pensionär Peter Goyn steht nun zum wiederholten Mal vom Esstisch auf, die Augen feucht, er atmet tief ein, geht zum Fenster, dann atmet er aus. „Ich muss das verdrängen“, sagt er, „gelingt mir manchmal ganz gut, manchmal schlecht.“ Im Moment gelingt es ihm gar nicht, denn auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagener Ordner. Darin abgeheftet sind Kopien von Originalunterlagen, auf jedem einzelnen Blatt befindet sich oben rechts der mitkopierte Stempelaufdruck „BSTU“ – Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, die Stasiunterlagenbehörde. Deren Existenzgrundlage sind die Hinterlassenschaften des DDR-Geheimdienstes, dessen Ost-Berliner Zentrale am heutigen Donnerstag vor 25 Jahren gestürmt und damit die bereits begonnene Aktenvernichtung gestoppt wurde.

In den Akten ist das Leben seiner Eltern aufgeschrieben

Die Papiere im Ordner beschreiben das Leben von Goyns Eltern, jenen Teil davon, von dem er bis vor zwei Jahren nichts wusste. Gerichtsprotokolle sind dabei, Vernehmungen. In der Unterlagenbehörde lagern darüber hinaus vier Aktenbündel, gefüllt unter anderem mit Briefen und Spitzelberichten. Goyns Eltern sind beide im Jahr 1993 gestorben.

Ihm selbst, sagt Goyn, sei in den Jahren danach der Gedanke gekommen: „Ich bin die nächste Generation, die sterben wird. Und bevor das passiert, will ich wissen, was gewesen ist.“ Er ahnte nicht, dass die Vergangenheit in der Lage ist, weit in die Gegenwart hineinzuragen.

Dass irgendetwas gewesen sein muss, das wusste er. Der Vater war einmal „politischer Häftling“ in der DDR, das war die Sprachregelung zu Hause. Mehr ist dazu nie gesagt worden. „Ich habe auch nicht danach gefragt.“

Doch das Schlagwort reichte ja, dachte Goyn, jedenfalls für seine eigene Zuversicht, in der Stasiunterlagenbehörde auf Dokumente zu stoßen. Er füllte einen Antrag auf Akteneinsicht aus – einen ersten, in den frühen 90er Jahren gestellten, hatte er im Sande verlaufen lassen. Nun aber war es April 2010 und Goyn in Rente, die Eltern waren lange nicht mehr am Leben. Drei Jahre später, an einem Freitag im März 2013, saß er in einem Zimmer der Behörde am Berliner Alexanderplatz, vor sich auf einem Tisch die Aktenbündel. „Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt er heute.

So etwas passiert in diesen Räumen regelmäßig. Dass es aber Nachgeborene betrifft, ist vergleichsweise neu. Zunehmend, sagt Behördenleiter Roland Jahn, würden Neu-Rentner wie Goyn Akteneinsichtsanträge stellen, weil sie nun Zeit hätten und ihr Leben ordnen wollten. Kinder und Enkel fragen nach der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern. Ein Dialog zwischen den Generationen sei in Gang gekommen, sagt Jahn. Ein Dialog, den Goyn in seinem Fall heute bereut.

Was Peter Goyn über seinen Vater und seine Mutter erfuhr

Schicksale auf Papier. Viele Akten in der Stasiunterlagenbehöre sind beschädigt oder wurden vorsätzlich zerstört. Sie müssen aufwendig restauriert werden.
Schicksale auf Papier. Viele Akten in der Stasiunterlagenbehöre sind beschädigt oder wurden vorsätzlich zerstört. Sie müssen aufwendig restauriert werden.

© imago/Rolf Zöllner

Goyn, Jahrgang 1945, kommt vom Fenster zurück an den Tisch. Draußen bescheint die Januarsonne die Häuser und Gärten von Berlin-Lichtenrade, drinnen im Zimmer kämpft ein Mann mit bedrucktem Papier und immer wieder mit den Tränen.

Er liest wieder einmal. „Regierung der Deutschen Demokratischen Republik“, steht da, „Staatssekretariat für Staatssicherheit“, „Verwaltung Cottbus“. Es ist ein Protokoll aus dem Jahr 1956 „über die Durchsicht und den Verbleib der im Vorgang Goyn, Willi beschlagnahmten Gegenstände“. Willi Goyn war Peter Goyns Vater.

Ein Personalausweis, eine Fahrerlaubnis, ein Mitgliedsausweis des Anglerverbands, „wird der Ortsgruppe Lübbenau zurückgegeben“, eine Jahres-Angelkarte, „wird ebenfalls der Ortsgruppe Lübbenau zurückgegeben“, ein Reichsbahnausweis, „wird an den Bahnhof Lübbenau zurückgegeben“.

