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Straßenreinigung. „Er ist rassistisch, nationalistisch und antisemitisch“, sagen die Demonstranten über Marius Radtke. Seine Praxis im Kiez wollen sie nicht länger hinnehmen, rufen zum Boykott auf.

© Georg Moritz

Protest der AfD-Gegner: Kampf gegen rechts: Die Intoleranz der Toleranten

"Marius Radtke raus aus Weißensee", brüllen die Demonstranten. Jetzt merkt der Zahnarzt, was es heißt, zur AfD zu stehen.

Auf dem Fensterbrett liegt ein Gebiss. Gestern hat der Mann, der hinter dem Fenster steht, hier zehn Patienten versorgt, Füllungen und Kronen, der älteste war 77, die jüngste fünf Jahre alt.

Heute hat der Mann keine Patienten. Heute kümmert er sich um das, was sonst liegen bleibt. Gerade hat er den Wohngeldantrag einer Mitarbeiterin ausgefüllt, da ist es laut geworden, und der Mann zum Fenster gegangen. Unten auf der Straße drängen sich die Menschen. Einige tragen Transparente, andere haben Sonnenbrillen im Haar. Es ist ein warmer Tag. Einer hat ein Kind auf den Schultern.

Der Mann späht durch die Vorhänge. Die Polizisten haben ihn gewarnt. Er solle besser nicht zu dicht an die Scheibe treten.

Die Menschen vor dem Haus rufen einen Namen.

„Marius Radtke.“

„Radtke.“

„Radtke.“

„Radtke.“

Der Mann hinter dem Fenster schaut starr geradeaus

Dem Mann zittern jetzt ein bisschen die Hände. Seine Frau ist zu Hause. Sie passt auf den Enkel auf. Als der Mann ging, haben die beiden gerade Blumen gegossen. Wenn er nach Hause kommt, will er mit dem Kind noch Bücher anschauen.

Unten beginnt nun einer zu reden. Er erwähnt noch einmal den Namen. Marius Radtke. Dann sagt er, dass Radtkes Praxis weg müsse. Und dass sie so lange demonstrieren würden, bis dieses Ziel erreicht sei.

Die Menschen jubeln, sie beginnen zu skandieren: „Marius Radtke raus aus Weißensee. Keinen Raum der AfD.“

Der Mann hinter dem Fenster schaut starr geradeaus.

Feindbild im Kiez. Marius Radtke, 65 Jahre alt, ist seit 41 Jahren Zahnarzt und seit vier Jahren in der AfD.
Feindbild im Kiez. Marius Radtke, 65 Jahre alt, ist seit 41 Jahren Zahnarzt und seit vier Jahren in der AfD.

© Georg Moritz

Marius Radtke, 65 Jahre alt, ist seit 41 Jahren Zahnarzt und seit vier Jahren in der AfD. Der Partei, die auch die politische Heimat Björn Höckes ist. Deren Ex-Bundestagskandidatin Elena Roon ein Hitler-Bild in einer Whatsapp-Gruppe teilte. Deren sachsen-anhaltinischer Landtagsvorsitzender linke Studenten eine „Wucherung am deutschen Volkskörper“ nannte.

Die Frage, wie man mit dieser Partei umgeht, die immer wieder menschenverachtende Positionen verbreitet, pflügt die deutsche Gesellschaft um. Man müsse den Kampf gegen den Rechtspopulismus aufnehmen, heißt es.

Wie weit darf der Kampf gehen?

Aber wie weit darf dieser Kampf gehen?

Seine Zahnarztpraxis in Berlin-Weißensee bezeichnet Marius Radtke als zweites Zuhause. Seine Frau, eine Ungarin und Kieferorthopädin, arbeitet auch hier. Wenn Kinder kommen, lässt Radtke sie oft erst einmal mit dem Sauger spielen. „Als Zahnarzt beschäftigt man sich tagtäglich mit Feindbildabbau“, sagt er an einem Freitagnachmittag, der letzte Patient ist gerade gegangen. „Ängstliche Erwachsene sind die schlecht behandelten Kinder von früher.“

Nun ist Radtke ausgerechnet in der Partei, die viele für den Aufbau von Feindbilder und Ängsten verantwortlich machen. 2013 trat Radtke der AfD bei, Mitgliedsnummer 13206, 2015 wurde er Bezirkssprecher, 2016 Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung.

