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Gerade in den Bäckereibetrieben, aber auch anderen Gastbranchen, versuchen die Arbeitgeber mit einigen Tricks den Mindestlohn, den sie nun zahlen müssen, an anderer Stelle wieder auszugleichen. Über die Preise oder zu Lasten der Mitarbeiter, die oft Angst haben, sich zu wehren.

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Mindestlohn ausgetrickst: Welchen Wert hat Arbeit noch?

Weihnachtsgeld, das gestückelt wird, Überstunden, die unbezahlt bleiben, Metzger, die ihre Messer selbst kaufen müssen: Die Gewerkschafter Nadine Epplen und Uwe Timm kennen fast alle Tricks, um den Mindestlohn zu umgehen. Und sie sind wütend.

Der Mann, der an einem windigen Wintertag in Prenzlauer Berg auf der Schönhauser Allee steht, blickt sich ratlos um: „Es gibt keinen Anfang, kein Ende. Ich renne überall herum.“

Wo zuerst hineingehen? Gibt so viele Geschäfte hier. An ihm vorbei hasten Menschen, fahren Autos, rumpelt die U-Bahn auf den Hochgleisen. Um ihn herum arbeiten die, um die er sich kümmern soll – in Kneipen und Restaurants, in Bäckereien und Cafés, in Kantinen und Currywurstbuden.

Schließlich entdeckt Uwe Timm, 43 Jahre alt und seit Kurzem Projektsekretär der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) für das Thema Mindestlohn, ein geeignetes Ziel. Der Körper strafft sich, ein Lächeln setzt sich in seinem Gesicht fest. „Ich weiß, dass ich helfen kann. Das ist mein Antrieb.“ Dann geht er hinein in das nächste Shoppingcenter, geradewegs zu auf eine der zahlreichen Verkaufsbackstuben mit Café-Betrieb.

Timm hat ein Talent, das ihm seine Arbeit erleichtert: Er strahlt Gutmütigkeit aus, die Menschen vertrauen ihm, obwohl sie ihn nicht kennen. Dafür kennt er ihre Sorgen, denn er war selbst 25 Jahre lang Bäckersmann.

Uwe Timm, geboren in Berlin, aufgewachsen in Rudow in einem sozialdemokratischen Elternhaus, ist eine Art Robin Hood in Sachen Mindestlohn. Zumindest ist das sein Anspruch. Mindestens ist er ein Detektiv, der unermüdlich nach Beweisen für Missbrauch oder Tricks der Arbeitgeber sucht. Allemal ist er ein Sonderbeauftragter, denn die NGG in Berlin-Brandenburg hat extra eine Stelle geschaffen, um systematisch zu erfassen, wie es so läuft mit der Umsetzung des seit Jahresbeginn geltenden einheitlichen Mindestlohns von 8,50 Euro.

Timm soll Beschäftigte aufklären – und denen juristischen Rat und Hilfe anbieten, die sich trauen, gegen den Arbeitgeber vorzugehen.

Denn der Mindestlohn, so ist er politisch gedacht, soll die Chancen auf existenzsichernde Einkommen erhöhen und sittenwidrige Gehälter verhindern. Sieben Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor, 3,7 Millionen haben seit Januar Anspruch auf die 8,50 Euro. Weitere werden folgen, die zunächst noch in die Übergangsfristen einzelner Branchen fallen, etwa Fleischer und Friseure. Aber selbst wer ein bisschen mehr als 8,50 Euro verdient, kommt oft nur sehr schwer über die Runden. Schaut man sich die Branchen an, sagt die Gewerkschaft, wird im Hotel- und Gaststättengewerbe, in jeder Art von Gastgeschäft, am heftigsten getrickst.

Timm hat sich seine gelbe Gewerkschaftsweste übergezogen und tritt an die Theke einer Bäckereikette. Eine Verkäuferin schaut ihn erwartungsvoll an: „Bitte?“ Er stellt sich vor, spricht ruhig und sachlich, duzt, fragt bald schon nach dem Mindestlohn. Dann abwarten. Er holt langsam ein paar Broschüren aus der Umhängetasche. Eine ältere Mitarbeiterin schaut erst skeptisch, aber man sieht ihr an, wie es in ihr arbeitet. Timm spürt ihr Interesse, jetzt muss der Gewerkschafter behutsam vorgehen wie ein Psychologe, muss Ängste und Aufgeschlossenheit der Arbeitnehmerin abwägen. Wenn er erzählt, dass er selbst aus der Branche kommt, fangen die meisten an zu reden.

