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Zu Mustafa Altioklars berühmtesten Filmen zählt "Agir Roman". Künftig will der Regisseur in Berlin drehen.

© Mike Wolff

Mustafa Altioklar in Berlin: Der Regisseur, der Erdogan im TV einen Narzissten nannte

In der Türkei war Mustafa Altioklar ein Star. Dann musste er fliehen. Was ihm in seinem deutschen Exil dennoch Hoffnung macht.

Und was macht er am Freitag, wenn sein Präsident durch Berlin gefahren wird? Na gar nichts, sagt Mustafa Altioklar. Er werde versuchen, das zu ignorieren. „Was brächte es denn, wenn ich mit einem Schild durch die Straßen liefe, auf dem steht: ,Erdogan, geh nach Hause?‘“

Er sitzt auf einer Holzbank neben dem Eingang des Backsteinbaus an der Bergmannstraße in Berlin-Kreuzberg. Hier ist seine Schauspielschule untergebracht, gleich beginnt der Unterricht. Mustafa Altioklar zündet sich noch eine Zigarette an. Er sagt: „Ich glaube schon, dass ich eine Depression habe. Aber gut, für Künstler ist das ja ganz hilfreich.“

Der 60-Jährige ist einer von Tausenden türkischen Oppositionellen, die in den vergangenen drei Jahren nach Deutschland gekommen sind, geflohen, vorsichtshalber ausgereist, viele nach Berlin. In seiner Heimat ist er ein Star. Ein zigfach ausgezeichneter Regisseur, sein Spielfilm „Agir Roman“ gilt als kanonisch. Gleichzeitig ist er Kemalist, den Aufstieg von Recep Tayyip Erdogan und dessen Partei AKP hat er immer wieder öffentlich kritisiert. Lange ging das gut, aber 2015 musste er fliehen, sonst wäre er im Gefängnis gelandet. Nach ein paar Monaten in München entschied er sich, dass er in Berlin leben will, „womöglich für sehr viele Jahre“. Mustafa Altioklar hat in Deutschland kein Asyl beantragt, sondern ein Künstlervisum, das jährlich verlängert werden muss.

Im Grunde ist es bizarr. Er hat Zuflucht in einem Land gefunden, in dem ein größerer Teil der Türken für Erdogans Präsidialsystem gestimmt hat als daheim. In Berlin trifft er auf Türken, die lange vor ihm herkamen, oft aus ländlichen Regionen. Viele von ihnen verehren ausgerechnet den Mann, vor dem er selbst flüchtete. Von dem Altioklar sagt: „Der hat mein Land zerstört.“ Und an seiner Schauspielschule unterrichtet er junge, zumeist in Berlin geborene Türken, die allesamt in die entgegengesetzte Richtung wollen: die auf eine Karriere in der Türkei hoffen, dort in Filmen oder Seifenopern mitspielen möchten. In dem Land, das er selbst nicht mehr betreten kann.

Hier lebt er in der Blase der Geflüchteten

Der Austausch mit den Türken der Gastarbeitergenerationen sei begrenzt, sagt Mustafa Altioklar. Er bewege sich in Berlin eher in einer Blase von Leidensgenossen. Intellektuellen, Kulturschaffenden und Journalisten, die ebenfalls flohen. Sie treffen sich oft abends zum Reden und Rakitrinken. Viele kannte er schon in der Türkei. „Hier sind wir sehr anders zueinander.“ Mit einigen habe er sich in der Heimat angegiftet, ja geradezu bekriegt, weil sie glaubten, völlig unterschiedliche politische Meinungen zu vertreten. „Hier im Exil, in dieser speziellen Lage, halten wir zusammen“, sagt er. „Wir können uns plötzlich akzeptieren, sogar miteinander lachen.“

Der Grund, warum er fliehen musste, war ein Fernsehinterview. Im April 2014 saß Altioklar im Studio von CNN Türk, der Moderator befragte ihn zu den Veränderungen im Land, und Altioklar sagte etwas Überraschendes: Die Ursache für so vieles, was schieflaufe, sei die psychische Verfasstheit Erdogans, also des damaligen Premierministers. Der Mann habe eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.

Es dauerte zehn Tage, bis Altioklar einen Brief im gelben Umschlag erhielt. Anklage wegen Beleidigung des Premierministers. Erdogan persönlich hatte ihn angezeigt. Bei einer Verurteilung würde er ins Gefängnis müssen. Altioklar hatte schon Monate zuvor darüber nachgedacht, sich ins Ausland abzusetzen. Aber er hatte einen kranken Vater zu pflegen.

