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Auf die Besetzer der Gerhart-Hauptmann-Schule soll ein staatliches Flüchtlingszentrum folgen.

© Schuh/dpa

Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule: Ausgeträumt in Kreuzberg

Als die Flüchtlingskrise nach Berlin kam, wurde die Gerhart-Hauptmann-Schule besetzt - nun wird sie geräumt. Schade, sagt Kreuzbergs Bürgermeisterin Monika Herrmann, erleichtert sei sie trotzdem.

Ahmed Adin kann es kaum erwarten. Wenn an diesem Donnerstag die Gerichtsvollzieherin kommt, von Polizisten begleitet den Südflügel der früheren Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg betritt, den neun, zehn, elf Männern, die noch in den alten Klassenräumen leben, den Räumungstitel zeigt und sie auffordert, das Haus zu verlassen, dann macht er einen Sekt auf.

„Dabei“, sagt Adin, „trinke ich sonst keinen Alkohol.“ Adin, der seinen richtigen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist Kurierfahrer, Familienvater, Anwohner. Keine 40 Stunden vor der geplanten Räumung steht er am nahen Görlitzer Park. „Damals hab ich es gleich meiner Frau gesagt“, sagt Adin und legt seinen Schal zurecht. „Die machen Ärger, die verkaufen Drogen, die prügeln.“ So wie Adin, das wird deutlich, denken viele Kreuzberger, die selbst lernen mussten, in Deutschland anzukommen.

Dezember 2012. Berliner Linke besetzen die leer stehende Gerhart-Hauptmann-Schule in der Ohlauer Straße. Sie wollen Flüchtlingen helfen, die auf dem nahen Oranienplatz campieren. In die Schule ziehen schnell auch andere Asylbewerber, die allein leben, und Obdachlose, die nicht erfrieren wollen. Es soll ein Experiment der Solidarität werden.

Doch der Streit um die Schule spaltet das linksliberale Bürgertum. Auf Anwohnerversammlungen schreien Grüne andere Grüne an. Im Senat drängt die damals regierende CDU auf Räumung, beim Koalitionspartner SPD ist man ratlos. Und die Bezirksbürgermeisterin, Monika Herrmann von den Grünen, erhält nach Morddrohungen wochenlang Personenschutz.

Schlacht um die Schule? Selbst Sympathisanten glauben das nicht

Fünf Jahre später, nach andauernden Auseinandersetzungen, Vergewaltigungsvorwürfen und einem Toten, bereitet sich die Polizei nun auf die Räumung der inzwischen bundesweit bekannten Gerhart-Hauptmann-Schule vor.

Schon am Mittwoch rücken Beamte in der Ohlauer Straße an. Sie stellen Absperrgitter auf. Linke wollen an diesem Donnerstag in Kreuzberg protestieren. „Solidarität mit den Bewohnern“, erklärt eine Initiative. „Alle Menschen müssen das Recht haben, zu entscheiden, wo und wie sie leben wollen, unabhängig von Status und Herkunft.“ Im rot-rot-grünen Senat befürchten einige Ausschreitungen.

Doch selbst Aktivisten der ersten Stunde und einstige Sympathisanten glauben nicht, dass es um die Schule noch Schlachten geben wird. Auch Bürgermeisterin Herrmann sagt, die Stimmung sei ruhiger als in den vergangenen Jahren.

Damals, im Winter 2012, spürt die Hauptstadt das erste Mal, was als Flüchtlingskrise in die Geschichte eingehen wird. Innerhalb weniger Wochen streiten Abgeordnete, Journalisten, Beamte und Autonome darüber, wie mit den Flüchtlingen umzugehen ist. Deutschland, so scheint es, ist nicht vorbereitet. Und Berlin, für viele aus Nahost und Afrika die Sehnsuchtsstadt im Sehnsuchtsland, schon gar nicht.

Im Dezember 2012 schaffen Linke entschlossen Fakten

Alles beginnt, als sich in einem Würzburger Heim ein Iraner umbringt. Danach protestieren Flüchtlinge bundesweit gegen die Residenzpflicht, die Asylbewerbern vorschreibt, bestimmte Regionen nicht zu verlassen. Männer und Frauen aus Senegal, Gambia, Nigeria, Iran und Syrien marschieren nach Berlin. Sie besetzen den Pariser Platz am Brandenburger Tor, wollen ins Abgeordnetenhaus, richten sich schließlich in Zelten am Oranienplatz ein. Eilig kommen Senatoren, Bezirkspolitiker, Beamte zusammen: Wohin mit den Flüchtlingen?

Entschlossenere Linke schaffen Fakten – und besetzen am 8. Dezember die leere Schule. Das Bezirksamt lässt sie gewähren, schließlich herrschen Minusgrade. Bald ziehen nicht nur die Flüchtlinge vom Oranienplatz ein. Mehr als 200 Männer, Frauen und auch einige Kinder leben in der Schule. Helfer geben Deutschkurse, es wird gekocht.