Lesen Sie, mit welchen Tricks Arbeitgeber arbeiten

Die Gewerkschaft sagt, heutzutage werde das einfache Handwerk nicht mehr geschätzt. Soziologen fordern, dass die Gesellschaft diesen Menschen wieder den Respekt zollt, den sie verdienen, damit sie ihren Job so gut wie möglich machen wollen.
Die Gewerkschaft sagt, heutzutage werde das einfache Handwerk nicht mehr geschätzt. Soziologen fordern, dass die Gesellschaft diesen Menschen wieder den Respekt zollt, den sie verdienen, damit sie ihren Job so gut wie möglich machen wollen.

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Es ist schon jetzt ein Klassiker unter den Umgehungsstrategien beim Mindestlohn, auf den Timm hier stößt. Das Beispiel veranschaulicht auch gut den Druck, unter dem die Beschäftigten stehen. 8,50 Euro zahlt die Chefin, aber den Frauen, die hier arbeiten und ihre Namen nicht nennen wollen, wurde die Arbeitszeit gekürzt. Statt sieben werden nur noch sechseinhalb Stunden bezahlt – in der Zeit muss die gleiche Arbeit vollbracht werden. Und in einer Backstube mit Café-Betrieb ist das nicht zu unterschätzen, vor allem die Vorbereitungszeit vor Öffnung des Geschäfts ist besonders anstrengend – backen, belegen, auslegen, sortieren, kennzeichnen –, all das muss jetzt in weniger Zeit geschafft werden.

Die Frauen machen jetzt keine Pause mehr, obwohl sie ihnen zusteht, aber faktisch nicht mehr bezahlt wird. Keine Atempause, keine Zeit, die Arbeit ruft, sonst schimpfen die Kunden. Und die Kunden werden, das sagen viele Verkäufer, immer aggressiver. Die Chefin soll scheinheilig gesagt haben: Ihr müsst die Pause nehmen – aber der Druck liegt auf der Belegschaft. Eine Frau flüstert: „Die Chefin hat gesagt, dass sie auch schnell neue Verkäuferinnen findet.“

Ein Trick: Mindestlohn plus Schwarzarbeit

Die Liste der Mauscheleien in der Grauzone des Arbeitsrechts, mit dem die NGG zu tun hat, ist schon jetzt lang. In einer großen Kantine haben die Mitarbeiter neue Verträge bekommen. Das Weihnachtsgeld soll künftig zu einem Zwölftel monatlich gezahlt werden, gleichzeitig wird die Grundvergütung um zwei Prozent auf Mindestlohnniveau angehoben – aber eben mithilfe des nun nicht mehr ausgezahlten 13. Gehalts.

In einer anderen Bäckerei werden Arbeitszeitkonten eingeführt. In den neuen Verträgen heißt es: „Zeitsalden innerhalb des Arbeitszeitkontos sind keine Mehrarbeit und werden dementsprechend ohne Zuschlag vergütet.“ Die Arbeitskonten sind ein beliebtes Instrument, um Überstunden zwar faktisch zu notieren, sie aber in der Praxis nicht zu vergüten. Wer den Vertrag nicht unterzeichnet, bekommt ein anderes Schreiben vorgelegt. Damit soll der Beschäftigte per Unterschrift der gesetzlichen Regelung zur Führung eines Arbeitszeitkontos widersprechen. Wörtlich heißt es: „Alle aus diesem Hintergrund entstehenden rechtlichen Konsequenzen gehen hiermit zu meinen Lasten und nicht zulasten meines Arbeitgebers.“

Bei einem Caterer, bei dem Mindestlohn gezahlt wird, werden den Arbeitnehmern plötzlich nur noch 22 Arbeitstage im Monat berechnet, obwohl es vertraglich anders vereinbart ist. Der Betriebsrat wird unter Druck gesetzt, die Vereinbarung mitzutragen. Er ruft die NGG.

In einem Café im Berliner Südwesten lässt die Chefin vor allem Auszubildende arbeiten, die haben nämlich keinen Anspruch auf Mindestlohn. Eine Angestellte sagt: „Derzeit arbeite ich sieben Tage am Stück, bekomme 350 Euro bar auf die Hand.“ Sie guckt unglücklich, weil sie nicht weiß, was sie machen soll. „Ich brauch’ das Geld.“ Mindestlohn bekomme hier niemand, sagt sie.