Wie er vor Gericht argumentierte

Der Anwalt empfahl ihm, vor Gericht von einem Versehen zu sprechen. Vielleicht habe er sich in der Hektik des Live-Interviews falsch ausgedrückt, etwas völlig anderes im Sinn gehabt? Altioklar sagte: „So etwas mache ich nicht.“ Der Anwalt habe erwidert: „Ich weiß, aber es ist meine Pflicht, Ihnen das einmal geraten zu haben.“

Stattdessen berief sich Mustafa Altioklar auf die Meinungsfreiheit. Dazu auf Paragraf 27 der Verfassung, der besagt, ein Wissenschaftler dürfe seine Erkenntnisse jederzeit und ungestraft öffentlich machen. Denn Altioklar ist nicht nur Filmemacher, sondern auch Arzt. Nach der Schule hat er sechs Jahre Medizin studiert, dann als Allgemeinmediziner gearbeitet. 2013 bei den Gezi-Protesten war er einer der Ärzte, die vor dem benachbarten Divan-Hotel eine provisorische Klinik errichteten und wochenlang Verwundete versorgten.

Der Moment, der sein Leben verändert sollte: Altioklars Interview bei CNN im April 2014.
Der Moment, der sein Leben veränderte: Altioklars Interview bei CNN im April 2014.

© Youtube

Vor Gericht argumentierte Altioklar, er habe in dem CNN-Interview niemanden beleidigt, sondern eine medizinische Diagnose gestellt. „Ich würde psychische Erkrankungen nie als Schmähung benutzen.“ Man könne doch auch offen darüber reden, dass Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk an Leberzirrhose litt. Er las dem Richter eine lange Liste vor, was eine narzisstische Störung ausmache: dass sich der Erkrankte für einzigartig und wichtiger als andere halte. Dass er ständig seine eigene Macht betone, sich auserwählt fühle, empathielos sei, Arroganz zeige, die Schwächen von anderen ausnutze … Der Richter unterbrach ihn und meinte, es genüge, wenn er seine Verteidigung schriftlich einreiche. „Nein“, sagte Altioklar. „Ich will, dass jeder es hört.“

Wenn er heute, auf der Holzbank vor dem Backsteinbau an der Bergmannstraße, über seinen Prozess spricht, dann ist zu spüren, wie viel Wut in ihm ist. Wut auf Erdogan, der sein Land so radikal verändere, dass Altioklar es nicht mehr wiedererkennt. Auch Wut auf seine Landsleute, die ihm vor acht Jahren noch vorhielten, er solle nicht so alarmistisch daherreden, das könne schon funktionieren mit der AKP und ihrem vermeintlich liberalen Islam. 

Warum verehren viele Berliner Türken Erdogan?

Er weiß, dass viele Türken in Berlin die AKP wählen – und dass sie mit einem wie ihm nichts anfangen können. Sein Freund Can Dündar, Ex-Chef der Zeitung „Cumhuriyet“ und ebenfalls nach Berlin geflohen, fährt inzwischen nicht mehr Taxi. Zu oft hat er Fahrer erwischt, die Erdogan verehren und ihn, Dündar, lautstark beschimpfen.

Trotzdem müsse man es differenziert sehen, sagt Mustafa Altioklar. Die hier lebenden AKP-Wähler seien nicht mit denen in der Türkei vergleichbar. Es wirke zwar widersinnig: Da leben Menschen freiwillig und gern in der demokratischen, laizistischen Bundesrepublik, wählen in der Türkei dann aber eine Partei, die all das dort bekämpft. „Die wollen für sich den westlichen Lebensstil und für ihre Heimat den Saudi-Arabiens.“ Mustafa Altioklar sagt, da seien viele Menschen, die sich nicht integriert und nicht gehört fühlen. Und es sei eben die AKP gewesen, die sich als erste massiv um die Exiltürken gekümmert habe. „Wer sich vernachlässigt fühlt, sagt dann halt: Endlich interessiert sich jemand für uns. Das haben die anderen türkischen Parteien ewig verschlafen.“ Natürlich habe Erdogan nie tatsächlich irgendetwas für sie getan, sagt er. Es gehe nur um das Gefühl der Beachtung.

„Herr Altioklar, wie ging es denn jetzt mit Ihrem Prozess weiter?“

Im Dezember 2015, einen Tag vor der Urteilsverkündung, sei dann sein Vater gestorben, sagt er. Als habe der ihm den Weg zur Flucht freimachen wollen. Mustafa Altioklar sagt, er glaube nicht an Schicksalsfügungen. Aber sein Vater sei ja auch Arzt gewesen, womöglich habe der bei seinem eigenen Tod nachgeholfen. Nach der Beerdigung ist Mustafa Altioklar vom Friedhof zum Flughafen gefahren. Er sagt, er habe noch die Erde vom frischen Grab unter seinen Schuhen gehabt.

