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Die Caritas übernahm 2010 den Betrieb des St. Josefsheims. Jetzt ist Schluss.

© Mike Wolff

Merkwürdige Schließung des St. Josefsheims: Die Gentrifizierung erreicht jetzt auch die Alten

In Prenzlauer Berg in Berlin sollen 66 Bewohner ihr Pflegeheim verlassen – aus Brandschutzgründen. Klingt plausibel. Wären da nicht die vielen Ungereimtheiten.

Es tue ihr furchtbar leid, hat die Frau von der Caritas gesagt. Was sie heute verkünden werde, mache auch ihr schwer zu schaffen, und doch gebe es keine andere Möglichkeit: Das gesamte Heim müsse schließen. Bis Ende September sollen alle 66 Bewohner ausziehen. „Aus brandschutztechnischen Gründen.“

Die meisten Bewohner, die sich mit ihren Angehörigen an diesem Montagabend Anfang Juni im großen Saal des St. Josefsheims versammelt hatten, blieben erstmal regungslos. So erzählen sie es später. Eine Frau seufzte, ein Mann war so wütend, dass er aufstand und nur noch wegwollte. Die Mitarbeiterin der Caritas erklärte, sie könne den Ärger verstehen. Aber man habe alles versucht.

74 Jahre lang wurden in dem geräumigen Bau an der Pappelallee Senioren betreut. Luftlinie zwischen Gethsemanekirche und Helmholtzplatz, beste Prenzlauer-Berg-Lage. Dass Pflegeheime aus attraktiven Innenstadtbereichen verschwinden, ist in Berlin immer häufiger zu beobachten. In der Rosenthaler Straße am Hackeschen Markt musste die „Pro Senioren Residenz“ einem Neubau mit Lofts und Büros weichen, an der Invaliden- und der Magazinstraße wurden weitere Standorte geschlossen.

Die Verdrängung der Sozialschwachen trifft auch die Alten. Mittes Baustadtrat Ephraim Gothe (SPD) warnte schon vergangenes Jahr vor einer Zunahme des Phänomens. Besonders mit Büroflächen, aber auch mit Wohnungsbau könne man in guten Lagen höhere Margen erzielen als im Pflegebereich. Verdrängung sei die logische Folge.

Im Fall des St. Josefsheims ist alles ganz anders, heißt es von Seiten der Caritas Altenhilfe gGmbH, die das Heim betreibt. Ausschlaggebend für die Schließung seien allein bauliche Brandschutzmängel – und die Sorge um die Sicherheit der Menschen. Im Januar 2017 habe man zufällig die ersten Mängel gefunden, das ganze Ausmaß sei jedoch erst mit der Zeit klar geworden, jetzt bleibe nur die Schließung. Es klingt plausibel. Wären da nicht die Ungereimtheiten. Und von denen gibt es in dieser Geschichte einige.

Kein Amt forderte die Schließung

An dem Montagabend Anfang Juni, als die Caritas über das baldige Ende informierte, stellten Bewohner und Angehörige viele Fragen. Zum Beispiel: Existiert denn irgendein amtliches Schreiben, das eine Schließung anordnet? Oder: War überhaupt ein Amt in die Entscheidung involviert? Oder: Könnte nicht die Feuerwehr herkommen und die Situation beurteilen? Die Antworten der anwesenden Caritas-Mitarbeiter lauteten nein, nein und nein. Man wolle jetzt lieber nach vorn schauen und den Bewohnern helfen, neue Plätze zu finden.

Die Überbringer der schlechten Nachricht versicherten auch, sie seien sich bewusst, dass die Schließung für die Betroffenen in den kommenden Wochen „tiefe Einschnitte“ bedeuten werde.
Wie diese tiefen Einschnitte konkret aussehen, haben etliche Bewohner, Angehörige und auch Pflegekräfte, die ebenfalls von der Schließung überrascht wurden, dem Tagesspiegel berichtet. Sie möchten nicht mit ihrem Namen in der Zeitung stehen, sie fürchten, ansonsten weitere Nachteile zu erfahren.

Die Bewohner erzählen von ihrer Angst, aus der vertrauten Umgebung gerissen zu werden. Alle glaubten, sie seien zum letzten Mal in ihrem Leben umgezogen. Da sie nun auf verschiedene Heime verteilt werden, müssen sie sich neu zurechtfinden, an neue Gesichter gewöhnen. Einige, die schon umgezogen sind, zahlen jetzt deutlich mehr, es geht um hunderte Euro pro Monat. Der Sohn einer Frau, die bereits in ein neues Heim gewechselt ist, sagt, seine demente Mutter habe durch den Stress „massiv abgebaut“, finde den Weg vom Flur in ihr Zimmer nicht mehr.

„Die wollten uns loswerden“

Vor allem gibt es großes Misstrauen gegenüber dem Betreiber. „Das Brandschutzargument war das beste, was denen passieren konnte“, sagt ein Angehöriger. Ein Bewohner glaubt: „Die wollten uns loswerden.“ Damit auf dem Filetgrundstück stattdessen „etwas hin kann, womit sich mehr Geld verdienen lässt“.

