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Zwei Studentinnen im Requisitenraum der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch"

© dpa/Fabian Sommer

Missbrauchsdebatte: Schauspielausbildung in Zeiten von #MeToo

Die Studierenden an der Schauspielschule "Ernst Busch" in Berlin gehen an ihre Grenzen – in Zeiten, in denen Nähe verdächtig geworden ist. Werden hier die Opfer von morgen ausgebildet?

Vier barfüßige Schauspielschüler, die alles noch vor sich haben, streifen sich mit ihren Alltags-Klamotten ihr Alltags-Ich ab. Probebühne zehn, zwei Männer, zwei Frauen, erstes Ausbildungsjahr. Die „Ernst Busch“ ist die renommierteste Schauspielschule des Landes. Die konzentrierte, sehr persönliche Szenenprobe mit nur wenigen Schülern ist ihre Spezialität. Mit einem Ruck zieht die Dozentin Iris Böhm den schwarzen Theatervorhang vor die lange Fensterfront, und die Welt ist draußen.

Werden hier die Opfer von morgen ausgebildet?

Viele berühmte Schauspielerinnen, die so einiges hinter sich hatten, traten vor einem halben Jahr in Hollywood die MeToo-Debatte los. Machtmissbrauch und Sexismus wirkten plötzlich wie ein giftiges, weltumspannendes Rhizom, dessen Ausläufer an den unwahrscheinlichsten Orten sichtbar wurden: im Umfeld der Akademie des Literaturnobelpreises, im Konferenzraum einer schwedischen Außenministerin, im englischen Parlament und bei den Trainern der österreichischen Skirennläuferinnen. Doch immer wieder ging es um Schauspielerinnen. Seit Januar geistert Dieter Wedels weißer Bademantel durch deutsche Hotelsuiten und Sendeanstalten. Sind Schauspielerinnen eine gefährdete Art?

Es gab einige Theorien, warum dies so ist: Weil sie sich dauernd umziehen. Weil es so große Nähe gibt in den Schulen und am Set. Weil die Abhängigkeit so stark ist. Weil es immer ums Aussehen geht, sie sind berufsmäßig attraktiv. Und muss man einander nicht dauernd anfassen? Lädt das Machtgefälle zwischen Regisseur und Schauspielerin nicht zu Missbrauch ein? Das Unglück, heißt es, fange früher an. In dem, was wir alle vermittelt bekommen haben, bei den Rollenbildern, der Erziehung. Bei der Ausbildung.

Die Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Oberschöneweide hat eine lange, Ehrfurcht einflößende Tradition seit 1954. Wenn sich pro Jahrgang auf 24 Plätze weniger als 1000 Leute bewerben, ist man beleidigt. Nina Hoss, Sandra Hüller, Corinna Harfouch, Dagmar Manzel waren hier. Auf der Webseite wirbt die Hochschule, „der enge, intensive Kontakt zwischen Dozenten und Studierenden“ sei „eine Partnerschaft, die weit über den Stundenplan hinausreicht“.

"Die Literatur ist ja voll von Frauenfiguren, die wir gar nicht mehr so toll finden"

Bis zum 5. Oktober, als in der „New York Times“ der erste Artikel über Harvey Weinsteins Hollywood erschien, war das ein uneingeschränktes Qualitätsmerkmal. Dann wurde Nähe verdächtig. Verführt sie nicht zum Missbrauch?

Holger Zebu Kluth hat im Oktober letzten Jahres die Leitung der Hochschule übernommen. Vom ersten Tag an, sagt er, sei ihm die Sensibilität für die Geschlechterrollen aufgefallen. Warum müssen wir diese Frauenrollen spielen?, fragen die angehenden Schauspielerinnen. Diese passiven Frauen, von denen keine sympathisch sei. Diese Gewaltopfer! Ob es keine anderen Rollen gebe?

Kluth, 2018, zuckt die Schultern. Die „Ernst Busch“ bildet hauptsächlich für das Theater aus, sie schult an klassischen Stoffen. „Die Literatur ist ja voll von Frauenfiguren, die wir gar nicht mehr so toll finden. Da haben Männer für Männer geschrieben – und die Frauen spielten mit.“ Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest rennen ins Verderben, weil sie Konventionen brechen. Oder Ophelia, Shakespeares berühmteste Wasserleiche.