Es sind nicht hauptsächlich die Menschen vor der Tür des Zahnarztes, die der Demokratie schaden, sondern die Gleichgültigkeit der Landespolitik.

schreibt NutzerIn epaminaidos

Seit seinem Aufstieg in der Partei wird Radtkes Name immer häufiger auf antifaschistischen Internetseiten genannt. Im vergangenen Sommer dann bekommt Radtke von einem Patienten einen Flyer zugesteckt, den dieser in seinem Briefkasten gefunden hatte. „Ich dachte, das sollten Sie wissen“, sagt der Mann. Der Flyer ruft dazu auf, Radtkes Praxis in Zukunft zu meiden. Der Grund: Radtke ist in der AfD.

Kurz darauf erhalten Zahnärzte aus der Umgebung Briefe, in denen sie dazu angehalten werden, Radtke keine Patienten mehr zu überweisen: „Wer möchte seine Mitmenschen schon offenem Rassismus ausliefern?“ Im Frühsommer 2016 findet die erste kleine Demonstration vor Radtkes Praxis statt. „Eine Offenlegung der Aktivitäten und Ansichten von einzelnen Mitgliedern der Partei kann Probleme, Stress und sogar berufliche Konsequenzen für sie nach sich ziehen“, kommentieren linke Aktivisten die Demo im Internet. Im Februar 2017 gibt Radtke seine Direktkandidatur für den Bundestag bekannt. Kurz darauf werden warnende Flyer in Radtkes Wohnumfeld verteilt. „Nazis und Rassist*innen dürfen sich nicht in ihrer Nachbarschaft wohlfühlen“, heißt es dazu im Internet. Es folgt die Demonstration, auf der ein Mann unter Beifall fordert, dass Radtke aus Weißensee verschwinden soll. An ihr nehmen Hunderte von Menschen teil.

Zu den Organisatoren zählt das „Nationalismus ist keine Alternative“-Bündnis mit seiner Kampagne „Keinen Raum der AfD“. Die Sprecherin sagt dem Tagesspiegel: „Marius Radtke hat sich mit seiner Mitgliedschaft in der AfD eindeutig rechts positioniert. Das werden wir nicht hinnehmen.“ Früher sei Radtke im rechtspopulistischen Bund Freier Bürger gewesen, habe mindestens einmal an einem Treffen mit Horst Mahler teilgenommen und gegen das Holocaust-Mahnmal protestiert. „Ganz offensichtlich ist er genau wie Björn Höcke rassistisch, nationalistisch und antisemitisch.“

Es nervt ihn, immer in die Defensive zu kommen

Marius Radtke stammt aus der ehemaligen DDR. Wenn man mit ihm redet, klingt es, als sähe er in der EU einen Wiedergänger der UdSSR: Ein zentralistisches System, das versucht gleichzumachen, was nicht gleich ist. Die deutsche Flüchtlingspolitik kritisiert er als chaotisch und verlogen. „Es geht mir nicht darum, Menschen in Not die Hilfe zu verweigern, sondern ich finde, man sollte lieber Fluchtursachen bekämpfen, als unserem Land etwas aufzubürden, was wir nicht leisten können.“

Spricht man Radtke auf die Kritik der Demonstranten vor seiner Praxis an, sagt er, dass er es leid sei, immer in die Defensive zu kommen. Der Bund Freier Bürger sei vor allem gegen den Euro gewesen, und Mahlers Vortrag habe er aus Neugier besucht, sein Fazit: „Der redet abstruses Zeug.“ Radtke sagt, er sei weder nationalistisch noch rassistisch. „Mir geht es nur um ein positives Nationalbewusstsein der Deutschen.“ Den Holocaust bezeichnet er als Gräueltat, Hitler nennt er einen Verbrecher und Björn Höckes Forderung nach einer 180-Gradwende der Erinnerungskultur kritisiert er als „völlig inakzeptabel“. Radtke zeigt sich also moderat. Einerseits. Andererseits sagt er, dass nicht nur Hitler, sondern auch Stalin ein Verbrecher gewesen sei, Horst Mahler trotz allem hochintelligent sei und es Äußerungen Björn Höckes gebe, die er unkritisch sehe.

