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Kurdische Kämpferinnen an der syrischen Grenze

© Reuters

Reise nach Syrien: Berliner Therapeutin hilft kurdischen Kämpferinnen

In ihrer Berliner Praxis hat Marlene Pfaffenzeller traumatisierte Flüchtlinge behandelt. Nun reist die 72-Jährige selbst ins Krisengebiet. Zu den kurdischen Kämpferinnen nach Syrien. Ihr Besuch kann nur ein Anfang sein.

In einer Kleinstadt im Norden von Syrien, in einem von Einschusslöchern übersäten Haus, umgeben von sechs kettenrauchenden Frauen, sitzt die 72 Jahre alte Neurologin und Psychotherapeutin Marlene Pfaffenzeller und wünscht sich, sie wäre eine Schamanin. „Die würde hier einfach besser ankommen“, sagt sie und wischt mit einer kräftigen Handbewegung eine Rauchschwade beiseite, die träge vor ihr in der Luft hängt. Wie auf Kommando verstummen die sechs, die in einem Stuhlkreis um sie herum sitzen und gerade noch laut auf Arabisch und Kurdisch durcheinandergeredet haben. Erwartungsvoll schauen sie zu Marlene Pfaffenzeller, dieser kleinen, ein wenig gebeugten Frau mit den freundlichen Augen und dem gutmütigen Lächeln. Dann blicken sie zu der niederländischen Krankenschwester, die für sie die Worte der deutschen Ärztin übersetzt.

20 Jahre lang hat Marlene Pfaffenzeller in ihrer psychotherapeutischen Praxis in Schöneberg vor allem Einwanderer behandelt - türkische Kurden, die gefoltert worden waren, Menschen aus Ex-Jugoslawien, die den Bürgerkrieg überlebt hatten. Nach Syrien kam sie nun mit einem ungewöhnlichen Projekt: Sie möchte Frauen psychotherapeutisch schulen, damit diese wiederum Kriegstraumatisierten helfen können.

Sie dachte an die Kinder, die im Krieg aufwachsen

Psychotherapie ist wahrscheinlich das Letzte, was den meisten Menschen einfällt, wenn man sie fragt, was Syrien jetzt braucht. Marlene Pfaffenzeller allerdings dachte schon daran, als im Fernsehen die ersten Bilder des Syrienkonflikts gezeigt wurden. Sie stellte sich die Kinder vor, die in diesem Krieg heranwachsen, die Mütter, die in dieser Situation Stabilität vermitteln könnten - oder Verunsicherung, Depression und Wut, je nachdem, wie gut sie selbst den Konflikt bewältigen. Marlene Pfaffenzeller wollte helfen.

In ihrer Praxis hat sie die Erfahrung gemacht, dass Flüchtlinge Traumata nicht unbedingt besser verarbeiten, wenn sie in Deutschland als Asylbewerber leben. In der Fremde fühlten sie sich ihrer Identität beraubt und hätten keine Perspektive auf ein eigenständiges Leben. „Für manche“, sagt Marlene Pfaffenzeller, „ist es besser, in der Heimat zu bleiben, auch wenn dort Krieg herrscht.“

Deshalb sitzt sie Ende September im Gesundheitszentrum von Sere Kaniye. Zwei Nachmittage bleiben ihr mit den Syrerinnen, dann muss sie weiter in ein Flüchtlingslager an der irakischen Grenze.

Wenn eine Bombe falle oder jemand sterbe, sagt Marlene Pfaffenzeller, schütte das Gehirn Stresshormone aus. Es könne sich dann auch wieder beruhigen. Doch dauere die belastende Situation an und werde das Erlebte langfristig nicht verarbeitet, halte der Stress an. „Dann fühlt ihr euch unwohl, körperlich und seelisch“, sagt sie zu den Frauen. „Ihr geht zum Arzt, und der sagt, ihr habt nichts.“ Pfaffenzeller sagt, dass es für psychische Probleme keine einfachen Lösungen gibt. „Pillen sind keine Lösung. Therapien können helfen.“

Auf dem Weg in den Krieg: Wie Marlene Pfaffenzeller arbeitet

Kurdische Kämpferinnen an der syrischen Grenze
Kriegswirren. An der syrischen Grenze müssen die kurdischen Kämpferinnen stets mit Anschlägen der IS-Truppen rechnen.