Diesen Donnerstag soll geräumt werden. Einfahrt zur Schule in der Ohlauer Straße.
Diesen Donnerstag soll geräumt werden. Einfahrt zur Schule in der Ohlauer Straße.

© Mike Wolff

Eine Aktivistin, die damals beim Papierkram hilft, sagt heute: „Es hätte klappen können, mit ein bisschen mehr Selbstdisziplin.“ Denn die Forderungen erscheinen vielen, weit über die Besetzerszene hinaus, sinnvoll: Residenzpflicht abschaffen, Flüchtlingen erlauben, Arbeit aufzunehmen – gute Idee.

„Irgendwann aber habe ich mich kaum mehr in die Schule getraut“, sagt die Kreuzbergerin. Mit den geflüchteten Roma sei sie gut ausgekommen. „Aber viele der anderen waren oft high oder betrunken oder auch so kaum zu motivieren.“ Die Aktivistin hält die deutsche Flüchtlingspolitik nach wie vor für repressiv, die deutsche Linke allerdings für naiv. Ahmed Adin, der 100 Meter neben der Schule wohnt, ist deutlicher. „Die hätten sich benehmen sollen“, sagt er, als er in einem Imbiss das Mittagsmenü bestellt. „Dann hätten die vielleicht bleiben dürfen.“ Schwer zu sagen, wer mit „die“ zuletzt noch gemeint sein könnte.

Einen Besuch in der Schule erlaubt das Bezirksamt, das ja die Kontrolle zurückgewinnen will, nicht. Man hat Sorge, dass sich dort neue Leute verschanzen. Ein Wachdienst, vom Bezirk bezahlt, öffnet das Tor zum alten Schulhof, wenn Fahrzeuge für den Nordflügel kommen. Dort betreiben die Johanniter eine legale Unterkunft für 100 Flüchtlinge.

Monika Herrmann: "Als selbst verwaltetes Zentrum gescheitert"

Vom besetzten Südflügel sind nur ein paar Graffiti und eine zersprungene Scheibe zu sehen, davor stehen Container. Ein Jahr nach der Besetzung – also 2013, Anfang 2014 – ist das Haus noch ordentlich ausgelastet. In der ersten Etage leben Männer aus Westafrika. In der zweiten treffen sich damals Sudanesen. Auch Marokkaner und Algerier belegen Räume. In der dritten Etage ist die Aula, dort campierten die Neuankömmlinge.

Die Kämpfe zwischen den Bewohnern eskalieren. Die Ex-Helferin berichtet, es sei um Geld, Platz und Glauben gegangen. Und Rassismus: hellhäutige Nordafrikaner gegen dunkelhäutige Zentralafrikaner. Ein Heranwachsender von der Elfenbeinküste wird niedergestochen. In Internetforen gibt es Berichte, in der Schule seien Frauen vergewaltigt worden. In manchen Wochen rufen Besetzer, Anwohner oder Helfer fast täglich Polizei oder Notarzt. „Ich hab mit meinen eigenen Augen gesehen“, sagt Ahmed Adin, „wie einer aus der Schule in meinem Hof zwei Fahrräder mitnahm!“ Adin wirkt heute noch wütend.

Auf den Fluren und Treppen klebt schon bald der Boden von verschütteten Speisen, Verpackungen und Scherben liegen herum.

Monika Herrmann ist zu der Zeit neu im Amt. Die Schule wurde noch unter ihrem Vorgänger besetzt. Die Bezirksbürgermeisterin will nicht, dass es heißt, auch im grünen Kreuzberg herrsche eine rigide Flüchtlingspolitik. Doch bald sagt Herrmann: „Als selbst verwaltetes Zentrum ist die Schule gescheitert.“ Die meisten Bewohner wollen ein Bett, ihre Ruhe, jedenfalls keine Debatten im Plenum – zumal viele nicht die gleichen Sprachen sprechen.

Neun Stiche, der Mann aus Marokko stirbt

Herrmann zufolge besucht ein Bezirksmitarbeiter die Schule regelmäßig, um sich um Reparaturen zu kümmern. „Doch es gibt keine festen Ansprechpartner – und eine Woche später sind die Sachen wieder kaputt.“ Insgesamt habe die besetzte Schule das Bezirksamt bis heute fünf Millionen Euro gekostet.

An einem Freitagmittag im April 2014 geraten zwei Männer aus Marokko und Gambia in Streit. Ob es um Drogen geht, wie ein früherer Helfer sagt, oder um einen Platz in einer der wenigen funktionierenden Duschen, wie andere meinen, lässt sich nicht mehr klären. Neun Mal, heißt es später vor Gericht, sticht der Gambier auf den Marokkaner ein.

