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Demonstranten in Hongkong

© Reuters/Thomas Peter

Protestierende und Unterstützer in Hongkong: „Ich bin nicht sicher, wie lange wir durchhalten können“

Demonstranten aus Hongkong und ihre Unterstützer haben uns per Skype und Whatsapp erzählt, wie sie die anhaltenden Proteste persönlich erleben.

Masken und ein britischer Pass

Alice, 30, arbeitet in der Medienbranche (aufgezeichnet nach einem Skype-Interview)

Neulich sah ich unter den Demonstranten eine Gruppe alter Damen, richtige Großmütter mit grauen Haaren, sie waren bestimmt älter als 70. Auch sie hatten sich Schwimmbrillen und Masken aufgesetzt. Die Szene hat mich berührt. Zu sehen, dass auch sie sich für ein besseres Hongkong einsetzen. An einem anderen Tag traf ich einen jüngeren Kollegen, der in den Frontreihen mitmarschiert. Ich lud ihn zum Mittagessen ein. Er verabschiedete sich mit den Worten: „Ich hoffe, ich werde nicht verhaftet.“ Das ist nicht unwahrscheinlich, Hunderte Menschen sind bereits festgenommen worden.

Ich bin eine eher rational handelnde Person. Aber wenn man bei den Protesten dabei ist, dann ist alles plötzlich emotionaler. Ich habe auch vor fünf Jahren bei den Regenschirm-Protesten demonstriert und anschließend war ich so enttäuscht. Meiner Meinung nach haben wir damals nichts erreicht. Wir waren uns nicht sicher, ob wir noch einmal so eine Chance bekommen würden.

Die aktuellen Proteste sind so weit fortgeschritten – wir können nicht mehr zurück. Es geht nicht mehr nur um unsere Forderungen, sondern um generelle Unterschiede zwischen Hongkong und China. Hongkong zeigt, wie ein demokratischer Staat sich gegen China auflehnen kann. Ich bin zuversichtlich, dass die internationale Gemeinschaft uns unterstützen wird. Das alles ist nicht mehr nur Hongkongs Angelegenheit, sondern es geht auch darum, wie die Welt mit Chinas totalitärem Stil umgehen will. Falls alles schiefgeht, werde ich Hongkong verlassen. Ich habe einen britischen Pass und könnte nach Großbritannien ziehen. Viele meiner Freunde überlegen, nach Japan oder Taiwan auszuwandern.

Wer demonstrieren geht, rüstet sich aus.
Wer demonstrieren geht, rüstet sich aus.

© Kim Hong-Ji/Reuters

Mittlerweile sind wir hier alle erfahrene Protestler, keiner gerät mehr in Panik, wenn die Polizei Tränengas einsetzt. Mit Freunden bin ich kürzlich nach Japan und Taiwan geflogen. Dort haben wir Masken mit guten Filtern gekauft, die sind in Hongkong schwer zu bekommen. Wir haben so viele besorgt, wie wir konnten, und sie nach Hongkong geschmuggelt. Vor Panzern habe ich keine Angst, denn die kann man sehen. Meine Sorge gilt den unsichtbaren Gefahren. Es gibt ein Gerücht, dass Polizisten aus China die Demonstranten unterwandern und als Protestierende verkleidet einen Hongkonger Polizisten töten könnten.

Gummimunition und Kochsalz

Kevin (Name geändert), 28, Buchhalter (aufgezeichnet nach einem Whatsapp-Chat)

Diese Proteste sind anders als jene vor fünf Jahren. Es gibt keine offiziellen Organisatoren, alles wird von ganz normalen Bürgern geplant. Ich bin mit einer Gruppe von Leuten an der Frontlinie aktiv. Wir helfen, Straßensperren zu errichten, und leisten Erste Hilfe, wenn Menschen verletzt werden.

Seit Mitte Juli benutzt die Polizei immer häufiger Tränengas, zwei bis drei unterschiedliche Sorten, deren Verfallsdatum allerdings abgelaufen ist. Wir wissen nicht, ob das in der Wirkung einen Unterschied macht. Ganz am Anfang haben wir einfach Wasser benutzt, um die Augen, Gesichter oder Arme der Demonstranten zu reinigen. Doch seitdem dieses abgelaufene Tränengas benutzt wird, klagen die Leute über stärkere Schmerzen.