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Zunächst wusste Marlene Pfaffenzeller nicht, wie sie Psychotherapie ins Krisengebiet bringen könnte. Im vergangenen Sommer tat sie erst mal das, was sie selbst „das Naheliegende“ nennt. Sie reiste mit ihrem Mann in ein Flüchtlingslager an der türkisch-irakischen Grenze, wo 5000 Jesiden leben, die aus Syrien vor dem „Islamischen Staat“ geflohen sind. Sie wollte helfen, wie auch immer. Doch ohne Dolmetscher und Ansprechpartner vor Ort stand sie den Menschen hilflos gegenüber, die sich um sie drängten, ihr kranke Kinder entgegenhielten. Nach einer Woche reiste sie resigniert ab.

Eine Bekannte aus dem Verein „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ erzählte ihr schließlich von der „Stiftung der Freien Frauen in Rojava“, einem Zusammenschluss von Syrerinnen. Rojava ist die Kurdenregion im Norden Syriens, die versucht, eine demokratische Selbstverwaltung aufzubauen. Als Marlene Pfaffenzeller sich bei den Frauen in Rojava meldete, fragten die, ob sie sich vorstellen könne, sie vor Ort für psychologische Arbeit auszubilden. Marlene Pfaffenzeller antwortete, dafür müssten sie erst gemeinsam herausfinden, wie die Ausbildung aussehen könnte.

Sie glaubt nicht an einfache Lösungen. „Jeder Mensch ist ein Individuum, jeder geht anders mit Problemen um, jedem hilft etwas anderes“, sagt sie.

Sie war schon in Ruanda und auf dem Balkan

Marlene Pfaffenzeller ist schon oft in Krisengebiete gereist, vor allem in solche, aus denen ihre Patienten nach Deutschland geflohen waren. Seit den 90er Jahren, als der erste Kurde zu ihr in die Praxis kam und dann bald weitere Landsleute schickte, fährt sie regelmäßig ins türkische Kurdistan. Sie war in Ruanda und oft auf dem Balkan und in Kolumbien. Sie hat dort starke Menschen getroffen, die Halt gefunden haben, weil sie in der Heimat etwas aufbauen konnten.

Sere Kaniye, eine Stadt mit rund 55 000 Einwohnern, liegt auf halbem Weg von der irakischen Grenze zum Mittelmeer. In den vergangenen drei Jahren sind fast zwei Drittel der Bewohner in die Türkei geflohen, die Grenze ist nur einen knappen Kilometer entfernt. Wahrscheinlich genauso viele Menschen sind aus anderen Teilen Syriens in die Stadt gekommen. Die Lage ist relativ ruhig, doch immer wieder versuchen IS-Kämpfer, Anschläge zu verüben. In der Woche vor Marlene Pfaffenzellers Besuch kamen bei drei Attentaten fünf Menschen ums Leben, fünf weitere wurden schwer verletzt. An den Wänden des Gesundheitszentrums - ein einfaches Haus, in dem vor dem Krieg ein Arzt seine Praxis hatte - hängen Bilder von jungen Menschen, die bei Anschlägen oder an der Front gefallen sind und nun als Märtyrer verehrt werden. Weil Spione der Dschihadisten in der Stadt leben könnten, lassen die kurdischen Kämpfer die deutschen Besucher nicht alleine auf die Straße.