Die Kripo braucht Wochen, bevor sie sicher ist, wer das Opfer war: Der Mann verfügte unter falschem Namen über einen Asylplatz in Sachsen, zuvor hat er jahrelang in Spanien gelebt. Die Gerichtsmediziner finden deutliche Spuren von Kokain und Alkohol in seinem Körper. Auch der Kontrahent hat Drogen genommen. Er wird in der Nähe von einem Beamten festgenommen. Inzwischen sitzt der Mann aus Gambia wegen Totschlags eine Haftstrafe ab.

Monika Herrmann (Grüne), Bezirksbürgermeisterin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, hat ein turbulentes Jahr hinter sich.
Monika Herrmann (Grüne), Bezirksbürgermeisterin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, hat ein turbulentes Jahr hinter sich.

© dpa/Stephanie Pilick

Ein paar Monate später will Bürgermeisterin Herrmann, die massiven Druck vom SPD-CDU-Senat bekommt, die Schule räumen lassen. Einige Beamte tragen Maschinenpistolen. Die meisten Bewohner ziehen aus, andere verschanzen sich, 20 Flüchtlinge steigen auf das Dach und drohen, sich in die Tiefe zu stürzen. Die Stimmung in Kreuzberg kippt.

Plötzlich steht Angela Davis vor der Schule

Noch einmal demonstrieren Hunderte gegen die Räumung. Das Bezirksamt und die verbliebenen Bewohner schließen eine über Anwälte vermittelte Vereinbarung ab, wonach ein Sicherheitsdienst beauftragt wird, neue Besetzer abzuhalten, die verbliebenen Flüchtlinge aber vorerst im Haus bleiben dürfen.

„Und dann ist zwei, fast drei Jahre wenig passiert“, sagt Herrmann. „Wie genau das selbst verwaltete Zentrum funktionieren soll, konnte uns niemand sagen.“ Syrien, Mittelmeer, Balkan – die Lage spitzt sich zu. Im Mai 2015 kommt Angela Davis, die damals 71 Jahre alte Ikone der US-Bürgerrechtsbewegung, die Autorin, die Black-Panther-Kämpferin, in die Ohlauer Straße. Doch Bürgermeisterin Herrmann bleibt hart: Keine Ausnahme, das Tor zum Schulhof bleibt zu. Da ist das Ende schon abzusehen.

Einer, der an diesem Donnerstag gegen die Räumung protestieren wird, ist Marcus Staiger. Stadtweit ist Staiger als Unterstützer diverser Flüchtlingsprojekte bekannt. Als Musikjournalist hatte er sich zuvor in der Kulturszene einen Namen gemacht. Er scheut – und das als erklärter Linksradikaler – das Gespräch mit der etablierten Politik nicht. Am Vorabend der Räumung sagt er nun: „Ich glaube schon, dass sich viele Unterstützer irgendwann vor der Verantwortung gedrückt haben, die Missstände in der Schule anzusprechen – auch, weil sie wollten, dass sich die betroffenen Geflüchteten selbst organisieren. Das aber konnten viele von ihnen nicht.“

Aktivist, Journalist, Helfer: Marcus Staiger demonstriert am Donnerstag

Sei es nicht auch für alteingesessene, gut ausgebildete Berliner oft schwer, sich zu organisieren, gemeinsam Neues zu schaffen? Zudem sei es mitnichten so, dass der Staat ein funktionierendes Projekt gewollt hätte. Ein Vorwurf, dem Bürgermeisterin Herrmann widerspricht. Staiger sagt: „Der Senat hätte nie ein autonomes, gut organisiertes Haus mit europaweiter Ausstrahlung geduldet.“

Vor einigen Monaten wenden sich die Besetzer noch einmal an die Öffentlichkeit. Als das Landgericht im Sommer 2017 feststellt, dass es sich bei der Vereinbarung zwischen Bewohnern und Bezirksamt nicht um einen Mietvertrag handelt, sondern um eine vorübergehende Duldung, der Bezirk also räumen lassen darf, werfen sie dem Staat eine „aggressive Reaktion“ vor – es gehe nach wie vor darum, „hier wohnen, arbeiten und unser Projekt machen“ zu können.

Einige Stunden bevor die ersten Polizisten vielleicht zum letzten Mal vor der Schule patrouillieren, sitzt die Bürgermeisterin in ihrem Büro in der Frankfurter Allee. Nach der Räumung muss saniert werden. Langfristig plane sie dort: ein Flüchtlingszentrum. Wohnen, Deutschkurse, vielleicht Werkstätten. Aber eben unter Aufsicht des Amtes.

„Ich finde es schade“, sagt Monika Herrmann, „dass das Projekt nie richtig startete.“ Die Besetzer hätten offenbar niemanden gefunden, der mit ihnen ein tragfähiges Konzept ausarbeitet. Immer, wenn es konkret werden sollte, sei nichts gekommen. Nach all den Drohungen, den Personenschützern, dem Streit im Kiez und innerhalb ihrer Partei sei sie vor allem eines: erleichtert.

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