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Bis heute ist Majak eine nukleartechnische Anlage.

© imago stock people

Radioaktive Abfälle: Leben mit dem Erbe der Kernwaffen

In der Majak-Fabrik ereignete sich der erste schwere Unfall in der Geschichte der Kernenergienutzung. Die Einwohner der Region kämpfen bis heute mit den Folgen.

Von Oliver Bilger

Gilani Dambajew hat ein Auto gekauft und Vorräte angelegt. Dutzende Wasserkanister hat der schmächtige Mann von seinem weinroten Kleinwagen in sein Backsteinhaus geschleppt. Dutzende Plastikflaschen stehen auf den Küchendielen, einige hundert Liter Trinkwasser. Bis vor zehn Jahren konnte Gilani Dambajew noch im Dorfladen einkaufen gehen.

Heute ist das Geschäft leer, die Fenster sind zugemauert, das Ladenschild über der Tür ist rostig. Von anderen Häusern sind nur Mauerreste geblieben. „Ruhig“ sei das Leben hier in Musljumowo, sagt Dambajew, hier in dieser noch jungen, 65 Kilometer nördlich der Millionenstadt Tscheljabinsk gelegenen Einöde östlich des Ural. Dambajew macht einen Witz: „Die Nachbarn sind in Ordnung“, sagt er.

Die Nachbarn sind weg. Dass sie aus Musljumowo verschwunden sind, liegt am sorglosen Umgang der Sowjetunion mit Atombombenzutaten und -abfällen. Es liegt am Flüsschen Tetscha, das das Dorf mit dem „Produktionsverbund Majak“ verbindet, einer alten Kernwaffenfabrik 70 Kilometer weiter westlich. Majak heißt Leuchtturm.

Im Herbst 1957 ereignete sich in Majak der erste schwere Unfall in der Geschichte der Kernenergienutzung. Das atomare Wettrüsten könnte nun, nach der Ankündigung Donald Trumps, ein seit 30 Jahren gültiges Abrüstungsabkommen aufzukündigen, in die Welt zurückkehren. Russlands Präsident Putin warnte gerade davor. Für Gilani Dambajew klang es vielleicht wie eine Drohung.

Keine Ahnung von Radioaktivität

Die Gefahr ist nicht zu sehen, zu hören oder zu riechen. Sie lässt sich messen. Wer am Ufer der Tetscha mit einem Geigerzähler steht, sieht die Zahlen auf dem Display in die Höhe jagen. Die Strahlung ist bis zu 60 Mal höher als der von russischen Gesundheitsbehörden als zulässig erachtete Wert. Wenige Stunden am Ufer entsprechen der Strahlendosis einer Röntgenaufnahme des Brustkorbes. Der Aufenthalt in Flussnähe ist deshalb verboten.

Die Gefahr in Gilani Dambajews Dorf ist nicht zu sehen. Sie lässt sich messen.
Die Gefahr in Gilani Dambajews Dorf ist nicht zu sehen. Sie lässt sich messen.

© Ekaterina Anokhina

Dambajew ist 63 Jahre alt, er kam vor mehr als drei Jahrzehnten aus Tschetschenien nach Musljumowo. Ein kleiner Herr mit Schnauzbart und akkurat zurückgekämmtem Haar, den Rücken stets gestreckt. Dambajew ist ausgebildeter Tänzer. Als Gastarbeiter baute er Häuser für Kolchosen in der Region, bis er sich am Ende eines Sommers entschied zu bleiben, weil das Leben am Ural „angenehmer“ gewesen sei als in seiner alten Heimat, sagt er. Von der Strahlung ahnte er nichts. „Wir hatten keine Ahnung, was Radioaktivität ist.“

Seinen seltenen Gästen serviert Dambajew Tee und Kekse. Im Kühlschrank wartet Borschtsch und Salo, salziger Rückenspeck. Ein paar Grußkarten und Familienfotos hängen an den Wänden im langgezogenen Raum, der Schlaf-, Ess- und Wohnzimmer zugleich ist. Dambajew lebt hier mit seiner Frau. Die fünf Kinder des Paares, der Jüngste ist 29 Jahre alt, leben in Tscheljabinsk.

Von seinem Haus ist es nicht weit bis ans Ufer der Tetscha. Dambajew muss nur einen kleinen Hang hinunterstapfen, wenige Minuten bloß, wo der Fluss gemächlich an Birken vorbeischiebt. Wenn es warm ist, schwirren Libellen über Seerosen und Algen. Wind streift durch das Schilf am Ufer.