Das Haus, in dem Marlene Pfaffenzeller die Nacht verbringt, gehörte einst dem Oberarzt des örtlichen Krankenhauses. Als der Krieg begann, floh er mit seiner Familie nach Europa. Seitdem übernachten dort Gäste der YPG-Kämpfer, manchmal auch internationale Helfer. Ivana Hoffmann soll zum Beispiel hier gewesen sein, die junge Kommunistin aus Duisburg, die im März beim Kampf gegen den IS gefallen ist und in Rojava nun als Märtyrerin verehrt wird. Am Abend fällt der Strom aus, schlagartig ist es stockduster. Die kurdischen Kämpferinnen, die Marlene Pfaffenzeller in dieser Nacht beschützen, zünden sich Zigaretten an, rot glimmt die Glut im Dunklen.

Eine Frau mit Kopftuch fordert Medikamente

Am Tag treffen sich Marlene Pfaffenzeller und die Syrerinnen zum ersten Mal im Gesundheitszentrum. Als sie einander vorstellen, verkündet eine Lehrerin mit knallroter Bluse kämpferisch, dank der syrischen Revolution hätten die Frauen in Rojava jetzt mehr Rechte. Eine junge Studentin in Jeans und T-Shirt sagt, wegen des Krieges hätten jetzt alle Angst, auf die Straße zu gehen. Eine Enddreißigerin mit Kopftuch und traurigen, braunen Augen fordert Medikamente. Die anderen werden genauer: Pillen gegen Schlafstörungen. Pillen gegen Traurigkeit. Und ein wenig klingt es so, als würden auch sie, die eine Ausbildung zur Therapeutin machen wollen, die Medikamente brauchen.

Sie seien gekommen, weil sie helfen wollen, sagt Marlene Pfaffenzeller. „Wir haben keinen Ausbildungsplan mitgebracht, sondern viele Fragen. Die erste: Was für Erwartungen habt ihr?“ Während die niederländische Krankenschwester übersetzt, lächelt Marlene Pfaffenzeller aufmunternd. Die Frauen schauen sie verunsichert an. Ihre Antworten kommen langsam. Sie wünschen sich Bildung, sagen, dass sie vorbereitet sein wollen auf die Zeit nach dem Krieg. Dann sprechen sie wieder von Gleichberechtigung. Sie möchten die Frauen stärken, die kein Selbstbewusstsein haben. Manche trauten sich nicht mal, einen Mann zu grüßen. Marlene Pfaffenzeller fragt, welche Erfahrungen sie bisher mit psychischen Erkrankungen gemacht hätten. Die Lehrerin in der roten Bluse sagt, die Gewalt des Kriegs beeinflusse die Familien, es gebe Männer, die ihre Frauen schlagen, und Mütter, die Kinder verprügeln. Wie sollen sie damit umgehen?

Pfaffenzeller schweigt lange. Dann antwortet sie: Ein Patentrezept gibt es nicht.

Im Gedächtnis eingebrannt: Wie ihre Patienten leiden

Kurdische Kämpferinnen an der syrischen Grenze
Kriegswirren. An der syrischen Grenze müssen die kurdischen Kämpferinnen stets mit Anschlägen der IS-Truppen rechnen.

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An diesem Abend berichtet die niederländische Krankenschwester, dass etwa 500 Frauen hier ihre Kinder oder Männer verloren hätten. Viele von denen kämen wegen Ohnmachts- und Krampfanfällen zu ihr, für die es keine körperliche Erklärung gebe. „Die Leute wollen immer Medikamente“, sagt sie. Wenn sie von psychischen Problemen spreche, antworteten die Frauen, sie seien doch nicht verrückt. „Ich gebe dann eine Beruhigungstablette, und es geht ihnen wieder gut“, sagt sie. Marlene Pfaffenzeller spricht leise, aber bestimmt: „Ich möchte mit ein paar von den Frauen sprechen.“

In der Krankenstation warten am nächsten Morgen zwei ältere Frauen, die Angehörige im Krieg verloren haben. Kaum hat sich die erste auf das braune Sofa im Behandlungszimmer gesetzt, erzählt sie, wie häufig sie Weinkrämpfe habe, seit ihr Sohn vor eineinhalb Jahren bei einem Selbstmordanschlag an einem Checkpoint ums Leben kam. Sie sagt, dass sie seitdem im örtlichen Leichenhaus arbeite, wo sie die Körper der Gefallenen wasche, bevor sie beerdigt werden.

