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Der Regierende vermutet eine Kampagne der Genossen, die seinen Gegner Raed Saleh unterstützen.

© imago images / IPON

Rot-rot-grüne Koalition: Berlins Regierung – ein Gleichgewicht der Schwäche

Michael Müller steht gerade ziemlich einsam da. Selbst die eigene Partei zweifelt an ihm. Was Berlins Regierungskoalition trotzdem stabil hält: Drei Frauen.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Michael Müller fehlte entschuldigt. Als der Landesvorstand der Berliner SPD am Montagnachmittag tagte, war er auf Dienstreise – in Buenos Aires und Montevideo. Deshalb bekam er zunächst nicht mit, wie sich kurz vor der Sitzung unter den fassungslosen Genossen die Nachricht verbreitete, dass sich die sozialdemokratische Bildungssenatorin Sandra Scheeres von ihrem Staatssekretär Mark Rackles trennen wolle.

Eine „nicht nachvollziehbare Entscheidung“, das war noch die höflichste Kommentierung, die von führenden SPD-Leuten zu hören war. Die Kritiker Müllers in der eigenen Partei, und das sind nicht wenige, fühlten sich wieder einmal bestätigt: Der Chef lasse alles laufen. Müller fehle die Kraft, den Laden zusammenzuhalten und die Kernthemen der Berliner Sozialdemokratie, dazu gehört zweifellos die Bildungspolitik, zum Erfolg zu führen. Doch so viel Aufregung, nur wegen eines Staatssekretärs?

Rackles ist nicht irgendwer. Bis heute gilt der 52-jährige Politologe, ehemals Sprecher der SPD-Linken und immer noch Mitglied im Landesvorstand, als einer der klügsten Theoretiker und fleißigsten Praktiker im SPD-Landesverband. Schon mit dem Ex-Regierenden Klaus Wowereit hatte sich Rackles gelegentlich so angelegt, dass die Fetzen flogen. Mit Müller auch. Als Bildungs-Staatssekretär ging dem etwas sperrigen und detailverliebten Rackles bald der Ruf voraus, die Arbeit der Bildungssenatorin mit zu erledigen, die als völlig überfordert gilt.

Jetzt ist er weg.

Zufall oder Kalkül?

Als Sandra Scheeres dem Regierenden eröffnete, dass sie Rackles in den einstweiligen Ruhestand versetzen wolle, gab Müller dem Vernehmen nach zuerst zu bedenken, ob es nicht besser sei, den Staatssekretär bis zum Ende der Wahlperiode zu behalten? Sie solle sich das gut überlegen. Zumal als gleichwertiger Ersatz der Spandauer Bezirksbürgermeister Helmut Kleebank nicht zur Verfügung stand, sondern Scheeres Pressesprecherin Beate Stoffers nachrücken sollte. Als die Senatorin entgegnete, dass „der Mark auch nicht mehr will“, gab sich Müller damit zufrieden. Für die Senatorin ein klarer Beleg, dass der Regierende keine Bedenken gegen den Austausch des Staatssekretärs hatte.

Ob es Kalkül war, dass die Personalie ausgerechnet in der Woche öffentlich wurde und ohne Diskussion durch den Senat ging, als Müller in Südamerika war, ist kaum zu klären. Manches spricht dafür. Angeblich soll Rackles mit der Senatorin noch am Montag dienstliche Termine für die nächsten Wochen abgesprochen haben. Scheeres selbst bat die stellvertretende SPD-Landeschefin Ina Czyborra, dem Landesvorstand ihrer Partei den Wechsel zu übermitteln. Die Senatorin blieb der Sitzung fern, auch das wurde ihr sehr übel genommen.

Jetzt wird der Fall zum Problem für den Regierenden. Es kam die Frage auf, warum der Genosse Müller seiner tragenden Rolle als Regierungs- und Parteichef auch in der „Causa Rackles“ nicht gerecht geworden sei. Schließlich hat sich im SPD-Landesverband die Einschätzung weitgehend durchgesetzt, dass die Bildungssenatorin eigentlich nicht mehr haltbar sei, weil sie die sozialdemokratische Bildungspolitik in Berlin „gegen die Wand gefahren habe“, wie es ein einflussreicher Genosse jetzt formulierte.

Sie ließen sich nicht aus dem Amt hebeln

Seitdem Müller im November 2014 ins Rote Rathaus eingezogen ist, begleitet ihn die Kritik aus den eigenen Reihen. Schnell hieß es, er könne nicht moderieren, sei dünnhäutig und verlasse sich auf einen kleinen Kreis enger Vertrauter. Im September 2016 fuhr die SPD mit 21,6 Prozent eines ihrer schlechtesten Ergebnisse ein. Müller rettete nur, dass die SPD stärkste Partei blieb und mit Linken und Grünen weiterregieren konnte.

Zwei Fälle gab es, in denen Müller als Regierungschef mehr Durchsetzungsvermögen zeigte: Als Andrej Holm vor zwei Jahren seinen Job als Staatssekretär der linken Bausenatorin Katrin Lompscher aufgeben musste, weil er seine Stasi-Vergangenheit nicht rechtzeitig offenbarte. Da hatte sich der Regierende nach anfänglichem Zögern vehement eingemischt. Sehr engagiert zeigte er sich auch, als die den Grünen nahestehende Verkehrssenatorin Regine Günther kurz vor Weihnachten 2018 ihren krebskranken Staatssekretär Holger Kirchner vor die Tür setzte. Müller bemühte sich, wenn auch vergeblich, dies zu verhindern und versprach Kirchner nach der Genesung einen Job in der Berliner Senatskanzlei.

