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Start einer Rakete des israelischen Abwehrsystems "Iron Dome".

© Reuters

Nahost-Konflikt: Alltag unter dem "Iron Dome"

15 Sekunden bleiben nach dem Alarm. Die Kinder der Familie Zolberg schlafen im Schutzraum. In Sderot ist nichts mehr so wie vorher. Luftschläge gegen Gaza, Raketen gegen Israel. Der Nahostkonflikt eskaliert einmal mehr. Jeden Tag heulen wieder die Sirenen.

An jedem Tag, wenn Itamar Zolberg durch den Garten auf die Straße tritt, sieht er das Loch in der Straße. Ein Loch, in den Teer gerissen, einen halben Meter lang, ein paar Zentimeter tief, von einer Quassam-Rakete. Sie wurde vor ein paar Wochen aus dem Gazastreifen auf Sderot abgeschossen, die 25 000-Einwohner-Stadt im Süden Israels, wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt.

Jeden Tag, wenn Itamar den Müll nach draußen bringt, läuft es ihm kalt den Rücken herunter. „Solche Löcher kann man überall in der Stadt sehen. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich vorbeifahre.“ Vor allem jetzt, wo wieder Krieg herrscht. Mehrere hundert Raketen sind aus dem Gazastreifen schon abgeschossen worden, während Israel den Landstreifen gleichzeitig mit Bomben aus der Luft attackiert, um die Stützpunkte der Hamas zu zerstören. Ruhe gibt es für Itamar und seine Familie in diesen Tagen nicht, sie flüchten sich immer wieder in den Schutzraum ihres Hauses oder in eines der Bunkerhäuschen auf den Straßen der Stadt.

Seit der Ermordung der drei Schüler vor einer Woche eskaliert die Lage im Land. Aus Rache sollen rechte jüdische Radikale einen arabischen Jungen in Jerusalem bei lebendigem Leib verbrannt haben. Es kam zu Protesten und Auseinandersetzungen zwischen arabischen Israelis und der Polizei, dann flogen die Raketen aus Gaza, die Bomben aus Israel. Nun steckt Israel mittendrin in der „Operation Protective Edge“, übersetzt „Operation Fels in der Brandung“, und selbst in Jerusalem und Tel Aviv ertönen mehrmals täglich die Sirenen.

Eine angespannte Stille liegt über der Stadt

Als Itamar an diesem Mittag den Müll nach draußen bringt, sind die Straßen verlassen. Eine angespannte Stille liegt über der Stadt. Ertönt der Alarm, bleiben den Menschen in Sderot 15 Sekunden, um vor den Quassam-Raketen der Hamas Schutz zu suchen. Es sind Raketen, die nur höchstens 17 Kilometer weit fliegen, aber eben weit genug für Sderot. Jede Wohnung hat hier einen Schutzraum, gut alle 200 Meter steht ein Bunkerhäuschen, neben Spielplätzen und an Bushaltestellen.

Die Menschen in Sderot bleiben in dieser Woche meist im Haus, nur wenige gehen noch zur Arbeit. So wie Itamar Zolberg, 30 Jahre alt und Vater von drei kleinen Kindern. Er ist Lehrer und hat ohnehin gerade Ferien. Zolberg steht in seinem Hausflur, als eine laute, aber ruhige Stimme aus den Lautsprechern von draußen tönt. „Zewa Adom“, sagt sie mehrmals, „Farbe Rot“. Fast wie eine Ansage im Kaufhaus klingt sie. „Wir haben hier keine Sirene wie im Rest des Landes, sondern diese Stimme“, sagt Itamar und schließt das Fenster.

Im Bunkerraum haben sie das Kinderzimmer eingerichtet

Zolberg, seine Frau und seine Schwägerin schauen sich an. „Dann mal in den Schutzraum.“ Die drei eilen zu einem Raum am Ende der Wohnung. Itamar Zolberg ist ein Mann mit freundlichem Gesicht, er trägt Hemd und Kippa, seine Frau Naomi Kopftuch und ein schwarzes Kleid mit langen Ärmeln, das bis über die Knie geht. Die Familie ist jüdisch orthodox. Im Bunkerraum haben die Zolbergs das Kinderzimmer eingerichtet, es ist so klein, dass eines der Betten tagsüber nur zusammengeklappt hineinpasst. „Aber es ist so viel praktischer. Die Kinder können so nachts durchschlafen, wenn der Alarm losgeht. Nur wir müssen aufstehen“, sagt Naomi. In dem kleinen Bücherregal neben dem Bett steht ein Buch mit dem Titel „Zewa Adom“ – Farbe Rot. Wörter, die bei den Kindern oft Angst und Schrecken auslösen. „Es ist ein Buch, das erklärt, dass die Farbe Rot nicht böse ist, sondern gut, weil sie uns ja rettet und uns sagt, wann die Gefahr kommt“, sagt der Vater.

