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Die Zähne der Nacktmulle in freier Wildbahn sind so sehr mit Bakterien kontaminiert, dass selbst Kamele an einem Biss verenden.

© Kai-Uwe Heinrich

Nacktmull-Mord im Tierpark: Was die Menschheit von den hässlichsten Tieren der Welt lernen kann

Nacktmulle bergen für Forscher Lösungen für die größten menschlichen Sehnsüchte: Gesundheit und Unsterblichkeit. Und sie bringen einander um.

Es muss ein blutiger Kampf gewesen sein in der Nacht zum 23. Dezember. Nur eine der beiden Kämpferinnen erlebte den nächsten Morgen.

„Als die Pfleger kamen, war unsere Nacktmullkönigin völlig zerstört“, sagt Florian Sicks, Säugetierkurator im Berliner Tierpark. Ihr Hofstaat hatte sie gestürzt, es war das Ende einer sechsjährigen Herrschaft, während der die Königin 450 Nachkommen gezeugt hatte. Und der Beginn eines neuen Rätsels für die Wissenschaft.

Es gibt wohl nicht wenige Menschen, die Nacktmulle als die hässlichsten Tiere der Welt bezeichnen würden. Es gibt Menschen, die ihnen Spitznamen wie Säbelzahnwürstchen gegeben haben. Doch für Forscher auf der ganzen Welt bergen sie Lösungen für die größten menschlichen Sehnsüchte: Gesundheit und Unsterblichkeit.

Weltweit interessieren sich Forscher für die Nacktmulle. Selbst Google experimentiert mit tausenden Tieren.
Weltweit interessieren sich Forscher für die Nacktmulle. Selbst Google experimentiert mit tausenden Tieren.

© Kai-Uwe Heinrich

Je älter wir werden, desto größer wird das Risiko, zu sterben. Dieses Schicksal teilen Menschen mit den allermeisten anderen Säugetieren auf der Welt. Nicht mit dem Nacktmull. Die sterben nicht an Altersschwäche, sondern nur, wenn ein Feind oder ein anderer Nacktmull sie umbringt. Wenn es zu einer Mordnacht kommt, wie an jenem Berliner Dezembertag. Aber warum das passiert, auch das weiß man nicht.

Forscher können das Alter nur auf eine Art bestimmen

Was man weiß: Nacktmulle sind Nager. Nager vergleichbarer Größe, wie Mäuse, leben meist nur wenige Jahre. Nacktmulle zwei bis drei Jahrzehnte, aber sie zeigen kaum Anzeichen von Verfall, bleiben bis ins hohe Alter beweglich. Allein an der Abnutzung der Backenzähne können Forscher erkennen, wie alt ein Nacktmull ungefähr ist.

Florian Sicks ist für die Nacktmulle im Tierpark zuständig.
Florian Sicks ist für die Nacktmulle im Tierpark zuständig.

© Kai-Uwe Heinrich

Säugetierkurator Sicks öffnet im Giraffenhaus die Tür an der Rückseite des Tatorts. Warme feuchte Luft strömt aus dem kleinen Raum, in dem bei 32 Grad fast 50 Nacktmulle hörbar durch Röhren aus Acrylglas tapsen. Sie rennen über- und untereinander, quetschen sich aneinander vorbei oder rutschen die Gänge wieder rückwärts herunter. Ein Nacktmull läuft mit einem großen Stück Sellerie zwischen den Zähnen durch den Bau ins Nest.

Keine Rote Bete - das sieht aus wie Blut

„Sie lieben Kohlrabi, Süßkartoffel, Rübe – nur Rote Bete bekommen sie nicht mehr, dann rufen dauernd die Leute an, die Nacktmulle würden bluten“, sagt Sicks. Nur wenige Zoos in Deutschland haben Nacktmulle. Die Haltung ist aufwendig, die Nachzucht gelingt nicht immer.

Die Nager bewegen sich in engen Röhren fort. In der freien Wildbahn graben sie die Tunnel mit ihren Zähnen selbst.
Die Nager bewegen sich in engen Röhren fort. In der freien Wildbahn graben sie die Tunnel mit ihren Zähnen selbst.

© Kai-Uwe Heinrich

Google hingegen hat das Potenzial der Nacktmulle längst entdeckt. Mit der Hilfe von 4000 Tieren will der Suchmaschinengigant Methoden finden, um das menschliche Altern zu verlangsamen und Krankheiten auszurotten. Die größte Nacktmull-Ansammlung außerhalb der freien Wildbahn wohnt daher in dem von Google gegründeten Biotechnologie-Unternehmen „Calico“ bei San Francisco.