Tatsächlich hatte die Caritas schon vergangenes Jahr, lange bevor die Betroffenen von Brandschutzmängeln und Schließung erfuhren, von einem „großen baulichen Entwicklungspotenzial“ des Grundstücks gesprochen. Zudem gab das Unternehmen, wie sich inzwischen herausstellte, bereits im Herbst 2018 eine Machbarkeitsstudie in Auftrag, die eine weitreichende Umgestaltung des Areals vorsah: Demnach sollten auf Freiflächen des Grundstücks zwei Neubauten entstehen. Das Pflegeheim selbst sollte saniert und umgebaut werden, wobei bisherige Zimmer zusammengelegt werden sollten, damit geräumiger geschnittene Wohnungen entstehen.

Das Grundstück gehört nicht der Caritas, sondern einer katholischen Ordensgemeinschaft, den Karmelitinnen vom Göttlichen Herzen Jesu, die dort Ende des 19. Jahrhunderts zunächst ein Kinderheim eröffneten, später Obdachlose versorgten und schließlich das Seniorenheim betrieben. 2010 schloss die Caritas einen Erbbaurechtsvertrag mit dem Orden und übernahm den Betrieb des Heims. Sieben Nonnen wohnen noch in der Mitte des Areals in einem eigenen, freistehenden Gebäude, auch sie wurden Anfang Juni von der Heimschließung überrascht.

Der Argwohn unter den Angehörigen wuchs weiter, als sie nun erfuhren, wie dieser Erbbaurechtsvertrag genau aussieht. Er enthält einen Paragraphen, laut dem die Caritas das Gelände „in den ersten zehn Jahren im Wesentlichen nur zum Betrieb eines Pflegeheims“ nutzen darf. Diese Frist endet bald. Die Erkenntnis, dass die Brandschutzmängel dringend eine Schließung erfordern, hätte zeitlich gar nicht besser kommen können.

Blick auf den Garten. Die Caritas lobt das "bauliche Entwicklungspotenzial".
Blick auf den Garten. Die Caritas lobt das "bauliche Entwicklungspotenzial".

© privat

Die Angehörigen wühlten weiter und stießen auf immer neue Merkwürdigkeiten. In der Versammlung Anfang Juni hatten die Caritas-Mitarbeiter behauptet, man habe auch überlegt, auf der Brache am westlichen Rand des Grundstücks ein neues Pflegeheim zu errichten, sodass man die Bewohner am Ende bloß einmal quer über den Hof in den Neubau umziehen lassen könnte.

Dieser Plan sei jedoch ebenfalls gescheitert, da ein solcher Bau vier bis fünf Jahre dauern würde – also frühestens 2024 fertig wäre. So lange könne man den Betrieb im jetzigen Pflegeheim unmöglich aufrechterhalten. Laut der Machbarkeitsstudie, die die Caritas selbst in Auftrag gegeben hatte, wäre dieser Neubau allerdings deutlich früher, nämlich bereits 2021, einzugsfertig.

Auf einer Angehörigenversammlung erklärte eine leitende Caritas-Angestellte, sie schlafe „die letzten zwei Monate ganz schlecht“, wenn sie an die Bewohner des St. Josefsheims und deren gefährdete Sicherheit denke. Um zu verdeutlichen, wie akut das Brandschutzproblem ist, verweist die Caritas auf die Einschätzung eines beauftragten Planungsbüros vom Juni 2018. Dort sind verschiedene Mängel aufgelistet, die dringend abgestellt werden müssten. Allerdings steht an keiner Stelle, dass die Experten eine Schließung empfehlen. Stattdessen steht dort, das Büro empfehle eine Abstimmung mit der zuständigen Feuerwehrdienststelle. Eine solche Abstimmung hat bis heute nicht stattgefunden.

Weiterhin behauptet die Caritas, ihr sei bestätigt worden, dass eine Sanierung im laufenden Betrieb unmöglich sei. Mehrfach baten Angehörige darum, dieses Dokument einsehen zu können. Bis heute vergeblich.

Dann doch keine Zweitmeinung

Um das Misstrauen auszuräumen, wandten sich die Angehörigen an die Caritas und schlugen vor, eine Zweitmeinung einzuholen. Sie boten an, Fachleute von Bauunternehmen, die sich auf die Sanierung von Pflegeheimen bei laufendem Betrieb spezialisiert hatten, hinzuziehen, dazu Brandschutzexperten. Die Caritas müsse lediglich einem Terminvorschlag zustimmen. Die Mitarbeiterin sagte: „Gut, das machen wir“, ließ dann mehrere Terminangebote verstreichen und antwortete schließlich gar nicht mehr.

Rona Tietje (SPD), die Sozialstadträtin von Pankow, sagt am Telefon, sie hätte sich gewünscht, die Caritas hätte sie frühzeitig informiert. Tatsächlich habe man von der Schließung erst durch die Anfragen wütender Bewohner erfahren. „Die Kommunikation lief nicht glücklich“, das habe sie „sehr geärgert“.

