zum Hauptinhalt
Klangmeister. Wolfgang Prosinger wusste, was eine gute Geschichte zu einer großartigen macht.

© Mike Wolff

Nachruf auf Wolfgang Prosinger: Die leise Wucht

Wolfgang Prosinger war ein Zuschauer im Theater der Welt. Er sah die Menschen in ihren Rollen. Ihre Geschichten erzählte er nie auf Kosten der Figuren. Nun ist der Journalist, Buchautor und langjährige Chef der Seite Drei gestorben.

Eine Sache zwischen Freunden ist es bloß, ganz am Anfang, aber machtvoll ist sie damals schon. Zwei elfjährige Jungs, die jahrelang wie irre Gedichte schreiben, Pamphlete, Geschichten. Liedtexte für die Gitarre gehen hin und her. Sie diskutieren, schärfen die Kriterien für „gut“ und schreiben weiter. Wenn man will, liegt die Zukunft schon darin: die existenzielle Bedeutung des Ausdrucks. Die Freundschaft als Teil des Schreibens und das Schreiben als Teil der Freundschaft. Die Gegenseitigkeit. Niemand kann sagen, was davon zuerst da ist, was wichtiger ist und was länger halten wird.

Es hält ein Leben lang. Es wird ein Modell. Und Wolfgang Prosinger, einer der beiden Jungs, wird zu einem Journalisten, Buchautor und Lehrer. Am Donnerstag ist Wolfgang Prosinger mit 68 Jahren gestorben. Und seine ehemalige Schülerin Ferdos Forudastan, heute Sprecherin des Bundespräsidenten, sagt über ihn: „Bei jedem längeren Text, den ich schreibe, frage ich mich, was Wolfgang wohl dazu sagen würde. Das ist mehrmals in der Woche.“ Christoph Schwennicke, heute Chefredakteur des Politmagazins „Cicero“, hatte seinen ersten Job bei Prosinger und der „Badischen Zeitung“ und schwärmt noch heute von dessen Art, Reportagen immer im Sinne des Autors und so wenig wie möglich zu behandeln. Gibt es auch das absolute Gehör für Texte?

"pro" - ein leiser, feiner Mann

Messerscharfe Meinungen zu haben, heißt ja nicht zwangsläufig, sie auch ständig laut zu äußern. Und so ist Wolfgang Prosinger, Kürzel „pro“, den meisten seiner vielen Kollegen beim Tagesspiegel als ein leiser, feiner Mann gegenwärtig, der mehr als 13 Jahre lang, bis zum Januar 2014, mit seiner minimalinvasiven Methode die Seite Drei leitet. Es ist die prominenteste Seite, auf deren ganzer Länge man einem Thema Tiefe verleihen kann. Prosinger vollbringt dort ein Kunststück: Den natürlichen Druck, der sich daraus ergibt, schnell, aber ausgeruht und nachhaltig zu schreiben, besonders und zugleich relevant auf die Welt zu sehen, gibt er nicht einfach weiter. Es gelingt ihm, diesen Druck für die Autoren in einen Sog zu verwandeln. Wie macht er das?

„Vielleicht sollte man den ersten Satz einfach weglassen?“ Wie ein Tänzer tritt Wolfgang Prosinger in seinem Kabäuschen im dritten Stock des Tagesspiegel einen Schritt zurück und wartet seine Wirkung ab. Schon stellt die Autorin sich vor, wie das nun klänge. Wie gezogen tritt sie in die angebotene Lücke nach vorn.

Sie ist bloß einem Sog gefolgt. Eine Art Unterdruck war entstanden. Es ist die spezifische Prosinger'sche Anziehung, die hier zu spüren ist und die Autoren führt, indem sie Raum eröffnet. Am Ende steht ein besserer Text.

Prosinger weiß ja immer, was man meint, und sogar in den Fällen weiß er es, wenn es noch gar nicht ganz ausgedrückt ist. So ist es die größte Freude aller Schreiber, erkannt worden zu sein.

Man muss sich den jungen Wolfgang Prosinger als einen exzellenten Gitarrenspieler vorstellen, mit einem Repertoire vom bayerischen Volks- bis zum italienischen Revolutionslied, erzählt Rainer Stephan, mit dem er als Junge Gedichte tauscht. Einmal in der Woche sitzt eine Gruppe von Freunden in der Münchner Oper. Sie hat ein System entwickelt, wie sie mit vier Karten zwölf Leute in die Vorstellung einschleusen kann.