Steigende Zahl von Krebserkrankungen

Im Frühjahr 1948 nahm der erste Majak-Reaktor den Betrieb auf, jahrelang wurden radioaktive Abfälle, überwiegend Caesium-137 und Strontium-90, in die Tetscha geleitet. Das Flüsschen, aus dem die Bewohner der Dörfer an seinen Ufern Trinkwasser bezogen. Menschen badeten im Fluss. In Musljumowo durchquerten Schüler an seichten Stellen das Wasser auf dem Weg zur Schule.

In vielen Siedlungen stieg die Zahl von Krebs- und Leukämieerkrankungen, Menschen bekamen Herz-Kreislauf-Probleme, litten unter der Strahlenkrankheit, Unfruchtbarkeit und Missbildungen. Die Behörden evakuierten Mitte der 50er Jahre mehrere Ortschaften, zerstörten Häuser, um eine Rückkehr zu verhindern. Musljumowo war eine Ausnahme, die Menschen blieben vorerst. Erst im Jahr 2007 begannen die Bewohner umzuziehen. Acht Familien leben noch immer in Musljumowo. Sie zogen nicht fort, weil sie auf höhere Entschädigungen hoffen, höher als die, die ihnen angeboten wurden.

Das Majak-Werk ist weiterhin in Betrieb, es dient der Aufbereitung nuklearer Abfälle und der Produktion von „Atomwaffenkomponenten“, wie es die Werksleitung formuliert. Rosatom, der staatliche Atomkonzern und Majak-Betreiber, erklärt, seit 1956 seien keine Abfälle mehr in die Tetscha geleitet worden. Umweltschützer bezweifeln dies.

Ende September 2017 bemerkten europäische Messstationen erhöhte Werte des radioaktiven Ruthenium-106. Die Spur führte in den Südural. Der russische Wetterdienst Roshydromet verzeichnete die höchste Konzentration in einem Dorf nicht weit entfernt von Majak und Musljumowo – 986 Mal über dem Wert, der in den Vormonaten dort gemessen wurde. Der Kreml gab sich unwissend. Rosatom ließ verlautbaren: Es habe „keinen Zwischenfall und keine Panne“ gegeben.

Eine Kommission untersucht den Fall

Die deutsche Bundesregierung schreibt in einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag von „einem Atomunfall der dritthöchsten Kategorie auf der internationalen Bewertungsskala INES“. Es müsse sich um einen „ernsten Atomunfall“ handeln – die INES-Skala weist die Störfälle im britischen Sellafield aus dem Jahr 1957 und von Three Mile Island in den USA 1979 in derselben Kategorie aus.

Moskau setzte eine Untersuchungskommission ein, unterstützt von Fachleuten aus Frankreich, Schweden, Finnland, Norwegen und zwei Experten aus dem deutschen Bundesamt für Strahlenschutz. Zwei Mal traf die Kommission in der russischen Hauptstadt zusammen.

Florian Gering war einer der Deutschen, die an den Sitzungen im Institut für Nuklearsicherheit der Russischen Akademie der Wissenschaften teilnahmen. Beim Bundesamt für Strahlenschutz leitet er das Fachgebiet Radiologisches Lagebild. „Die Kommission hat alle verfügbaren Daten gesichtet und bewertet“, sagt er. „Leider ist es trotzdem nicht möglich, den genauen Ort der Freisetzung zu benennen.“ Die russische Seite habe sich kooperativ gezeigt, doch es gab keine unabhängigen Messungen internationaler Forscher. Völlig auszuschließen sei eine Manipulation damit nicht.

Gilani Dambajew will Musljumowo schon lange verlassen. Aus einem Nachttisch neben dem Bett kramt er Dokumente hervor. Auf einer ganzen Seite sind die Diagnosen seiner Jahre an der Tetscha aufgelistet. Asthma, Diabetes, Epilepsie, Störung der Feinmotorik, chronische Gallenblasenentzündung, Zwölffingerdarmgeschwür. Ein Bluttest, den er 2014 machen ließ, wies achtfach erhöhte Strahlenwerte seiner Organe auf.

Eine weitere Untersuchung, erstellt von einem Expertenrat in Tscheljabinsk, der dem russischen Gesundheitsministerium unterstellt ist, bestätigte, dass die Strahlenwerte seiner Organe zwar um das Achtfache erhöht seien, gleichzeitig lautete das Ergebnis: Dies sei jedoch nicht eindeutig auf das Leben an der Tetscha zurückzuführen. Dambajew aber will, dass ihn die Behörden als Strahlenopfer anerkennen. „Ich bin ein Mensch“, sagt er, „ich habe Rechte.“

Protestbriefe an den Präsidenten

Er fordert eine bessere medizinische Versorgung, höhere Entschädigungen oder eben eine neue Chance, die Region zu verlassen. „Gebt mir eine Wohnung in Tscheljabinsk!“ Viele, die in der belasteten Gegend leben, sagt er, hätten sich mit ihrem Schicksal abgefunden: „Sie sind bereit, ohne jeden Kampf zu sterben.“ Er aber schrieb Protestbriefe an den Präsidenten und zog vor Gericht für Ansprüche als Strahlenopfer. Ohne Erfolg.