Das Landesamt für Gesundheit und Soziales, das in Berlin für die Heimaufsicht zuständig ist, teilt mit, bei der Schließung des St. Josefsheims handle es sich um eine unternehmerische Entscheidung der Caritas Altenhilfe gGmbH. Eine Schließung könne deshalb nicht verhindert werden.

Zwar handelt es sich bei der Caritas um eine kirchliche Wohlfahrtsorganisation, die größte Deutschlands. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die einzelnen Träger nicht gewinnorientiert handeln. Kritiker bemängeln seit langem, dass der eigene Anspruch „kirchlich-karitativer Arbeit“ zwar Barmherzigkeit suggeriere, aber den unternehmerischen Charakter verschleiere. Der inzwischen öffentlich gewordenen Machbarkeitsstudie, die mehrere Neubauten auf dem Gelände und die Umwandlung des Pflegeheims in Wohnungen vorsah, ist ein weiteres interessantes Detail zu entnehmen: Das Wohnhaus der Nonnen steht diesen Plänen im Weg. Deshalb ist es in Bauphase 3 gelb eingefärbt. Gelb steht für Abriss.

Verschwieg man die Lebensgefahr?

Mittlerweile ist mehr als die Hälfte der Bewohner ausgezogen. Darunter eine Frau, die erst vergangenen September ins St. Josefsheim eingezogen war. Als sie sich damals für den Platz entschied, erwähnte niemand, dass es Probleme mit dem Brandschutz gebe. Sie sagt: „Wie kann man so gewissenlos vorgehen?“ Unter den Verbliebenen besteht weiter die Hoffnung, dass am Ende doch noch ein Experte von außen kommt. Jemand Neutrales, der ihnen sagt, ob die Brandschutzprobleme tatsächlich so gravierend sind, dass eine schnellstmögliche Schließung nötig ist. Beziehungsweise: ob tatsächlich Lebensgefahr besteht und die Betreiber dies den Bewohnern über viele Monate hinweg verschwiegen haben.

Immer häufiger verschwinden Pflegeheime aus attraktiven Innenstadtlagen.
Immer häufiger verschwinden Pflegeheime aus attraktiven Innenstadtlagen.

© Hollemann/dpa

Die Caritas Altenhilfe gGmbH hat ihr Büro in der Tübinger Straße nahe dem Bundesplatz. Oben im fünften Stock sitzt Bärbel Arwe, die Geschäftsführerin des Unternehmens, an einem Konferenztisch und entschuldigt sich für den Baulärm, die Fassade werde gerade saniert. Arwe ist erst seit Anfang Juni auf ihrem Posten. Der Tag, an dem sie die Bewohner des St. Josefsheims über die Schließung informieren musste, war ihr erster Arbeitstag.

Bärbel Arwe sagt, sie fühle mit den Bewohnern. Dann erzählt sie noch einmal, dass die Caritas bis zuletzt davon überzeugt gewesen sei, den Betrieb weiterführen zu können. Dass eine Sanierung aber zu sehr in die Bausubstanz und den Pflegeheimbetrieb eingreifen würde. Dass die Maßnahmen, um das Gebäude brandschutzgerecht umzugestalten, 1,5 Millionen Euro kosten würden. Und dass sich dies nicht refinanzieren lasse. Deshalb der harte Schnitt.

Was genau nun im Pflegeheim entstehen soll, sei nicht klar. Mietwohnungen für Senioren vermutlich, wobei man offen sei für neue Ideen, generationsübergreifendes Wohnen zum Beispiel. „Natürlich kirchlich-karitativ.“ Konkrete Pläne gebe es keine. „Wir stehen da noch ganz am Anfang.“ Sicher ist, dass die Caritas mit sanierten, behindertengerechten Wohnungen in dieser Lage deutlich mehr Geld einnehmen kann als bisher.

Arwe beteuert, die Machbarkeitsstudie von 2018 sei in dieser Form vom Tisch. Die Ordensschwestern könnten ihr Gebäude selbstverständlich behalten, „das werden wir nicht antasten“.

Und die Sache mit dem Erbbaurechtsvertrag? Die Tatsache, dass die zehn Jahre, in denen die Caritas auf dem Grundstück nur ein Pflegeheim betreiben durfte, ausgerechnet jetzt bald um sind? „Ein Zufall“, sagt Bärbel Arwe. Sie wisse nicht, wie dieser Paragraph in den Vertrag gekommen sei. Sie werde aber sicherstellen, dass der Betrieb eines Pflegeheims irgendwo auf dem Areal „weiterhin geboten ist“.

Auch die Wut der Betroffenen über die plötzliche Nachricht der Schließung könne sie nachvollziehen. Allerdings müsse man jetzt nach vorn schauen. „Wir sollten alle Energie dafür einsetzen, dass jeder einen optimalen Ersatzplatz bekommt.“

Und was ist mit der vielfach gewünschten Zweitmeinung? Einer Begehung durch einen Experten, der die Haltung der Caritas bestätigt? Diese Begehung wird es nicht geben, sagt Bärbel Arwe.

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