Holger Zebu Kluth, Rektor der Ernst-Busch-Schauspielschule
Holger Zebu Kluth, Rektor der Ernst-Busch-Schauspielschule

© Kitty Kleist-Heinrich

Kluth findet es kunstlos, einfach „mehr tolle Frauenrollen“ zu verordnen. In Wahrheit fängt ja das Schauspiel hier an. Eine von Kluths Lieblings Lehr-Szenen stammt aus „Berlin Alexanderplatz“, als Reinhold und Mieze ins Grüne fahren. Es ist die Szene, bevor Reinhold Mieze vergewaltigen will und sie umbringt. Nur schlichte Gemüter tun Miezes Opferdasein als langweilig ab. Andere sehen hier viel zu lernen. „Es ist eine tolle, herausfordernde Rolle, auch noch sexuell aufgeladen.“ Die Schauspielerin könne verführerisch spielen, schnippisch, sie kann ins Extrem gehen.

Eine gute Inszenierung biete die Möglichkeit, an dieser Szene das Mann-Frau-Verhältnis durchzudeklinieren: „Wie lange hat eigentlich die Frau den Mann in der Hand, bevor ihre geistige in seine körperliche Überlegenheit kippt?“ Auch sie habe in dieser Szene Macht. „Die Herausforderung ist, ob ich es auch mit Studierenden schaffe, dass sie da nicht einfach das Opfer körperlicher Gewalt spielen.“

Probebühne zehn. Das Stück „Der Streit“ ist von 1744. Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux verhandelt darin die Frage: Welches Geschlecht hat das Unglück in die Welt gebracht? Ausgerechnet. An der Kleiderstange hängen die Kostüme aus dem Fundus der Geschlechter, Luise Tschersich, 19, hakt das schwarz-rote Mieder ein, von ihrer linken Brustspitze baumelt eine vorwitzige Perlenbrosche. Hugo Tiedje umhüllt ein grauer Gehrock. Rebecca Lindauer, 22, bricht den Look ihres T-Shirts mit steilen Pumps. Und Hauke Petersen, 22, schlüpft in einen durchscheinenden rosa Tüllrock. Dass man darunter jetzt vor allem seine gestreifte Unterhose sieht, wirkt irgendwie nicht richtig. Zu prominent. „Das ist jetzt ein bisschen privat“, sagt er. Es lenkt ab, sagt die Professorin Iris Böhm. Und weil sich alle darin einig sind, zieht Hauke noch eine schwarze Trainingshose unter den Tüllrock.

„Ich bin eigentlich gar kein körperlicher Mensch“

Stille. „Der Streit“ handelt von einem Experiment, in dem Kinder ohne Wissen um ihres und das andere Geschlecht getrennt voneinander aufgezogen werden. Jetzt gibt es eine erste Begegnung. Luise und Hauke, alias Egle und Azor, sehen einander zum ersten Mal. Sie haben noch keine Worte, keine Rituale. Sie probieren Sätze aneinander aus. „Sie bezaubern mich. Sie entzücken mich“, sagt er mit wippendem Tüllrock. „Ich liebe es sehr, dass er mich bewundert“, sagt sie mit wippender Brosche. Schließlich ertasten sie einander fasziniert mit den Händen. „Mehr Tempo“, sagt Iris Böhm. „Ihr wollt das Neue, Aufregende ja haben, haben, haben.“ Haben, haben, haben!  „Oh, kannst du kurz ...?“, fragt Luise plötzlich. „Du verdrehst mir die Arme.“ „Oh, Entschuldigung“, sagt Hauke.