Auch Flüchtlinge und Migranten sind seine Patienten

Feindbild im Kiez. Marius Radtke, 65 Jahre alt, ist seit 41 Jahren Zahnarzt und seit vier Jahren in der AfD.
Feindbild im Kiez. Marius Radtke, 65 Jahre alt, ist seit 41 Jahren Zahnarzt und seit vier Jahren in der AfD.

© Georg Moritz

So befremdlich solche Aussagen auch erscheinen: Eigentlich sind sie ziemlich logisch. Radtke ist Mitglied einer Partei, die vielen Reaktionären eine politische Heimat bietet. Die deutsche Schuld können sie nur schwer aushalten. Und das sicherlich nicht nur, weil es ihnen so sehr um die Opfer der Nazis leidtut, sondern auch weil sie sich selbst als Opfer fühlen: Sie wollen so dringend stolz sein auf ihr Land. Doch ist die Tatsache, dass einer unsympathische Positionen vertritt, Grund genug, seine wirtschaftliche Existenz vernichten zu wollen? Ist es gerechtfertigt, dass man vor der Zahnarztpraxis eines Menschen gegen seine politischen Ansichten protestiert?

Die Antwort lautet ja - falls der Zahnarzt Radtke jemals einen Menschen, der zu ihm kam, aus rassistischen Motiven abgelehnt hätte. Dann wären die Demonstrationen vor seiner Praxis sogar notwendig gewesen. Doch Radtke sagt, dass er das nie getan habe. Im Gegenteil: Unter seinen Patienten seien Flüchtlinge, und er habe auch schon Migranten ohne Versicherung behandelt.

Seine Gegner geben zu, dass ihnen keine anderen Erkenntnisse vorlägen. Am Protest gegen Radtke wollen sie trotzdem festhalten. „Wir werden auch in Zukunft alle Menschen im Umfeld der Praxis über seine Tätigkeiten aufmerksam machen.“ Erst wenn er seine Haltung überdenke, würden sie auch ihre Aktionen überdenken. „Was Radtke gerade erlebt, ist eine Konsequenz, die er selbst zu verantworten hat. Er hat sich seine Positionen ja ausgesucht.“ Im Übrigen sei Radtke keineswegs der einzige Politiker, gegen den sie vorgehen wollten. „Die bisherigen Demonstrationen sind beispielhaft, weitere Aktionen werden folgen.“

Die Linke radikalisiert sich

Der Berliner Parteienforscher Oskar Niedermayer beobachtet diese Tendenz zur Radikalisierung schon seit einiger Zeit auf linker Seite. Im Kampf gegen die AfD würden politische und private Grenzen immer häufiger verschwimmen. „Es gibt gute Gründe, gegen die AfD zu sein, aber man muss ihnen inhaltlich begegnen.“ Argument, Gegenargument, so gehe politischer Diskurs. „Doch gerade diejenigen, die für Toleranz eintreten, werden intolerant.“

Schon vor Jahren bemerkte der Extremismusforscher Günter Hole, dass es Menschen schwerfällt, die richtige Erwiderung auf extreme Positionen zu finden. Auch auf der Gegenseite drohe, so schrieb der Psychiater, der „Sog der idealistischen Verabsolutierung“. Der Psychoanalytiker Thomas Auchter warnt bei aller Notwendigkeit von Protesten gegen Fremdenfeindlichkeit vor Dualismus: „Wer primitive Parolen wie ,Nazis raus benutzt, stellt sich auf dieselbe unreflektierte Stufe wie jene, die man zu bekämpfen vorgibt."

AfD-Gegner stürmen den Hörsaal

8. November, 9 Uhr, Hörsaal 2014 an der Humboldt-Universität, die Anglistik-Erstsemestler sitzen im Seminar „Einführung in die Linguistik“. Es geht um die Binnenstruktur von Wörtern, da wird die Tür aufgerissen. Fünf Personen stürmen hinein, Masken verdecken ihre Gesichter. Sie brüllen. Der Grund ist später im Internet zu lesen: Der Seminarleiter Markus Egg ist in der AfD.