Täglich schlagen Raketen ein. Warum wohnt hier jemand?

Die Familie hat eine gewisse Routine mit der ständigen Bedrohung entwickelt. „Wir versuchen, das so ruhig wie möglich zu machen, auch wenn die Kinder da sind“, sagt seine Frau Naomi, 30 Jahre alt. Die sechsjährige Roni und der dreijährige Herya sind an diesem Vormittag im Kindergarten, Shoam, das zehn Monate alte Töchterchen bei einer Babysitterin.

Die drei Erwachsenen stehen zwischen den Spielsachen, schauen sich still an, einige Sekunden lang. Dann ist ein dumpfer Knall in der Ferne zu hören. „Das war’s“, sagt Itamar Zolberg. Das israelische Abwehrsystem „Iron Dome“ hat die Rakete in der Luft abgefangen. Der Familienvater kann am Geräusch längst unterscheiden, ob die Rakete eingeschlagen hat, ob sie abgefangen wurde oder ob das Grollen aus Gaza kommt, wenn dort gerade eine Bombe gefallen ist.

Viele hier leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen

„Ich bin natürlich überhaupt nicht ruhig, mein ganzer Körper ist angespannt“, sagt die Mutter. Viele Menschen in Sderot leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen. Naomi Zolberg war bereits in therapeutischer Behandlung. „Das Wichtigste ist, dass wir viel darüber sprechen“, sagt Naomi. Ihr Mann schnappt sich seine Autoschlüssel, er muss die Kinder abholen. Das Gebäude ist nur einen Kilometer entfernt, und in normalen Zeiten würde Itamar laufen. „Das ist uns jetzt zu gefährlich.“

Relative Sicherheit. Warten im Bunker ist wieder Alltag in Ashkelon und Sderot. "Farbe Rot" lautet die Parole, wenn ein Raketeneinschlag droht. Manche Kinder haben deshalb Angst vor der Farbe.
Relative Sicherheit. Warten im Bunker ist wieder Alltag in Ashkelon und Sderot. "Farbe Rot" lautet die Parole, wenn ein Raketeneinschlag droht. Manche Kinder haben deshalb Angst vor der Farbe.

© Reuters

Vor dem Haus der Kita ist es ruhig, ein paar Spielsachen liegen im Vorgarten, ein Dreirad, Schaufeln, ein Bagger. Im Haus: lautes Kindergeschrei. „Papa, Papa, hast du Zewa Adom gehört? Wir waren draußen und sind dann sofort reingerannt, und dann waren wir schon im Bunker“, ruft Roni und springt ihrem Vater in die Arme. Das Haus ist neu, komplett raketensicher, ein einziger großer Schutzraum. „Die Kinder wissen so was schon“, sagt Zolberg. Als er vor zwölf Jahren mit seiner Frau nach Sderot gezogen ist, hatte er nicht geglaubt, dass seine Kinder das gleich nach dem Laufen lernen würden. Auch nicht, dass sie aufgeregter und angespannter sein werden als die Kinder in friedlicheren Städten. Seine Tochter hat nun Angst, alleine zu duschen, weil sie am Vortag gleich zwei Mal mit Shampoo in den Augen in den Schutzraum musste.

"Es ist ein wirklich schöner Ort"

„Wir sind nach Sderot gekommen, weil es ansonsten ein wirklich schöner Ort ist“, sagt Itamar Zolberg. Gut 70 Kilometer südlich von Tel Aviv entfernt, ruhig und ländlich. Er bekam hier einen Job als Lehrer. Heute lehrt er an einer Schule in Ashkelon, nordwestlich von Sderot, mit seinen Schülern hält er nun per Whatsapp Kontakt, sie schreiben, dass alles „okay“ sei.

Itamar und Naomi Zolberg kamen im Jahr 2001 während der zweiten Intifada. „Damals war es in Sderot ruhig, im Gegensatz zum Rest des Landes.“ Jetzt umzuziehen mache doch auch keinen Sinn, an der Nordgrenze Israels sei die Hisbollah eine Gefahr, und selbst in Tel Aviv und Jerusalem seien jetzt die Bunker geöffnet. „Ich bin während der Angriffe lieber in Sderot, hier hat wenigstens jedes Haus einen Schutzraum.“ Um sich und die Kinder abzulenken, wollen die Eltern am Nachmittag in ein Schwimmbad in einer Siedlung im Westjordanland fahren.