Dann ist Pause. Und Luise Tschersich sagt: „Ich bin eigentlich gar kein körperlicher Mensch.“ Umso mehr ist sie interessiert, auf der Bühne in einer Rolle Dinge zu tun, die sie als sie selbst eben nicht tun würde. Sie ist an ihren eigenen Grenzen interessiert, und deren Überschreitungen. „Aber ich will zum Beispiel mit 19 noch nicht nackt auf der Bühne zu sehen sein“, sagt sie. „Aber wenn die Rolle es erforderte, würdest du es wahrscheinlich tun, oder?“, fragt die Dozentin. Darauf gibt es noch keine Antwort. Luise weiß, dass Intimität vor laufender Kamera zum Beruf gehört. Luise tastet sich ran. Sie spielt in einer Serie, „Druck“ heißt sie, im Auftrag des ZDF produziert für dessen Jugendprogramm Funk, da hatte sie soeben ihren ersten Filmkuss. „Krass, dass man wirklich gar nichts fühlt.“

Vielleicht ist man hier, bei der Schauspielerei als Mittel zur Selbsterforschung, am verletzlichsten Punkt: Der womöglich übergriffigen Grenzübertretung tritt ja die enorme Bereitschaft dazu gegenüber. Schauspieler suchen sie. Man hält sie für notwendig für die Kunst.

„Junge Schauspieler in großen dramatischen Rollen sollen oft Erfahrungen glaubhaft verkörpern, die sie selbst noch gar nicht gemacht haben im Leben“, sagt Kluth. Schmerz, Angst, Verlust. Wie aber lockt man die aus sich heraus?

Schauspiel kann man auch als lange Tradition der Quälerei erzählen

Arbeit ist Zumutung, und aus der Zumutung und ihrer Bewältigung erwächst die Kunst: „Eine Castorf-Produktion in ihrer Länge zu proben, ist ja per se Zumutung. Für alle.“ Schauspiel kann man auch als lange Tradition der Quälerei erzählen, von Method Acting bis Peter Zadek. Unzählige Wiederholungen, Brüllerei, nächtliche Arbeitszeiten, lange Wartezeiten, Eifersucht und Psychokisten. Aber „wenn nachher das Ergebnis toll ist, verwächst sich so etwas ganz hervorragend“, ist seine Erfahrung. Wenn die Kritik das Stück lobt, das Stück Erfolg hat, „findet es auch der geknechtete Schauspieler wieder gut“.

Als gelte ein Pakt, dass erst ein Ritt durchs Fegefeuer am Ende Kunst hervorbringt. „Man will sich reinwerfen, brennen, sich fertigmachen“, sagt Kluth. „Aber wo ist die Grenze von künstlerisch gewagt zu menschlich unerträglich? Und wie viel Zweck heiligt die Mittel?“, fragt Kluth. „Und wer ist dann dafür verantwortlich, mit dem Feuerlöscher reinzugehen?“

Kluth kommt aus der Praxis. Regie werde dort oft so verstanden, als müsse man auf einen Stein einschlagen: „Bildhauerei ist ja auch eine erfolgreiche Art der Formgebung.“ Einige Regisseure machten ihre Schauspieler fertig unter dem Vorwand, „alles“ aus ihnen herausholen zu wollen. Es gebe sogar eine Art „Folter durch Verweigerung der Regie“.

An einer Schule sei die Grenze viel früher erreicht, denn eine Ausbildung macht man per se als junge, unfertige Persönlichkeit. In diesem Alter sucht man sich noch selbst. Lehrer sagen dann Sätze wie: „Super, dass du da einen Schmerz fühlst. Der ist gut für die Arbeit.“ Dieser Satz sei aber mal richtig und mal nicht.

Was ist der Unterschied zwischen einem Vorurteil und einem Klischee?

Was, müsse man fragen, ist da produktiv im Sinne der Arbeit? Sind schmerzhafte Erfahrung wertvolle Lebenserfahrung? Oder sollte man die verstörte Schauspielerin besser in den Arm nehmen? – „Und geht das jetzt überhaupt?“

Auf der Probebühne zehn springen Hauke und Hugo mit herausgestreckter Brust und großem Anlauf abwechselnd gegen die Wand. Der eine im Tüllrock, der andere im Gehrock. Erst der eine, dann der andere. Immer höher springen sie, ihr Brustkorb knallt dumpf gegen den Putz. Die beiden Männer haben einander als Männer entdeckt. Sie vergleichen sich. Es ist ein lustvoller Wettbewerb, kein Zickenkrieg.

Schon in diesen vier Stunden Probe werden die Gesten geschärft, die Figuren kriegen Kontur. Was, fragt Iris Böhm die vier, ist der Unterschied zwischen einem Vorurteil und einem Klischee? Muss man nicht mit Klischees arbeiten, um sie dann brechen zu können?