Über die Experimente und Ergebnisse der Google-Nacktmull-Wissenschaft ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt. „Bei der Krebs- und Altersforschung haben die Kollegen dort schon erstaunliche Sachen herausgefunden“, sagt der Neurobiologe Gary Lewin, der seit 2003 Nacktmulle im Max-Delbrück-Centrum in Berlin-Buch erforscht und mit den Kollegen in Kalifornien in Kontakt steht.

Er will die größte Nacktmullzucht Europas

Eine Etage unter Lewins Büro leben in nachgebauten Tunnelsystemen 300 Nacktmulle. Innerhalb der nächsten zwei Jahre möchte Lewin sein Labor vergrößern und bis zu 1000 Tiere halten, um sie besser verstehen zu können. Damit würde Lewins Nacktmullzucht die zweitgrößte nach der Googles sein und Berlin endgültig zur europäischen Nacktmull-Hauptstadt werden.

Nacktmulle sind blind und können ihre Körpertemperatur nicht selbstständig regulieren.
Nacktmulle sind blind und können ihre Körpertemperatur nicht selbstständig regulieren.

© Kai-Uwe Heinrich

Eines der größten Geheimnisse, das die Forscher den Nacktmullen entlocken wollten, ist die Sache mit dem Sauerstoff.

Nacktmulle leben – angeführt von der Königin – in einem Matriarchat mit je bis zu 300 Tieren. Alle haben eine bestimmte Funktion in der Kolonie, sie sind Soldaten, Babysitter und: Tunnelbauer. In ihrem natürlichen Lebensraum in den Savannen und Steppen Ostafrikas graben sie kilometerlange Tunnelsysteme.

Das Problem ist nur, wenn sie in ihren Nestern zusammengekuschelt schlafen, kriegen sie fast gar keine Luft mehr. Aber sie sterben nicht.

Hoffnung für Schlaganfallpatienten

Angetrieben von dieser Beobachtung fand Gary Lewin gemeinsam mit Kollegen der Universität Illinois in Chicago heraus, dass Nacktmulle bis zu 18 Minuten ganz ohne Sauerstoff überleben können. Dafür nutzen sie einen Trick, der vielversprechend für die Schlaganfallforschung sein könnte: Um zu arbeiten, brauchen menschliche Zellen den Brennstoff Traubenzucker, der nur mit Sauerstoff funktioniert. Atmen Menschen mehr als drei Minuten keinen Sauerstoff ein, sterben Zellen ab. Nacktmulle sind die ersten bekannten Säugetiere, die ihr Gehirn auf Fruchtzucker umschalten können, wenn es keinen Sauerstoff gibt.

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Außerdem können sie ihre Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, bei Sauerstoffmangel innerhalb von Minuten ausschalten, sodass Schäden vermieden werden. „Diese Mechanismen könnten Menschen helfen“, sagt Lewin.

Man müsste sich schon sehr für Nagetiere begeistern können, um ihnen sein Forscherleben zu verschreiben – wenn es denn nicht Nacktmulle und ihre Königinnen wären, denn in ihnen liegt auch noch der Schlüssel zur Fruchtbarkeit. Und eine Antwort auf die Frage, wie künftig schwere Verletzungen völlig neu behandelt werden könnten.

Allerdings mussten einige Nacktmulle sterben, bis die Forscher herausfanden, dass 18 Minuten ohne Sauerstoff das Maximum für die Tiere sind.

"Ich bin froh, dass ich keine Nacktmulle umbringen muss"

Wenige Schritte vom Tierpark entfernt wählt Thomas Hildebrandt einen anderen Weg, um den Nacktmullen ihre Geheimnisse zu entlocken. Hildebrandt ist Reproduktionsmediziner am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung. Er steht in einem Raum mit zehn Terrarien und 400 Nacktmullen. „Als Wildtierforscher bin ich froh, dass ich keine Nacktmulle umbringen muss“, sagt Hildebrandt. Er interessiert sich mehr dafür, warum sich die Tiere gegenseitig umbringen.

Prof. Dr. Thomas B. Hildebrandt ist fasziniert von den Nacktmullen.
Prof. Dr. Thomas B. Hildebrandt ist fasziniert von den Nacktmullen.

© Kai-Uwe Heinrich

An seinem Institut trägt jeder Nacktmull einen winzigen schwarzen Mikrochip unter der Haut. In den Tunnelsystemen aus Acrylglas zeichnen Sensoren in den zwölf Kolonien jede Bewegung auf. „Wir wollen das Sozialverhalten der Tiere verstehen“, sagt Hildebrandt. Wer bewegt sich am meisten? Wer hat welche Aufgabe? Wer kümmert sich um den Nachwuchs? Und vor allem: Wer wird Königin, und wie?