Seit Mitte Juli feuert die Polizei die Tränengaskanister auch direkt auf die Körper der Demonstranten, der Ersthelfer und auch der anwesenden Journalisten. Außerdem verwenden sie nun immer häufiger Gummigeschosse. Die Verletzungen, die dadurch entstehen, können nur schwer auf der Straße behandelt werden. Die Leute müssen sofort in ein Krankenhaus. Unsere Ausrüstung und alles, was wir für die Erste Hilfe benötigen, bezahlen wir selbst. Am häufigsten brauchen wir Wasser und Kochsalzlösung. Für alle ganz vorne wären nun wohl auch schusssichere Westen nicht schlecht. Ob ich Angst habe? Klar, ich stehe in der ersten Reihe und es wird mit Gummimunition auf uns geschossen. Um chinesische Panzer mache ich mir keine Gedanken, ich sorge mich eher, ob Wasserwerfer eingesetzt werden. Denn wir wissen nicht, welchen Schaden die anrichten können.

Alles in allem ist die Situation recht hoffnungslos, es fühlt sich an, als ob niemand auf internationaler Ebene uns helfen kann. Ich bin nicht sicher, wie lange wir durchhalten können. Vielleicht noch diesen Winter? Ein Erlebnis der letzten Wochen hat mich besonders traurig und wütend gemacht: Eine junge Krankenschwester wurde von der Polizei mit einem Schrotball beschossen und hat ihr rechtes Auge verloren. Warum macht man so etwas? Schon seit 2014 identifizieren sich die meisten Menschen unter 30 nicht mehr als Chinesen, sondern als Hongkonger. Das wird sich noch verstärken.

Solidarität mit einer jungen Krankenschwester, die während der Proteste ein Auge verlor.
Solidarität mit einer jungen Krankenschwester, die während der Proteste ein Auge verlor.

© Isaac Lawrence/AFP

Alleingelassen in Berlin

Alice, 24, Künstlerin (aufgezeichnet nach einem Interview bei einer Demonstration in Berlin)

Während der Regenschirm-Proteste 2014 wurde ich schwer verletzt. Polizisten attackierten mich, drückten mich mit Gewalt auf den Boden. Die Szene gibt es sogar auf Video, ein Kameramann eines Fernsehsenders hat alles gefilmt. Ich hatte Verletzungen am Rücken, vor allem im Nacken, wo Wirbel ausgerenkt waren. Mit Hilfe einiger freiwilliger Anwälte konnte ich Schmerzensgeld bekommen. Das nahm ich und kam nach Berlin. Hier habe ich Mitte Juni die erste Demonstration am Brandenburger Tor organisiert. Die Menschen sollen wissen, was in Hongkong passiert. Während die Regenschirm-Bewegung noch friedlich verlief, waren die Demonstrationen jetzt zum Teil sehr gewalttätig. Die Hongkonger Polizei geht brutal gegen die Demonstranten vor.

Es gibt unter den Protestlern zwei Gruppen: die friedlichen, rationalen, nicht-gewaltbereiten und die Aktivisten an der Front. Während die beiden Gruppen 2014 noch gegeneinander aktiv waren, nähern sie sich nun an, was gut ist. Denn aus der Vergangenheit haben wir gelernt, dass es alles nur schlimmer macht, wenn man nicht vereint steht. Wie wichtig das ist, zeigt sich auch während der Protestmärsche: Weil es zu laut ist und Rufe nicht gehört werden, haben die Demonstranten eine eigene Zeichensprache entwickelt. Damit signalisieren diejenigen in den Frontreihen, was sie brauchen. Hände über dem Kopf heißt zum Beispiel: Helme! Die Hände vor der Brust, als hielten sie eine Flasche, bedeutet: Kochsalzlösung! Die Zeichen werden von den hinteren Reihen wiederholt und wandern wie eine Welle durch die Menge. Alles Benötigte wird dann nach vorne durchgereicht.