Unter Tränen erzählt sie von ihrem Sohn

„Denken Sie dabei an ihren Sohn?“, fragt Marlene Pfaffenzeller. „Ich sehe ihn immer vor mir, unsere gemeinsamen Momente sind in meinem Gedächtnis eingebrannt. Als Letztes sagte er zu mir: Pass bitte immer auf meine Kinder und meine Frau auf.“ Unter Tränen erzählt sie, dass sie sich jetzt um seinen dreijährigen Sohn kümmere, dass ihre Schwiegertochter aber mit dem zweiten Kind zu ihren Eltern gegangen sei.

„Hilft ihnen die Arbeit mit den Toten, den Verlust besser auszuhalten?“

„Es beruhigt mich.“

„Was hilft noch?“

Die Syrerin wischt sich die Tränen von der Wange und sagt: „Es tut gut, dass ich mit jemandem über meine Geschichte sprechen kann.“

Sie weiß nicht, ob sie je wiederkommt

Länger als eine Stunde hat das Gespräch gedauert, im Wartezimmer der Krankenstation sitzen bereits die sechs Frauen vom Vortag, um weiter über die Ausbildung zu sprechen. Doch Marlene Pfaffenzeller bittet zunächst die zweite Frau ins Behandlungszimmer. Müde und verschwitzt kommt sie eine Stunde später ins Wartezimmer zurück und setzt sich zu ihren Schülerinnen. „Wie können wir psychische Krankheiten heilen?“, fragt die Lehrerin mit der roten Bluse. Marlene Pfaffenzeller überlegt lange, atmet tief. Soll sie jetzt sagen, dass die Frauen das erst in der Ausbildung lernen werden, die sie in diesem Winter mit anderen Psychologen in Deutschland entwickeln will? Dass sie diesmal nur hier ist, um herauszufinden, wie diese Ausbildung überhaupt aussehen könnte? Sie weiß ja nicht einmal, ob sie je wieder nach Rojava kommen kann, wie es in ein paar Monaten in Nordsyrien aussehen wird.

Sie denkt an die Patientin, die ihr eben erzählt hat, dass sie rasende Kopfschmerzen habe, seit ihr Mann bei einem Anschlag gestorben sei; dass sie Fantasien habe, in denen sie die IS-Kämpfer umbringe; dass es ihr besser gehe, wenn sie mit ihrer Nichte tobe. Schließlich sagt Marlene Pfaffenzeller: „Strukturelle Arbeit reinigt die Gedanken. Ihr könnt zum Beispiel gemeinsam handarbeiten.“ Am Ende dieses zweiten Tages sagt eine junge Hebamme, die bislang still war: „Es wird mir jetzt leichter fallen, über psychische Krankheiten zu reden.“ Die Lehrerin bedankt sich, sie hat Tränen in den Augen.

Später im Auto, auf dem Weg zu einem Flüchtlingslager an der irakischen Grenze, blickt Marlene Pfaffenzeller lange schweigend aus dem Fenster. Staubgrau liegt der Himmel über den gelben Stoppeln der abgeernteten Weizenfelder. Der Wagen hält am ersten Checkpoint, wo sich eine kleine Schlange gebildet hat. Beißende Abgase ziehen durch das halb geöffnete Fenster. Weil es in Rojava keine Raffinerien gibt, tanken die Autos notdürftig gereinigtes Rohöl. „Egal, was noch kommt“, sagt Marlene Pfaffenzeller, „es war schon gut, dass wir da waren.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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