Queen Harem bekommt ihre Trächtigkeitsuntersuchung

Also kniet sich Hildebrandt auf den Fliesenboden neben die Kolonie „Harem“. Er schiebt die Glasscheibe zur Seite und fasst von oben vorsichtig in das Tunnelsystem, um die Königin herauszunehmen. Seine Brille baumelt dabei am Ausschnitt seines Pullovers. Minuten später wartet Queen Harem in einer kleinen Plastikkiste auf ihre Trächtigkeitsuntersuchung.

Für die Ultraschalluntersuchung wird Queen Harem auf eine Hotplate gelegt, damit sie nicht auskühlt.
Für die Ultraschalluntersuchung wird Queen Harem auf eine Hotplate gelegt, damit sie nicht auskühlt.

© Kai-Uwe Heinrich

Thomas Hildebrandt schaltet auf einem Untersuchungstisch eine schwarze Wärmeplatte an, zieht einen weißen Kittel über und setzt die Brille auf. Mit der flachen Hand prüft er, ob die Platte warm genug ist, 37 Grad sind das Ziel. Nacktmulle können ihre Körpertemperatur nicht selbstständig halten. „Wenn sie doch mal frieren, rennt einer ein paar Runden durch den Bau und kommt als Wärmekissen zurück“, sagt Hildebrandt.

Im CT riecht es nach Fisch

Unter einer durchsichtigen Plastikglocke narkotisiert Hildebrandt die Königin. Er drückt aus einer Flasche einen großen Klecks Ultraschallgel auf den kleinen Nacktmullbauch. Konzentriert schaut er auf den Bildschirm. „Da sind unsere Babys!“ 18 winzige Embryonen zählt Hildebrandt, jeder knapp einen halben Millimeter groß.

Zehn Tage der 70-tägigen Trächtigkeit sind geschafft. Hildebrandt schaut die Eierstöcke im Ultraschall an, die Blutversorgung ist gut, kein freies Fruchtwasser in der Gebärmutter. „Eine wirklich schöne Schwangerschaft!“ Das wirklich faszinierende ist aber das Skelett.

Im CT kann Thomas Hildebrandt Skelett und die inneren Organe der Tiere untersuchen.
Im CT kann Thomas Hildebrandt Skelett und die inneren Organe der Tiere untersuchen.

© Kai-Uwe Heinrich

Hildebrandt trägt Queen Harem zum Computertomografen, im Raum riecht es nach Fisch. Vor wenigen Minuten wurden hier noch die Köpfe von Schwertfischen untersucht. Behutsam legt Hildebrandt seine Königin auf die Liege im CT, schaltet das Licht aus und schließt die Tür. Das Gerät ist eines der schnellsten der Welt. Einen Eisbär scannt es in 40 Sekunden, für die Nacktmullkönigin braucht es weniger als eine halbe. Auf einem Bildschirm im Nebenraum schaut sich Hildebrandt die Bilder an.

Als wären sie ein anderes Tier

Er zeigt auf das Skelett, die Nacktmullkönigin ist einige Zentimeter länger als die Artgenossen ihrer Kolonie. Sobald ein Nacktmullweibchen zur Königin wird, verändert es die äußere Gestalt. „Als wäre sie ein anderes Tier“, sagt Hildebrandt. Die Haut wird heller und die Lendenwirbel beginnen, wieder zu wachsen. Bei jedem anderen Säugetier ist das Knochenwachstum nach der Jugend abgeschlossen. Ein Buckel bildet sich aus, damit bei einer Schwangerschaft bis zu 28 Nacktmullbabys in der Königin Platz haben. „Wir nennen das das Schulbussystem, weil die Kinder hintereinander in der Gebärmutter angeordnet sind.“

Würde eine Nacktmullkönigin nicht in die Länge, sondern nur in die Breite wachsen, könnte sie in den engen Tunneln ihrer Kolonie stecken bleiben.

Entwickelt sich ein Nacktmull zur Königin verändert sich plötzlich der ganze Körper.
Entwickelt sich ein Nacktmull zur Königin verändert sich plötzlich der ganze Körper.

© Kai-Uwe Heinrich

Die Umstellung des Knochenstoffwechsels beim Nacktmull könnte für die Unfallchirurgie höchst interessant sein. Vielleicht kann die Medizin von den Tieren lernen, wie nach Amputationen Knochen eines Tages wieder nachwachsen können. Die Veränderungen, die ein Nacktmull durchmacht, gehen aber deutlich weiter.