Rustam Muchamedjarow kennt Diagnosen wie jene von Dambajew. Als Notarzt betreut er fast 9000 Menschen im Umland. Auffällig, sagt er, seien die vielen Fälle von Magen-, Kehlkopf- oder Lungenkrebs, die er zu behandeln habe. Die Zahl der Erkrankten steige.

Der junge Arzt, kariertes Hemd, braune Augen hinter schmalen Brillengläsern, wurde 1982 in Musljumowo geboren und ist dort aufgewachsen. Als Kind schwamm er in der Tetscha. Manchmal seien Polizisten vorbeigekommen und verboten den Anwohnern, sich dem Fluss zu nähern. Wieso, hätten sie nicht erklärt. Die Dorfbewohner sammelten Beeren und Pilze, angelten in der Tetscha. Sie tranken die Milch von Kühen, die aus dem Fluss tranken.

Heute lebt er in Russkaja Tetscha, einem Örtchen knapp 60 Kilometer den Flusslauf hinab, wo die Strahlung geringer ist. Von seinem Gehalt, 12.000 Rubel verdient Muchamedjarow im Monat, kaum 160 Euro, kann er es sich nicht leisten, mit seiner Familie weiter wegzuziehen.

Umsiedelung oder Geld nehmen?

1993, die Sowjetunion war Geschichte, reiste Russlands erster Präsident Boris Jelzin nach Musljumowo. „Erst da erfuhren wir, dass die Tetscha kontaminiert war“, erinnert sich Dambajew. Jelzin verkündete die Verlegung des Ortes, aber lange geschah nichts.

Als Rosatom und die regionale Verwaltung im Jahr 2007 endlich die Dorfbewohner umsiedelten, da konnte Dambajew wählen: zwischen einem Haus in Nowomusljumowo, einer neu gegründeten Siedlung, oder der Zahlung von einer Million Rubel – knapp 30.000 Euro.

Dambajews Nachbarn leben heute dort, keine drei Kilometer vom alten Dorf entfernt – und damit auch kaum weiter von der Tetscha weg als zuvor. Es gibt einen Lebensmittelladen und eine Schule, einen Friseur und eine Bankfiliale. Ein Denkmal, das an den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnert, steht vor der örtlichen Verwaltung, zusammen bilden sie so etwas wie einen Ortskern.

Drumherum reihen sich Häuser identischer Bauart: ein oder zwei Stockwerke hoch, rotes Satteldach, gelbe Wellblechfassade. In ihrer einfachen Bauweise seien sie nicht gemacht für die rauen Winter im Ural, erzählen die Menschen hier.

Gravierender ist ein anderes Problem: Im Boden haben Umweltschützer hohe Radonwerte gemessen. In der Dorfmitte ragt eine Werbetafel in den Himmel: „Nowomusljumowo ist unser Zuhause – halte es in Ordnung“.

Druck durch die Polizei

Dambajew sagt, dass ihm für das Haus, in dem er mit seiner Frau lebt, eigentlich zwei Millionen Rubel zustehen würden. Schließlich bestehe es aus zwei Wohneinheiten. Am Ende, erzählt er, hätten die Behörden behauptet, er wolle überhaupt nicht umsiedeln. So blieb Dambajew in einem Haus, von dem er sagt, dass er es verlassen will. „Ich bekomme nichts“, sagt er. „Rosatom hat uns betrogen!“

Auch Muchamedjarow, der Arzt, kennt den Kampf gegen Behörden und Verantwortliche. Er selbst war eine Zeit lang Abgeordneter der Dorfverwaltung seiner neuen Heimat Russkaja Tetscha. Gemeinsam mit anderen Aktivisten rief er vor vier Jahren die Einwohner benachbarter Dörfer zusammen, die aus seiner Sicht ebenfalls von der Strahlung am Fluss bedroht seien. Das Ziel: Auch sie wollten von Rosatom und der Gebietsverwaltung eine Umsiedlung fordern. Es kam anders.

„Jeder erhielt eine Vorladung der Polizei“, erzählt Muchamedjarow. Die Beamten bezichtigten die Aktivisten, ausländische Agenten zu sein. Nur wenn sie ihre Arbeit beendeten, belehrten die Offiziellen sie, werde man nicht gegen sie vorgehen. „Keiner ist mehr aktiv“, sagt Muchamedjarow, „alle haben Angst.“ Den Wunsch, etwas zu unternehmen, spürt er noch immer.

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