Vater Goyn war Reichsbahner, Zugschaffner, die Familie lebte in Lübbenau im Spreewald in der Bahnhofstraße. „Ein Zettel in der Größe 10 x 14 cm, auf dem zwei Adressen stehen. Eine Telefonnummer.“ – „Dient als Beweismittel“. „Bei den Adressen und Telefonnummern handelt es sich um Deckadressen.“

Sein Vater war Spion

Peter Goyns Vater war ein Spion. Er „hat Spionage für eine westliche Agentenzentrale betrieben“, steht in der Verfügung zur „Einleitung eines Untersuchungsverfahrens“.

„Ihre bisherigen Aussagen sind unglaubhaft“, steht in einem Vernehmungsprotokoll. „Sagen Sie endlich wahrheitsgemäß über Ihre verbrecherische Tätigkeit gegen die Deutsche Demokratische Republik aus!“

Goyns Antwort: „Meine bisher gemachten Aussagen entsprechen nur zum Teil der Wahrheit. So habe ich verschwiegen, meine Verbindung zur Spionageorganisation Gehlen“ – der Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes – „anzugeben.“

„Sagen Sie aus, wie Sie mit der Spionageorganisation Gehlen in Verbindung gekommen sind!“

„Im August 1953 war ich als Zugschaffner auf dem Bahnhof Lübbenau tätig“, sagte Goyn, eine Versetzung stand an, zukünftig sollte er Züge nach Polen begleiten. Über die Versetzung habe Goyn mit seinem Bruder Hermann gesprochen, „der mich daraufhin fragte, ob ich bereit sei, in Volkspolen Spionage zu betreiben. Bedenkenlos willigte ich ein“.

„Da fängt es schon an“, sagt Peter Goyn. Sein Onkel, ein kleiner Postbeamter in der Sowjetzonenprovinz, ein Spion. „In Lübbenau?“ Zieht den Vater mit rein, damit der in Polen in den Himmel blickt und Flugzeuge zählt und am Boden nach Kasernen, Straßen, Fabriken und dem Zustand der Eisenbahngleisfundamente Ausschau hält. Als Peter Goyn Jahre später in die Lehre ging, sei er, um Fahrgeld zu sparen, immer zu seiner Werkstatt gelaufen. Jener Onkel lebte in einem Nachbarhaus und hatte denselben Weg, die beiden gingen oft gemeinsam. „Und kein Wort dazu von ihm.“

Es klingt immer noch entsetzt, wenn Goyn seine Erinnerungen, seine alte Ahnungslosigkeit abgleicht mit dem, was schwarz auf weiß vor ihm steht. Es geht ihm heute gar nicht so sehr darum, dass da ein Onkel und sein Vater Spione waren. Es geht ihm um deren Spiel mit dem Feuer, ohne die möglichen Konsequenzen für die Familie in Betracht zu ziehen. Und es hatte ja Konsequenzen gegeben. Und Verschweigen und eine späte damit einhergehende Kränkung. Fragen und Unsicherheiten, die sie dem mittlerweile alt gewordenen Sohn aufgebürdet haben.

Am Ende darf alle Gewissheiten wegwerfen

Die Papiere mögen Wissenslücken füllen, aber sie erzählen einem auch, dass man blöd gewesen sei, vertrauensselig, desinteressiert vielleicht. Und am Ende steht man da und darf seine alten Gewissheiten in den Mülleimer werfen und mit den neuen versuchen klarzukommen. Wenn es hart kommt, liegt hinterher das ganze eigene Leben in der Tonne. Das, was man dafür gehalten hat.

Peter Goyn traf es ziemlich hart. Da war der Onkel, der seinen Vater „ins offene Messer hat laufen lassen“. Denn der Onkel arbeitete bei der Post, und irgendwann während der Ermittlungen gegen seinen Vater wurde eine Postüberwachung angeordnet. Das könne der Onkel doch mitbekommen haben. Jedenfalls ist er ziemlich schnell nach jener Anordnung nach West-Berlin geflüchtet, wohl ohne seinem Bruder ein Wort zu sagen.

Da ist die Mutter. Peter Goyns Vater und der Onkel hatten sie im Jahr 1954 in die Sache eingeweiht. Goyn beschreibt die Mutter als zarte, ängstliche Frau, „sie konnte weder schwimmen noch radfahren“, aber fortan war sie die Kurierin. Sie überbrachte Willis Berichte an Hermann in West-Berlin, die Staatssicherheit bekam irgendetwas davon mit, setzte die Frau unter Druck, eröffnete ein Ermittlungsverfahren, ließ sie eine Verpflichtungserklärung unterschreiben. Sie solle jetzt mit der Stasi zusammenarbeiten. Der Deckname ist Lotti Schmidt. Im Jahr 1956 – der Vater ist inzwischen zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt – geht sie mit ihren drei Kindern nach West-Berlin.