Die Königin einer Kolonie unterdrückt auch die Fortpflanzungsfähigkeit der anderen Weibchen. Wird nach dem Tod einer Königin ein anderes Nacktmullweibchen zur Nachfolgerin, beginnen durch einen Hormoncocktail die Eierstöcke zu wachsen und Zitzen bilden sich aus. Ein unfruchtbares Tier wird plötzlich fruchtbar.

Sie kriegen kein Alzheimer - oder bringen sich vorher um

„Das ist ein Prozess, den wir noch nicht verstehen“, sagt Hildebrandt. Doch wenn, könnten die Erkenntnisse wichtig werden für Frauen, deren Eierstöcke nach einer Krebsbestrahlung geschädigt sind oder für Mädchen, die vor der Pubertät an Krebs erkrankten. „Bei den kleinen Viechern würde mich nichts überraschen. Nacktmulle haben noch genug Geheimnisse für ganze Forschergenerationen“, sagt Hildebrandt und erwähnt ganz nebenbei: „Es sieht auch so aus, als ob Nacktmulle kein Alzheimer oder kognitive Erkrankungen bekommen. Kann aber auch sein, dass sie sich davor gegenseitig umbringen.“

Die hässlichen Nager sind dem Menschen aber weit ähnlicher, als man glauben würde. Einsamkeit macht sie krank. „Allein können Nacktmulle nicht überleben. Sie werden depressiv, weil sie ohne die anderen nicht wissen, was ihre Funktion ist“, sagt Hildebrandt. In den Tunneln kriechen sie dicht gedrängt unter- und übereinander her, haben immer Körperkontakt.

Nacktmulle brauchen die Gruppe - nicht nur für ihre Körpertemperatur. Sie werden sonst depressiv.
Nacktmulle brauchen die Gruppe - nicht nur für ihre Körpertemperatur. Sie werden sonst depressiv.

© Kai-Uwe Heinrich

Weil Nacktmulle blind sind, müssen sie fühlen, wo die anderen sind. „Berührung spielt eine große Rolle“, sagt auch Gary Lewin. Und er geht noch weiter: Die Ursache, warum Nacktmulle weniger schmerzempfindlich sind, ist neurobiologisch erforscht, „es kann aber auch sein, dass das Sozialverhalten eine Rolle spielt.“ Kuscheltherapie gegen Schmerzen? Soziale Kontakte für ein längeres Leben? Könnte es so einfach sein?

Mit Mikrofonen werden Nacktmullgespräche aufgezeichnet

„Wir denken, dass die Tiere sich untereinander erkennen. Sie wissen, mit wem sie gerade arbeiten und ob es ein hochrangiges Tier oder ein Nacktmull von niederem Rang ist“, sagt Lewin. Da jeder in der Kolonie eine andere Aufgabe hat, müssen die Nacktmulle zusammenarbeiten, um Nahrung zu finden. Und dafür müssen sie kommunizieren.

Bisher sind 18 verschiedene Laute von Nacktmullen bekannt, die Menschen nur als ein hohes Piepsen wahrnehmen. „Wir wissen bereits, dass es noch viel mehr Laute gibt“, sagt Lewin. Jede Kolonie hat ihren eigenen Dialekt. Für ein aktuelles Forschungsprojekt hat der Neurobiologe an seinen Kolonien Mikrofone installiert und Nacktmullgespräche aufgezeichnet.

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Dolmetscher gibt es bisher jedoch noch nicht. Schade eigentlich, denn Nacktmulle sind kluge Tiere. Der Ort, an dem sie sich erleichtern, ist immer an einer Sackgasse. Durchgangstoiletten gibt es nicht. Und anders als der Mensch sind sie vorrausschauend bei der Nahrungssuche: Nacktmulle beißen immer nur so viel von einer Wurzel ab, dass die Pflanze darüber nicht abstirbt.

Dass Nacktmulle als Kamelmörder gelten ist ein schreckliches Missverständnis

So stellen sie sicher, dass sich die Nahrungsquelle erholt und sie auch in extremen Trockenzeiten das Fressen nicht einschränken müssen. Dass Nacktmulle bei äthiopischen Bauern als Kamelmörder gelten, ist jedoch ein schreckliches Missverständnis.

Denn einen Vorsatz kann man den vegetarisch lebenden Nagern nicht unterstellen, der Kamelmord ist eher eine Art tragischer Arbeitsunfall.

Die Zähne der Nacktmulle in freier Wildbahn sind so sehr mit Bakterien kontaminiert, dass selbst Kamele an einem Biss verenden.
Die Zähne der Nacktmulle in freier Wildbahn sind so sehr mit Bakterien kontaminiert, dass selbst Kamele an einem Biss verenden.