Wer in diesen Tagen in Hongkong sein Handy anschaltet, bekommt über Bluetooth automatisch Dateien, AirDrop-Files, gesendet, die Informationen über die Proteste enthalten. Von der deutschen Regierung fühlen wir Exil-Hongkonger uns etwas alleingelassen. Auf unsere Bitte um Hilfe bei den Parteien bekamen wir zunächst nur eine Antwort: Wir sind im Urlaub.

Das Beste aus zwei Welten

Tushar Chaudhuri, 45, Dozent der Hongkong Baptist University (aufgezeichnet nach einem Skype-Interview)

Momentan haben wir Semesterferien, ich weiß also nicht, wie viele meiner Studenten sich derzeit an den Protesten beteiligen. Natürlich bin ich in Sorge um sie. Vor zwei Wochen wurden zwei verhaftet. Ein junger Mann, weil er mehrere Laserpointer für Demonstrationen gekauft hatte. Ein weiterer, weil er gegen die Verhaftung des ersten demonstrierte. Beide wurden 48 Stunden festgehalten und sind nun zum Glück wieder frei. Plötzlich war der Protest sehr nah.

Ich lebe seit 14 Jahren in Hongkong und fühle sehr mit, selbst wenn ich nicht bei den Märschen dabei bin. Ich beobachte ja schon lange, wie der Hongkonger Sonderstatus abgebaut wird. Das kommt vor allem von der Regierung hier. Wie viel Einfluss Peking darauf nimmt, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls begann es lange vor dem Auslieferungsgesetz. Auch ist Hongkong in den vergangenen Jahren viel teurer geworden. Statt Sozialwohnungen wurden viele Luxuswohnungen gebaut, weil Chinesen gern eine Zweitwohnung hier haben wollen. Die Hongkonger sind zunehmend skeptisch, was das Konzept „Ein Land, zwei Systeme“ angeht.

Hongkong ist das Beste aus zwei Welten, westliche und asiatische Werte sind hier vereint. Das merkt man auch jetzt bei den Protesten. Dass die Menschen sich wehren, ihre Meinung sagen, erinnert mich sehr an Europa. Dazu kommen die asiatische Disziplin und Höflichkeit. Die Demonstranten haben sich etwa entschuldigt, dass sie den Flughafen blockiert haben. Studenten bitten um Verzeihung, dass sie am nächsten Tag nicht zur Vorlesung kommen werden. Das war auch bei der Regenschirm-Bewegung schon so. Da sagten mir einige: Wir kommen, aber Sie müssen bitte Verständnis haben, falls wir sehr müde sind oder verletzt. Die Studenten sind wirklich fest entschlossen. Nachdem es zwischenzeitlich Krawalle während der Demonstrationen gegeben hat, war es am Wochenende wieder friedlich. Hoffen wir, dass es so bleibt. Ich persönlich glaube nicht, dass China vor dem 1. Oktober, dem Nationalfeiertag, versuchen wird, den Protest gewaltsam niederzuschlagen. Das wäre zu peinlich.

Ein Demonstrant ist festgenommen.
Ein Demonstrant ist festgenommen.

© Issei Kato/Reuters

Provozierende Polizisten

Wong Yik Mo, 33, Aktivist der Civil Human Rights Front (aufgezeichnet nach einem Whatsapp-Chat)

Bei den Demonstrationen trage ich keinen Helm. Ich kann schnell rennen. Dabei ist es eigentlich nur gefährlicher geworden. Die Polizeigewalt ist eskaliert, viele Beamte sind undercover bei den Demonstrationen unterwegs und provozieren Ausschreitungen. Weil wir das nicht tolerieren wollen, sind am vergangenen Sonntag fast zwei Millionen Menschen friedlich durch Hongkong marschiert. Hongkong ist unsere Heimatstadt, wir sind dazu verpflichtet, sie zu schützen. Unabhängigkeit gehört nicht zu unseren Forderungen, das ist chinesische Propaganda, ein alter Trick. Wenn du mich nach einer Sorge fragst, dann ist die einzige, dass sich Menschen von der Bewegung abwenden könnten. Aber wir stehen vereint und wir wissen, wer dazugehört und wer ein Spion ist. Meine Vereinigung, die Civil Human Rights Front, organisiert Demonstrationen, Versammlungen und hilft jenen, die rechtliche Unterstützung brauchen. Kürzlich war ich sogar bei den Vereinten Nationen in Genf, um über die Situation in Hongkong zu sprechen.