Egg, 53 Jahre alt, Sprachwissenschaftler. Seit 2009 lehrt er an der Humboldt-Universität. Sein besonderes Interesse gilt Diskurspartikeln wie „halt“ und „eben“. Über solche Wörter, die andere benutzen, ohne eine Sekunde nachzudenken, könnte Egg abendfüllende Vorträge halten. So hat er herausgefunden, dass Briten sich mit ihrer Verwendung schwertun, Menschen aus afrikanischen Ländern sie dagegen fast intuitiv begreifen. „Diskurspartikel“, sagt Egg, „sind enorm wichtig für die geschmeidige Kommunikation. Erst wenn man sie beherrscht, wirkt man wie ein Muttersprachler.“

Der Professor forscht außerdem zu Sprachbedeutung und Diskurs. Er untersucht, wie Argumentationen aufgebaut sind. Diese Prägung ist auch deutlich, wenn er über ein fachfremdes Thema wie Europa spricht. Egg sagt, es habe ihm missfallen, dass Kritiker der EU-Politik behandelt worden seien, als hätten sie sich am europäischen Gedanken selbst versündigt. Auch der Begriff der Solidarität sei in Zeiten der Eurokrise missbraucht worden: Schließlich sei all das Geld nicht notleidenden Menschen, sondern Banken zugutegekommen. Das sind Gedanken, wie man sie auch von profilierten Linken wie Wolfgang Streeck kennt, und man könnte über sie trefflich streiten, aber die Vermummten kamen nicht, weil sie diskutieren wollten. Sie machten Lärm und übergossen den Seminarleiter mit Wasser.

Von seinem Bürofenster aus kann Markus Egg die Neue Wache sehen. Dort wehen eine Deutschland- und eine Europafahne. Egg bevorzugt die Deutschlandfahne, weil er findet, dass Nationalstaaten die nötige Voraussetzung für Kooperationsbereitschaft sind. Das wiederum ist ein Gedanke, den man von Konservativen kennt, man hört von Markus Egg also sowohl linke als auch konservative Töne, aber nichts, das nach Björn Höcke klingt. Egg hätte Höcke und einige andere am liebsten gar nicht in seiner Partei. „Aber soll ich deshalb gehen und ihnen die AfD überlassen?“

Mitarbeiter von "Kiez und Kneipe" wurden bedroht

Egg ist ehrenamtlicher Mentor für Arbeiterkind, einer Organisation, die sozial benachteiligte Menschen ermutigen will zu studieren. Zumindest hat Egg sich da bislang engagiert. Im Internet wurde vor Kurzem dazu aufgerufen, bei Arbeiterkind „mal nachzufragen, ob sie AfDler als Mentoren (...) wirklich so knorke finden“. Eggs Lehrveranstaltungen mussten zuletzt in Anwesenheit von Wachschützern stattfinden.

Im vergangenen Jahr hängte der Wirt eines Berliners Restaurant ein Schild in die Tür, das AfDlern den Zutritt verbot. Ein SPD-Politiker rief zum Boykott einer brandenburgischen Gaststätte auf, nachdem dort ein AfD-Stammtisch stattgefunden hatte. Und gerade wurden Mitarbeiter des Neuköllner Lokalblatts „Kiez und Kneipe“ bedroht, weil sie den AfD-Politiker Andreas Wild zu einer öffentlichen Diskussion eingeladen hatten. „Jetzt benehmen sich die Antifaschisten wie Faschisten“, sagte der Chefredakteur dem Tagesspiegel.

Doch woher dieser Furor?

Doch woher dieser Furor? Der Psychoanalytiker Martin Altmeyer weist darauf hin, dass es in Deutschland einerseits einen historisch bedingten und durchaus berechtigten Widerwillen gegenüber rechten Strömungen gebe, andererseits aber ein psychologisches Phänomen existiere, das er als „moralischen Narzissmus“ bezeichnet. „Identitäre Bewegungen finden sich auch auf linker Seite und für ihr Selbstwertgefühl ist es wichtig, sich als Widerstandskämpfer gegen rechts zu inszenieren.“

In Weißensee skandieren die Menschen ein letztes Mal.

„Marius Radtke raus aus Weißensee. Kein Raum für die AfD.“

Dann wird es ruhig. Radtke verlässt seinen Platz hinter dem Fenster erst, als ein Polizist an der Tür klingelt und Entwarnung gibt.

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