© Kai-Uwe Heinrich

Kamele legen sich in kalten Nächten auf den noch warmen Wüstenboden. Weil sie auf der Seite schlafen, berühren ihre Höcker den Boden. Die Nacktmulle graben auf der Suche nach Wurzeln mit ihren Zähnen Tunnel in Richtung Erdoberfläche und beißen, oben angekommen, in die Kamelhöcker, ohne dass die Tiere es rechtzeitig merken. Das Problem: An den Zähnen der Nacktmulle sammeln sich zahllose Bakterien. Die Kamele sterben an tödlichen Infektionen und Blutvergiftungen.

Ihre Zähne ruhen auf seinem Zeigefinger

„Das ist schon eine kuriose Story“, sagt Hildebrandt. Wieder kniet er auf den Fliesen seines Nacktmulllabors neben dem Tunnelsystem der Kolonie Harem. Bewegungslos liegt die Königin in seiner lockeren Faust. Queen Harem ist noch nicht richtig wach. Hildebrandt beobachtet aufmerksam, wie sie in seiner Hand langsam ein- und ausatmet, mit der anderen Hand streichelt er ihr zärtlich über Kopf und Rücken. Ihre Zähne ruhen auf seinem Zeigefinger.

Dann zuckt Queen Harem, öffnet die Augen. Hildebrandt setzt sie vorsichtig auf die Holzspäne in ihrem Bau. Nach wenigen Sekunden tapst die Königin los in einen der Gänge in Richtung Nest. The Queen is back.

An der Wand hängt der Nacktmullstammbaum

Eine „Narkose ist nichts Natürliches“, sagt Hildebrandt. „Wenn ich sie in dem Zustand in die Kolonie setze, denken die anderen, sie sei krank oder zeigt Schwäche.“ Und Schwäche ist in der Nacktmullmonarchie nicht akzeptabel. Die Königin würde angegriffen oder sogar getötet werden.

Hierarchie ist das wichtigste Gut in einer Nacktmullkolonie. Und alle müssen funktionieren, damit die Hierarchie, die Rangordnung stabil bleibt. Die Freiheit des Einzelnen wird unterdrückt. Was Menschen trotzdem von ihnen lernen können? „Eine kluge Nacktmullkönigin ist die halbe Miete“, sagt Hildebrandt. Bei den Nacktmullen sind nicht sie Stärksten an der Macht, sondern die Klügsten. Die, die Mehrheiten schaffen können, Intrigen spinnen, Konkurrenten ausschalten. Hildebrandt schaut auf den Nacktmull-Stammbaum, der an der Wand neben den Tieren klebt. Die erste Nacktmullkönigin, die er 2008 erhielt und die klügste sei, regiert noch heute.

Warum aber bringen sich Säugetiere, die jahrelang harmonisch zusammenleben, plötzlich gegenseitig um wie im Berliner Tierpark? Noch ist das weder beim Nacktmull noch beim Menschen vollständig erforscht.

Thomas B. Hildebrandt glaubt, dass es beim Machtkampf der Nacktmulle im Tierpark noch mehr Tote geben wird.
Thomas B. Hildebrandt glaubt, dass es beim Machtkampf der Nacktmulle im Tierpark noch mehr Tote geben wird.

© Kai-Uwe Heinrich

Doch es gibt Indizien für die Hintergründe eines blutigen Putschs wie im Tierpark. Bekannt ist, dass Vibrationen für Nacktmulle tödlich sein können, ausgelöst von einer benachbarten Baustelle zum Beispiel. Im Tierpark hatte man auch Sorge wegen der Erschütterungen durch die Hufe der Giraffen nebenan. Nur: Vor Weihnachten gab es in der Nähe keine Baustelle, und die Nacktmullbehausung im Tierpark steht auf Stoßdämpfern.

Ein Rätsel immerhin konnte nun gelöst werden. Ende Januar, also einen guten Monat nach dem Putsch, gebar ein anderes Nacktmullweibchen drei kleine Jungtiere. Die Mörderin ihrer Vorgängerin war gefunden. Sie muss noch zu deren Lebzeiten und unbemerkt von den Pflegern zur Nebenkönigin gereift sein. Der Hofstaat aber scheint die junge Monarchin nicht akzeptiert zu haben, er hat ihren Nachwuchs mittlerweile ebenfalls umgebracht.

Thomas Hildebrandt sagt: „Bei einer Krönung gibt es leider immer Tote. Ich wäre sehr überrascht, wenn nicht noch mehr Nacktmulle im Tierpark dabei umkommen.“

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