In einer Kneipe in Neukölln zahlt der Besitzer 8,50 Euro, aber nur für 20 Stunden, der Rest wird schwarzgearbeitet, wie eine Frau der NGG berichtet. In der Fleischindustrie haben sie teilweise ein „Messergeld“ eingeführt, sodass, um den Mindestlohn auszugleichen, der Arbeitnehmer sein Arbeitsmittel selbst bezahlt.

Es ist die Vielzahl solcher Episoden, die Timm wütend macht. Er sitzt jetzt in seinem Auto, fährt zur nächsten Einkaufsstraße. Die Wut verfliegt, wenn er Erfolge hat: „Wenn ich weiß, ich habe einem geholfen, stärkt mich das.“

Mit Wut kennt sich Timm aus. Früher war er ein Aussteiger, „politischer Punk“, wie er sagt, und dann, mit 16, Bäckerlehrling. Weil er irgendwas machen wollte, außer Schule. Als er in der ersten Betriebsversammlung mutig Fragen stellte, kam gleich ein Gewerkschafter: Ob er nicht mitmachen wolle. Wollte er. Soziales Engagement kannte er von seinen Eltern. Papa Eisengießer, Mama Friseurin, spätere Kioskbesitzer in Kreuzberg, und er dort mitten in der Hausbesetzerszene.

Lesen Sie, was eine Kneipenwirtin zum Mindestlohn sagt

Kontrolle ist besser. Nadine Epplen und Uwe Timm von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten beraten und verteidigen Angestellte.
Kontrolle ist besser. Nadine Epplen und Uwe Timm von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten beraten und verteidigen Angestellte.

© Doris Spiekermann-Klaas

Jeder Fall, den er nun zu dokumentieren hat, erzählt auch etwas über diese Gesellschaft. Der Wert des Handwerks, sagt Timm, werde immer weniger geschätzt. Menschen können nicht mehr stolz auf das sein, was sie gelernt haben. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat darüber ganze Bücher verfasst. Er plädiert dafür, dass jede individuelle Arbeit in der Gesellschaft auch wieder einen Eigenwert besitzt, damit auch Menschen, die weniger qualifiziert sind, danach streben, ihre Tätigkeit so gut wie möglich zu verrichten. Zum Mindestlohn, könnte man sagen, müsste also eine Mindestbeachtung kommen. Oder überhaupt: Achtung.

Aber es gibt eben auch andere, Arbeitgeber, die alles aus ihrer Perspektive betrachten. Das Thema Mindestlohn ist, wie könnte es anders sein, mindestens so kompliziert wie das wahre Leben.

Und deshalb verzieht Angelika Rüdiger entsetzt das Gesicht, wenn man ihr von den Argumenten des Gewerkschafters berichtet, der noch sagte: Wenn ein Unternehmen wegen des Mindestlohns nicht überleben könne, müsse es eben schließen. „Mir ist lieber, einer schließt, aber dafür kann ich sicher sein, dass woanders 8,50 Euro gezahlt werden.“ Man muss nun wissen, dass Angelika Rüdiger seit 30 Jahren in der Gastronomie tätig ist, viele Jahre davon als Angestellte, noch viel mehr Jahre als Chefin und Arbeitgeberin. Und immer war es ein Kampf.

West-Berliner Gör mit dem Charme einer Grande Dame

Man trifft sie an einem Ort, wo das alte West-Berlin noch zu Hause ist, in ihrer „Schöneberger Weltlaterne“, im Bayerischen Viertel gelegen, eine mutige Kreuzung aus Kneipe und Restaurant mit dem Charme eines gemütlichen Wohnzimmers. Das ist ihr Leben. Sie ist hier Mädchen für alles: Wirtin, Gute-Laune-Tante, Marlene-Dietrich-Interpretin – und Personalvorstand. Sie sagt: „Ich hatte immer Spaß. Aber jetzt habe ich die Schnauze voll. Ich kann diese Bevormundung durch den Staat nicht mehr ertragen.“