Wieder fliegt eine Rakete dicht über das Haus der Zolbergs hinweg, unheimlich laut. Sie fliegt viel tiefer als ein Flugzeug, hinterlässt einen weißen Streifen am Himmel und schlägt dann wenige Kilometer entfernt neben dem Bahnhof auf einem Feld ein. Züge halten in der Station schon seit dem Vortag nicht mehr.

Chips essen und Krieg schauen. Alltag unterm "Iron Dome"

Am Nachmittag beginnt Nir Hason, gut zwei Kilometer entfernt, seine Arbeit in der Jugendgruppe. Eigentlich steckt der 27-Jährige mitten in der Prüfungszeit, er studiert an einer Hochschule in Ashkelon. Doch da auch diese Stadt nordwestlich von Sderot unter Raketenbeschuss steht, wurden die Prüfungen verschoben. „Gar nicht so schlecht, da bleibt mir mehr Zeit zum Lernen“, sagt Nir zynisch, als er hastig durch das Jugendhaus im Zentrum der Stadt läuft. Auch dieses Haus ist ein Schutzraum, neu, modern und farbig gestaltet, mit Computerplätzen, Sofas und einem Kickertisch. Nir gehört zu einer jüdischen, multikulturellen Jugendgruppe, die in Sderot Konzerte und Jugendprojekte organisiert. Zumindest an ruhigeren Tagen, an denen keine Raketen auf Sderot hageln.

Heute wollen Nir und ein paar andere Freiwillige die Bunker in den verschiedenen Stadtvierteln mit dem Nötigsten beliefern: Plastikbecher, Seife, Klopapier, Putzmittel und Mülleimer. „Das kann langweilig werden“, sagt Nir. Er trägt kurze Hosen, Turnschuhe und eine Kippa, wohnt seit sieben Jahren in Sderot. Zuvor lebte er mit seinen Eltern an der Grenze zum Libanon, Raketenangriffe gehörten auch hier zum Alltag. Und weil derzeit niemand weiß, wie lange der Beschuss noch anhält, treffen sich die Jugendlichen der Stadt jetzt eben in den städtischen Bunkern. Viele liegen unter der Erde, sie müffeln feucht und modrig.

Die jungen Männer haben Chips und Getränke mitgebracht

Die Jugendlichen tragen Dutzende Kisten in sein kleines, silberfarbenes Auto, als ein drittes Mal an diesem Tag der Alarm losgeht. Einige laufen ins Haus, andere stehen da, die Arme verschränkt, dann der Knall, weiter geht es. Nir steigt in sein Auto. Am Ende der Tour fährt der Junge Mann zu seinem Aussichtspunkt im Kibbuz gleich neben Sderot, ganz nahe am Gazastreifen gelegen. „Hier verbringe ich mit Freunden oft den Abend, wir blicken über Gaza, schauen uns den Sonnenuntergang an.“

An seinem Aussichtspunkt ist er nicht alleine, wie er vermutet hatte. Ein paar junge Männer sind gegen halb acht hierhergekommen, kurz vor Sonnenuntergang, die Sonne steht tief über dem Gazastreifen. Von hier aus blicken sie auf die Raketen, die von dort abgefeuert werden. Sie sehen die Rauchwolken, wenn wieder eine Hamas-Stellung bombardiert wurde. Ein durchgehend leises Summen liegt in der Luft. Es sind die Drohnen die über dem Gazastreifen kreisen. Die jungen Männer haben ein Fernglas mitgebracht sowie Chips, Nüsse und ein paar kühle Getränke.

Für eine längere Pause ist es heute zu gefährlich, auch, weil Scharfschützen aus dem Gazastreifen bis hierher zielen könnten. Als Nir den holprigen Feldweg entlang fährt, tönt aus Sderot noch einmal der Alarm. Nir bremst, löst schnell den Gurt. „Wir müssen raus!“ Er rennt einige Meter hinter das Auto, legt er sich flach auf den Boden, das Gesicht im Staub, und hält seine Hände schützend über dem Kopf. Dann – noch einmal – der befreiende Knall. Er klopft sich den Staub von der Hose, steigt wieder in das Auto und fährt weiter, als ob nichts passiert wäre. Alles eine Frage der Gewöhnung, sagt er, aber dennoch: „Jedes Mal, wenn ich den Alarm höre, fängt mein Herz an zu rasen.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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