In beiden Fällen ging es wohl auch darum, die Koalitionspartner der SPD zu disziplinieren und vorzuführen. So wurde es jedenfalls in beiden Parteien wahrgenommen. Es war ein direkter Angriff auf die beiden schwächsten Senatorinnen von Linken und Grünen. Zu wenig Wohnungsneubau und der Streit um den Checkpoint Charlie, kein Fortschritt im Radverkehr und ein Dauerkonflikt um die Frage, ob Berlin in absehbarer Zeit neue U-Bahnlinien braucht. Doch bis heute fand sich kein Anlass, mit dem sich Katrin Lompscher und Regine Günther aus dem Amt hebeln ließen.

Orientierung und Führung sind von ihm nicht zu erwarten

Gleiches gilt auch für das dritte große Fragezeichen im Senat: Sandra Scheeres. Der Regierende Bürgermeister hat zwar das Recht, Senatsmitglieder zu entlassen. Aber in diesem Fall gilt wohl: Alle – oder keine. Dieses Gleichgewicht der Schwäche hält Rot-Rot-Grün bislang stabil. Nur gibt es spätestens jetzt einen feinen Unterschied: Während Linke und Grüne ihre schwächelnden Senatorinnen aus machttaktischen Erwägungen geradezu auf Händen tragen, ist Scheeres in der eigenen Partei nur noch gelitten. Trotzdem wäre es für die Berliner SPD und deren „scheiß Umfragewerte“, wie es der Landeschef Müller kürzlich selbst formulierte, ein Offenbarungseid, die eigene Bildungssenatorin freiwillig aufzugeben. Zudem wäre es schwierig, hört man aus SPD-Vorstandskreisen, einen qualitativ hochwertigen Ersatz für die Hauptstadt zu finden.

Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres ist selbst in den eigenen Reihen nur noch gelitten.
Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres ist selbst in den eigenen Reihen nur noch gelitten.

© DAVIDS/Sven Darmer

Dass Müller aus eigenem Entschluss den Knoten durchschlagen könnte, traut ihm auch in der eigenen Partei niemand zu. Orientierung und Führung seien von ihm nicht zu erwarten. Dem Regierenden Bürgermeister, so ist zu hören, geht die am „Fall Rackles“ neu formierte innerparteiliche Kritikerfront ziemlich auf die Nerven. Müller vermutet offenbar eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung der innerparteilichen Gegner, die sich um den SPD-Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh scharen.

Für diese These spricht, dass beide Kontrahenten jeweils mit miserablen Ergebnissen in ihren Ämtern als Landes- und als Fraktionschefs der SPD bestätigt wurden. Müller im Juni vergangenen Jahres, Saleh vor einem Monat. Das schaffe Klarheit und Spielraum für die weiteren Auseinandersetzungen, heißt es in der Partei. Feuer frei! Es ist auch kein Geheimnis, dass der bildungspolitisch sehr engagierte Saleh die Senatorin Scheeres nach der Abgeordnetenhauswahl 2016 gern abgelöst hätte. Mit Müller war das nicht zu machen.

Kämpfe an zwei Fronten

Gegen Müllers Verschwörungstheorie spricht, dass die nächste Berliner Wahl erst im Herbst 2021 stattfindet. Da käme der Königsmord eindeutig zu früh. Außerdem gibt es auch bei der linken SPD-Mehrheit in Berlin viele Kräfte, die den brennenden Ehrgeiz Salehs, der sich immer noch zu Höherem berufen fühlt, mit Argwohn beobachten. Außerdem sind da noch zwei andere potenzielle Spitzenkandidaten im Gespräch: Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und Innensenator Andreas Geisel. Für Müller ist dies keine Hilfe, zumal er das Problem hat, an zwei Fronten kämpfen zu müssen.

Denn nicht nur die Partei, auch die Koalition macht dem SPD-Mann schwer zu schaffen. Selbst wenn er nicht in Berlin ist, wie am Dienstag, als unter der Leitung des Vize-Bürgermeisters Klaus Lederer (Linke) unter dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ die Stimmung mal wieder entgleiste. Es krachte gleich mehrfach: wegen des Polizeieinsatzes während der Mieten-Demo im Wrangelkiez, wegen der S-Bahnausschreibung und dem geplanten Kauf von Wohnblocks in der Karl-Marx-Allee. Aber über ein neues Grundsatzpapier zur Verwaltungsreform und das neue Leitbild für Berlin stritten die Koalitionäre.

„Beunruhigend“ sei die innere Verfassung des Senats, berichten Teilnehmer der Sitzung. „Deprimierend“, „krass“. Das gehe jetzt schon so seit einem Dreivierteljahr. Dass Müller den Linken und Grünen auf dem SPD-Parteitag Ende März den gesunden Menschenverstand absprach und ihnen eine ideologisch besetzte Bau- und Verkehrspolitik vorwarf, hat zur Beruhigung der Lage nicht beigetragen. Momentan fühlen sich die Grünen vom sozialdemokratischen Regierungschef besonders gemobbt. „Der will unser Scheitern als momentan stärkste Berliner Partei auf den Weg bringen“, bewertet ein führender Politiker der Umweltpartei die Situation.

Vorsichtshalber haben sich die Grünen schon bei den Linken erkundigt, wie es denn in den letzten Jahren von Rot-Rot mit den Sozis gelaufen sei. Ab 2009, so wurde ihnen gesteckt, hätten die Sozialdemokraten nur noch „Spielchen gespielt“ und fast alles blockiert. Zwei Jahre später, nach der Abgeordnetenhauswahl im September 2011, zerbrach das Regierungsbündnis.

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