Welche Lehre er für sich aus der Lektüre gezogen hat

Schicksale auf Papier. Viele Akten in der Stasiunterlagenbehöre sind beschädigt oder wurden vorsätzlich zerstört. Sie müssen aufwendig restauriert werden.
Schicksale auf Papier. Viele Akten in der Stasiunterlagenbehöre sind beschädigt oder wurden vorsätzlich zerstört. Sie müssen aufwendig restauriert werden.

© imago/Rolf Zöllner

Über all das und noch viel mehr – Spitzelberichte von Nachbarn, Kollegen, über Skatabende, über jedes Glas Bier, Gespräche, Witze liest Peter Goyn in jenem Zimmer am Alexanderplatz. Er findet Briefe und Telegramme in den Akten, geschrieben an den einsitzenden Vater, an die Familie, an Nachbarn. Erkenntnisse der Stasi zur Westverwandtschaft inklusive Beruf, Verdienst, Familienstand. Er findet eine Skizze, mit der die Festnahme des Vaters vorbereitet worden ist. Er steht auf und geht.

Nimmt die Bahn, steigt am Bahnhof Friedrichstraße wieder aus, raucht dort in einem Zigarrenladen eine Zigarre und trinkt ein Glas Whisky. Das soll ihn beruhigen. „Ich hatte Wut damals“, sagt er heute. „Wenn ich mir überlege, wie die ganze Familie deswegen belastet wurde.“ Später, zu Hause, habe er lange nicht reden können, auch mit seinen Geschwistern nicht.

Setzt sich aber dann doch hin und schreibt für sie eine Zusammenfassung all dessen, was er gelesen hat. Lehnt das Angebot der Stasiunterlagenbehörde ab, Akten zu seinem Onkel heraussuchen zu lassen. Denkt an den Moment, als der Vater zurück aus dem Gefängnis ins neue Zuhause kam. Wie er ihm dann Bratkartoffeln mit Spiegelei gemacht hat. An den Umzug in die neu gebaute Gropiusstadt, an den Eintritt des Vaters in den Verein der Opfer des Stalinismus, dessen Chef später als Stasi-Agent enttarnt worden ist. An die Karbidlampen der Reichsbahnzüge, die er als Kind sauber gemacht hat, und hinterher oder davor versteckte der Vater seine Berichte darin.

Vieles ist in Unordnung geraten

Vieles ist in Unordnung geraten seit der Akteneinsicht. Fragen kann Goyn auch niemanden mehr. Nur noch aufstehen, zum Fenster gehen und die Tränen unterdrücken.

Aber es ist doch so lange her, Herr Goyn. „Eben“, sagt er. Mehr sagt er nicht dazu. Er ist immer noch dabei, sich seinen Reim auf die Vergangenheit seiner Eltern zu machen. Er flüchtet in Fragen und Allgemeingültiges, weil es nicht anders geht. „Wäre ich in Lübbenau geblieben, was wäre aus mir geworden?“ „Vielleicht wäre ich ja auch bei der Stasi gelandet?“ „Man sollte aus so einer sicheren Position wie der unseren heute vorsichtig sein mit seinem Urteil.“ „Jede Diktatur beruht ja darauf, dass sie die Leute erpressbar macht, dass sie Angst haben.“

Es steht etwas im Raum in diesem Moment, und es sind wieder nur Fragen. Was bringt es, die Vergangenheit zu kennen? Wie viel Kraft kostet es, Eltern, Verwandte, Nachbarn, ein offenbar halbes Städtchen, in dem man aufgewachsen ist, im Licht der Gegenwart ertragen zu können. Goyn hat zumindest vorläufig seine Antwort darauf gefunden: wahrscheinlich wenig.

Onkel Hermann hatte Geheimtinte und Geheimpapier. Er hatte einen toten Briefkasten auf einem Friedhof in Berlin-Baumschulenweg. Was für andere wie Erkenntnisse aus der Vergangenheit klingen mag, Agenten-Krimi-Stoff in Schwarz-Weiß, ist für Peter Goyn die Gegenwart. Er sagt: „Es wäre besser, ich wüsste nicht, was ich jetzt weiß.“ Dann steht er noch einmal auf und geht wieder zum Fenster.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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