Rüdiger ist ein West-Berliner Gör mit der Ausstrahlung einer Grande Dame. Mit so einem Laden wird man nicht reich, damit er überhaupt etwas fürs Leben abwirft, für die Rente, für die Kinder, muss man sehr viel arbeiten. Eine Siebentagewoche, 13 Stunden am Tag, ist für sie normal. Am meisten ärgert sie die Bürokratie: „Durch die Aufzeichnungspflicht für meine Mitarbeiter sinkt meine Freizeit auf null.“ Die Dokumentation der Arbeitszeiten ist schon jetzt ein Politikum. Die CSU streitet sich gerne darüber mit der SPD, dabei hat die große Koalition gemeinsam das Gesetz beschlossen. Die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi hatte auf ihrer Facebookseite genervt den pikanten Satz gepostet: „Wer es als Arbeitgeber nicht schafft, einen Stundenzettel ordentlich auszufüllen, ist entweder ein Gauner – oder schlichtweg zu doof.“

Für die Gewerkschaft ein gesellschaftspolitischer Kampf

Man ahnt schon, wie Angelika Rüdiger zu diesem Satz steht. Aber nicht nur deshalb sind die Gegner des Mindestlohns Sturm gelaufen. Rüdigers Branchendachverband, die Dehoga, kann viel erzählen von aufgebrachten Unternehmern. Beim Verband in Berlin haben Hunderte angerufen, und deren Hauptproblem, sagt ein Sprecher, „ist nun mal die Dokumentationspflicht“. Rüdiger sieht das so: „Es kommen immer mehr Verordnungen oder Verbote hinzu. Die machen alles kaputt. Dabei trage ich das Risiko, wenn ich mich selbstständig mache und Menschen anstelle.“ Sie denkt ans Rauchverbot und an die Allergen-Kennzeichnungspflicht, die auch Wirte auf ihrer Speisekarte zu beachten haben. Sie lacht bitter: „Und dann wird mir noch vorgegeben, dass ich meine Mitarbeiter nicht länger als zehn Stunden arbeiten lassen darf. “ Den Mindestlohn findet sie „in Ordnung“, aber sie fordert Ausnahmen. Warum müsse eine Küchenhilfe so viel bekommen wie eine Stammkraft? „Ich kann der Stammkraft nun mal nicht noch mehr zahlen.“

Man sieht, die Dinge liegen nicht so einfach, bei den kleinen Wirten, dem Mittelstand. Der Gewerkschafter Timm würde an dieser Stelle allerdings ein sehr marktwirtschaftliches Argument aufbieten: Wenn es wirtschaftlich nicht funktioniere, stimme was am Konzept nicht. Die NGG ist da ziemlich knallhart. Das liegt daran, dass man sehr lange für den Mindestlohn gekämpft hat. Allein in Berlin arbeiten knapp 60 000 Menschen in der Gastronomie und im Hotelgewerbe, aber nur fünf Prozent von denen, sagt die NGG, nach Tarif. Mit dem Mindestlohn kann die Gewerkschaft nun auch wieder einen Vertretungsanspruch geltend machen – und Mitglieder werben.

Armin Lehmann arbeitet als Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel und schreibt vor allem für die Reportageseite. Zudem hat er für Tagesspiegel.de die lokalen Blogs mitkonzipiert und den Zehlendorf Blog aufgebaut, zu finden unter www.tagesspiegel.de/zehlendorf.
Armin Lehmann arbeitet als Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel und schreibt vor allem für die Reportageseite. Zudem hat er für Tagesspiegel.de die lokalen Blogs mitkonzipiert und den Zehlendorf Blog aufgebaut, zu finden unter www.tagesspiegel.de/zehlendorf.

© privat

Für Timm ist der Kampf um den Mindestlohn ein „gesellschaftspolitischer Kampf“. In der Gewerkschaftszentrale in Moabit kommt seine Fallsammlung zu Nadine Epplen, der Justiziarin der NGG. Epplen, 36 Jahre alt, hat sich in ihrer Elternzeit auf gut Glück beworben. Arbeitsrecht ist ihr Lieblingsfach. Die NGG hat sie sofort genommen: „Ein Traumjob. Ich kann helfen, die Existenzgrundlage anderer zu sichern.“ Wenn man mit Timm und Epplen die Fälle durchgeht, kommt einem ein erschreckender Verdacht: Sind Leute wie Angelika Rüdiger Ausnahmen?

Menschlich, sagt Nadine Epplen, könne sie das alles verstehen. Viele Beschäftigte hätten Existenzängste. Das ist der Grund, warum Epplen und Timm ihren Job so ernst nehmen – um der „Übermacht der Arbeitgeber etwas entgegenzusetzen“.

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel und schreibt vor allem für die Dritte Seite, die Reportageseite der Zeitung. Folgen Sie ihm auch auf Twitter oder Facebook.

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