Er brachte Abstand zwischen sich und die Welt

Prosinger macht es sich früh zur Gewohnheit, etwas Abstand zwischen sich und die Welt zu bringen. Zu viert oder fünft wandern sie regelmäßig in die Berge. Aus der Ferne sieht die Welt ganz anders aus. Er studiert Germanistik und Geschichte. Das Studium dauert ewig, denn es muss gelebt werden, Deutschland erfindet sich mit den 68ern neu. 1973 zieht er in eine vierköpfige WG mit Zielen. Mehrere Monate campiert die WG vor dem geplanten Atomkraftwerk Wyhl, um dessen Bau zu verhindern. Und irgendwann sitzen da drei Freunde kurz vor Dreißig, die sich bei all ihren Studien des Lebens nie gefragt haben, was sie damit machen wollen. „Aber schreiben, das konnten wir“, sagt der Jugendfreund. So werden sie alle Journalisten. Erst in der Badischen Zeitung rasieren sie sich langsam die Bärte ab, schneiden die Haare, gleiten „ins bürgerliche Lager“. Und auch in die besseren Lokale.

Ansgar Fürst, damals Chefredakteur der Badischen Zeitung, sieht bald, dass Wolfgang Prosinger „mit den zwei Kernthemen des Journalismus, der Nachricht und der kommentierenden Meinung, unausgelastet ist“. Er will mehr. Er entdeckt die Reportage für sich. Fürst lässt ihn ein völlig neues Ressort für die Badische Zeitung aufbauen. Ein Volltreffer für alle Seiten.

Die Reportage wird Prosingers Gattung bleiben, die er beim Tagesspiegel perfektioniert. Aber zunächst hat viele Jahre Fürst das Vergnügen: Er beschäftigt einen Mann, der Zwischentöne hört. Prosinger erzählt seine Geschichten nie auf Kosten seiner Figuren. Er soll nun, Experte in Empathie, auch zuständig sein für die Volontäre. Und Ansgar Fürst beobachtet etwas Seltenes. „Er wurde, obwohl das in Redaktionen nicht üblich ist, richtig geliebt.“ Der Chefredakteur stattet dem Ressort deshalb gerne Besuche ab, die Stimmung ist dort immer so innig. Aber es ist ihm ein Rätsel, wie das zwischen Prosinger und den Leuten genau funktioniert.

Irgendwann ist Prosingers Italiensehnsucht so stark – die Freunde sind ja damals in den Ferien niemals woanders hingefahren als nach Italien –, dass er dort Korrespondent sein will. Er geht mit Frau und Kindern für fünf Jahre nach Rom, seine zwei kleinen Töchter werden von Anfang an gefüttert mit italienischer Lebensart. Gedichte als Grundnahrungsmittel auch für sie.

Treffen mit ihm waren eine Auffrischungsimpfung

Prosinger weiß, zu allem gehört mehr, als man sieht. Bei ihm darf alles, was ein Leben ausmacht, in den Reportagen nachhallen. Nicht nur die spektakulären Aktionen kommen vor, auch die Abenteuer der Innerlichkeit. Prosinger, den Giovanni di Lorenzo 2001 zum Tagesspiegel holt, kann einem beim Mittagessen auseinanderklamüsern, warum ein Reporter die Arbeit von fünf Journalisten leisten muss. Für ein Porträt etwa müsse er alle Bücher über jemanden gelesen haben – ohne aber gleich zu schreiben wie ein Rezensent. Er müsse, zweitens, die Person mehrmals getroffen haben, ohne das Ergebnis gleich als Interview zu verwerten. Er müsse ein Thema einordnen, ohne ein Essay zu schreiben. Eine Haltung solle er entwickeln, sie aber nicht kundtun wie ein Meinungsredakteur. Der Reporter müsse all das leisten und dann noch das Material so komponieren, dass der Leser seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Leicht und unangestrengt laufen die Dinge – am besten in Szenen erzählt – folgerichtig auf ihr Ende zu. Ist ja klar.