Zu Hause droht ihm jahrelange Untersuchungshaft

Altioklar ist dann in Abwesenheit zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden. Später wurde das Urteil in eine Geldstrafe umgewandelt: 6000 Lira, damals etwa 2000 Euro, heute, wegen des Verfalls der türkischen Währung, noch 800. Und wenn er die nun einfach zahlte? „Das hieße, dass ich die Entscheidung akzeptierte.“ Außerdem laufen noch fünf weitere Verfahren. Zum Beispiel, weil er es gewagt hatte, die Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmed II. im Jahr 1453 zu kritisieren. Beträte er türkischen Boden, käme er wohl in Untersuchungshaft. Und dort könnte er jahrelang ohne Prozess festgehalten werden. Genau so ergeht es derzeit etlichen Oppositionellen.

Altioklar lebt jetzt in einer kleinen Wohnung in der Nähe des Kreuzberger Engelbeckens. Die meisten seiner Habseligkeiten hat er in einem Depot einlagern lassen. Zum Beispiel die 2500 Bücher, wo sollte er die sonst unterbringen? Seine Tochter und Geschwister leben noch in der Türkei, sie besuchen ihn regelmäßig in Berlin, oder sie treffen sich auf halber Strecke, vor ein paar Tagen war er mit dem Bruder auf einer griechischen Insel.

Hat er Heimweh? „Nein“, sagt er, „Erdogan hat mein Istanbul kaputt gemacht.“ Dann schweigt er, dann korrigiert er sich. „Ich habe schon Heimweh, aber nach dem Istanbul, wie es früher war.“

Seinen Schülern muss er den Berliner Akzent abtrainieren

In dem Haus an der Bergmannstraße hat er erst mal nur einen Raum für seine Schauspielschule angemietet. 22 Schüler stehen kurz vor dem Ende ihrer Ausbildung. Sie fertigen gerade Probeaufnahmen an, um sich dann zu bewerben. Das Schwierigste sei gewesen, ihnen den Berliner Akzent abzutrainieren. „Ich musste ihnen den Istanbuler beibringen.“ Sonst blieben für sie auf dem türkischen Markt nur die exotischen Rollen übrig.

Glaubt er denn, dass er selbst den Rest seines Lebens in Berlin verbringen muss? „Jedes autokratische Regime endet irgendwann, auch der türkische Albtraum wird einmal vorbei sein.“ Natürlich behalte er seine Hoffnung. Man sehe ja auch, dass Erdogans Regime „die Sache rasant gegen die Wand fährt“. Aber ob es noch ein paar Monate dauere oder fünf Jahre oder viel länger, wer wisse das schon?

Die wichtigere Frage sei sowieso, was danach komme. „Darüber müssten die Exilanten eigentlich nachdenken“, sagt er. „Nur darüber.“ Wie es gelänge, die Verfassung und die demokratischen Institutionen, die in den vergangenen acht Jahren so zugerichtet wurden, wieder herzustellen, und zwar in kurzer Zeit.

Er will endlich wieder produktiv sein. Er hat das Drehbuch für ein Drama geschrieben, das indirekt auch mit ihm selbst zu tun hat. Es basiert auf einer wahren Geschichte: Als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, baten mehrere Dutzend deutscher Wissenschaftler, die meisten jüdischen Glaubens, den türkischen Staatsgründer Atatürk um Asyl. Der nahm alle auf, vermittelte ihnen Lehraufträge an der gerade gegründeten Istanbuler Universität. Mustafa Altioklars Vater studierte damals dort, saß bei deutschen Professoren in den Seminaren.

Viele weitere kamen nach, brachten Familie mit und Assistenten. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren es 2000 Deutsche. Eine ganze Welle, sagt Altioklar. „Jetzt läuft es eben in die andere Richtung, und ich bin Teil davon.“ Demnächst entscheidet das Medienboard, ob es den Film unterstützt, dann könnte es bald losgehen.

Außerdem plant er schon lange einen Episodenfilm. Über Menschen, die sich in einer bestimmten Nacht in einer Großstadt zufällig über den Weg laufen. Ursprünglich sollte der „Funny“ heißen und in Istanbul spielen. Da kann er jetzt natürlich nicht drehen. Deshalb muss ein neuer Name her: „Funny night in Berlin“.

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