Wir teilen keine Werte

Jerald (Name geändert), 31, Architekt (aufgezeichnet nach einem Skype-Interview)

Zu Beginn war ich etwas gleichgültig den Protesten gegenüber. Aber sofort nach dem 15. Juni, dem Tag, an dem sich ein junger Demonstrant das Leben nahm, war ich dabei. Jemand starb für diese Stadt! Das hat mich sehr bewegt. Und offenbar nicht nur mich. Nach dem Unglück hat sich die Zahl der Demonstranten verdoppelt. Es geht nicht um politische Vorteile, sondern um ein Menschenrecht: Freiheit. Meiner Meinung nach sind wir Hongkonger so anders als die Festland-Chinesen, wir teilen keine Werte mehr. Wir müssen kämpfen, bis wir gewinnen. Auswandern ist keine Lösung, der chinesische Einfluss ist überall, man kann ihm nicht entkommen.

Während der Proteste waren nun einige US-amerikanische Flaggen zu sehen. Mit den Vereinigten Staaten teilen wir die Liebe zur Demokratie und zu Menschenrechten – und einen Konflikt mit China. Im Handelsstreit ist China gerade sehr unter Druck. Die Flaggen waren ein SOS für die Welt und die USA. Wir kämpfen, als sei es unser letzter Kampf, wir geben alles.

Unser Motto ist: "Sei Wasser"

Koharu (Name geändert), 24, Bibliothekarin (aufgezeichnet nach einem Whatsapp-Chat)

Meine Eltern halten mich niemals davon ab, zu protestieren. Sie sind der Überzeugung, dass die jetzige Bewegung enorm wichtig ist für Hongkongs Zukunft. Vor fünf Jahren, während der Regenschirm-Proteste, bei denen ich als Studentin mit dabei war, dachten sie noch anders. Damals hatten sie kein Vertrauen, dass ich zum Beispiel in einer Gefahrensituation die richtige Entscheidung treffen würde. Meiner Meinung nach ist Wegrennen die effektivste "Verteidigung", denn wir Demonstranten haben keine Waffen und keine Kraft, gegen die Polizei anzukommen. Deswegen nehme ich immer nur die wichtigsten Sachen in meinem Rucksack mit: Maske, Helm, Sicherheitsbrille. Wenn ich nur eines davon mitnehmen dürfte, wäre es ganz sicher der Helm. Nicht nur, weil die Polizisten auf unsere Köpfe zielen, sondern auch, weil während der Proteste immer mal wieder Sachen von Dächern fallen. Am 12. Juni stand ich auf einer Brücke, als plötzlich die Polizei anfing, Jagd auf Demonstranten zu machen. Es passierte so schnell, alle schrien durcheinander und liefen weg. Ich war plötzlich in der ersten Reihe, die Polizisten nur drei, vier Schritte entfernt. Es war das erste Mal, dass ich ihnen so nah gegenüber stand, sie hätten mich verprügeln oder verhaften können. Wir alle rannten. Eine Frau fiel hin und verlor einen Zahn. Mein Freund ist Ersthelfer in den vorderen Reihen. Als die Polizei begann, Gummigeschosse zu benutzen und Schrotbälle, bettelte ich ihn an, er möge sich zurückziehen. Aber nach diesen vergangenen zwei Monaten, egal was passiert, bitte ich ihn nicht mehr darum. Ich weiß ja: Irgendwer muss da vorne stehen. Ich werde nie aufhören, für Frieden zu kämpfen - bis ich sterbe. Als ich im Ausland arbeitete, habe ich mich immer mit dem Zusatz "ich bin aus Hongkong und Hongkong ist nicht China" vorgestellt. Wenn das die Leute verwirrt hat, habe ich von Hongkongs Geschichte erzählt und erklärt, wo die Unterschiede liegen. Ich liebe Hongkong, ich würde niemals auswandern. Während der Regenschirm-Proteste haben wir versucht, eine bestimmte Gegend zu besetzen. Aber wir sind gescheitert. Unser Motto dieses Mal ist: "Sei Wasser". Ein Spruch von Bruce Lee. Wir versuchen flexibel zu bleiben, ein bisschen wie Guerilla.

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