Selten sind die Dinge eindeutig schwarz oder weiß. Nicht einmal dann, wenn das Weiß, wie in der MeToo-Debatte, die blendende Strahlkraft eines Bademantels angenommen hat.

Man kann zum Beispiel nicht über MeToo reden, ohne über Männerbilder zu sprechen, findet Zebu Kluth. Und die haben sich in den letzten Jahren geändert.

Zebu Kluth hat im Januar, nach den Enthüllungen zu Dieter Wedel, sofort Anrufe erhalten: Wie er seine Schauspieler auf „so etwas“, die Wedels dieser Welt, vorbereite?

Schon in dieser Frage war viel vorausgesetzt, womit Kluth nicht einverstanden war. Der Plural zum Beispiel, der suggerierte, dass es viele Wedels gebe. Die selbstverständliche Annahme, dass ein Dieter Wedel überhaupt heute noch möglich wäre. Als habe sich nichts geändert.

„Ich war auch ein Softie“

Aber so einfach ist das nicht mehr. Hatte es nicht bis eben noch so ausgesehen, als seien die Männer das verunsicherte Geschlecht? Am laufenden Band erscheinen Bücher über den orientierungslosen Mann. Tenor: harte Schale, weicher Keks. Der eine nimmt Elternzeit, der andere stellt Rollenbilder infrage, ein anderer wird von der neuen Macht der Frauen bedroht. Die Befreiten testen ihre neuen Rollen aus, die Bedrohten greinen und wissen nicht, wohin mit sich.

„Ich war auch ein Softie“, sagt Kluth, sein langer Bart teilt sich im oberen Drittel zu einem Lachen. Er könne noch heute häkeln und stricken. Weil er Teil einer Generation war, die Glück und nicht Macht als Indiz für ein erfolgreiches Leben zu sehen begann.

Der jugendliche Holger Zebu Kluth aus Lübeck, auf der Suche nach Reibungsflächen, macht in den 70ern die alten Geschlechterrollen aus. Er wird sozusagen aus Widerstandswillen zum Softie, dann zum Hippie und Punk, ist einer von Tausenden, die in der legendären Panther-Reihe von Rowohlt die beiden Titel „Unbeschreiblich weiblich“ und „Unbändig männlich“ einatmeten. Das ist an den wenigsten spurlos vorübergegangen.

Der neueste Regie-Studiengang besteht aus 100 Prozent Frauen

Umspült von der Gesamtliberalität des Jahrzehnts sei auch Kluths Mutter „mit dem formlosen Wissen angetreten, dass die Kinder glücklich werden sollen“. So saß ihr Sohn in selbst verwalteten Teestuben herum, war in der Theater-AG, aber eigentlich wartete er darauf, 18 zu werden, um endlich die Grünen wählen zu können. Ja, er hatte mit Plastiksoldaten gespielt, aber den Kriegsdienst verweigerte er trotzdem. Er wurde Dramaturg, arbeitete am Berliner Hebbel-Theater, gründete die Berliner „Sophiensäle“ mit, wurde Geschäftsführer mehrerer Theater. Nun ist er Mitte 50 und hat es wieder mit Geschlechterrollen zu tun. Aber es hat sich etwas verlagert.

Auch Männer sind „enormem kosmetischen Druck ausgesetzt“. Der neueste Regie-Studiengang besteht aus 100 Prozent Frauen. In den nächsten Wochen will Kluth sich mit den Leuten von der Musikhochschule „Hanns Eisler“ treffen, die den Leitfaden „Nein heißt Nein“ herausgebracht haben. Der benennt so einfache Dinge wie, dass Lehrer ankündigen sollen, bevor sie jemanden anfassen.

Und Holger Zebu Kluth, verantwortlich für den Nachschub der Branche, hat seine ganz eigene Agenda zu dem Thema mitgebracht, um das Machtgefälle zu beenden: Kluth hat als Geschäftsführer der Hamburger Kammerspiele viele Gehaltsverhandlungen mitbekommen. Innerlich hat er sich immer gewunden, wenn er sah, wie bereitwillig Frauen von ihren Vorstellungen abbogen. Als er anfing an der „Ernst Busch“, schwor er sich: „Ihr werdet unsere Schauspielerinnen nie wieder so günstig kriegen!“

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