Wem bei solch einem Essen von Prosinger all das zugetraut wird, erstarkt. Treffen mit ihm sind eine Auffrischungsimpfung. Man kann mit ihm dieses Ideal beschwören, auch wenn allen am Tisch klar ist, dass es im real existierenden Journalismus Abweichungen von den Idealen geben muss.

Er selbst, der ehemals glühende Messdiener, der später nicht mehr glaubt, der Bergwanderer, politisch Linke, sieht sich als mehr oder weniger amüsierter Zuschauer im Theater der Welt. Er ist Spezialist dafür, Kulissen zu erkennen, so wird man wohl, wenn man von Anfang an mit der katholischen Kirche aufwächst. Überall erkennt er theaterhafte Elemente, darüber schreibt er auch: im Kölner Karneval, in der Politik, in der Kirche und natürlich in den Redaktionen. Er beobachtet die Menschen in ihren Rollen, ihr wechselndes Geschick. In Wahrheit ist er Ethnologe. Was für eigenwillige Spielarten des Menschseins es gibt! Aus der Distanz sieht man das sehr genau. Die Seite Drei ist ein Berg, den er vor vielen Jahren erklommen hat.

Prosinger braucht keine großen Gesten für seine Karriere

Prosinger, von kleiner Statur, braucht keine großen Gesten für seine Karriere. Die Welt zwitschert längst um ihn herum, aber er misstraut der Schnelligkeit. Er will nicht das Wichtige mit dem Dringenden verwechseln. Er steht mittendrin in der beschleunigten Welt, aber ihr Opfer will er nicht sein. Er ist schließlich ihr Chronist. Der Beschreibende ist nie Opfer seiner Umgebung, denn er schafft sie mit der Erzählung neu. Nur manchmal wundern sich Leute, wenn sie sehen, welche scharfen Urteile Prosinger treffen kann.

Drei Bücher veröffentlicht er in seiner Zeit beim Tagesspiegel. Sein Meisterwerk ist „Tanner geht“. Als er über Ulrich Tanner schreiben will, wird ihm eine Zeitungsseite zu kurz. Er begleitet den unheilbar Kranken, der sterben will und minutiös seinen Tod vorbereitet. Es ist eine sehr lange Reportage in Buchform, Prosinger zeigt darin alles, was er immer gelehrt hat. Das Thema ist heikel – und Wolfgang Prosinger kommt Tanner in vielen Besuchen nahe. Der weiß, dass er von dem Ergebnis niemals ein Wort wird lesen können. Am Ende begleitet er ihn auf seinem letzten Gang nach Zürich – und fährt allein wieder nach Hause.

In winziger, gedrängter Schrift – Prosinger lässt keine Ränder – schreibt er auch dieses Buch per Hand. Als sei die kritischste Stelle beim Schreiben der Nachschub von Papier. Zunächst sucht er den Tonfall für den Anfang. Fortan muss es fließen. Wer mit der Hand schreibt, kann ja nicht dauernd durchstreichen.

Und jenseits des Schreibtisches? Da macht er eine sternetaugliche Erbsensuppe mit Zitrone, Öl und Minze. Aus seiner Zeit als Korrespondent in Rom behält er die lässige Art, sich elegant zu kleiden. Nur zu Spielen des SC Freiburg bindet er sich einen rot-weißen Schal um. Er lebt inzwischen mit seiner zweiten Frau. Er verfolgt, wie seine Töchter groß werden. Er wundert sich nur gespielt, dass sie so gut geraten. Schließlich ist er ihr Vater.

Als ihm im Frühjahr dieses Jahres, er ist da erst 67 Jahre alt, Krebs diagnostiziert wird, hätte man denken können, niemand sei besser auf eine solche Situation vorbereitet. Er hatte auf Ulrich Tanner geschaut wie jemand, der nie blinzeln muss. Es regt auf, das Buch zu lesen. Wer so schreibt, hat über alle Aspekte des menschlichen Abgangs schon einmal nachgedacht. Aber möglicherweise nicht für sich.

„Wolfgang?“

„Ja?“, würde er sagen.

„Sag', über ein Thema zu schreiben ist doch in Wahrheit eine hervorragende Art, es sich gründlich vom Leib zu halten, oder?“

„Aber selbstverständlich“, würde er rufen. Erfreut darüber, erkannt worden zu sein.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false