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Aus alter Verbundenheit. Es ist für viele Berliner ein Ritual, am Jahrestag der deutschen Kapitulation vor dem sowjetischen Ehrenmal in Berlin Blumen und Kränze niederzulegen.

© dpa

Russland-Freunde in der Krim-Krise: Die Verdammten dieser Tage

Die Entwicklungen auf der Krim machen es ihnen schwer. Eben noch durften sie, die Russenfreunde, sich unbeschwert zu einem Land bekennen, dem sie viel verdanken. Jetzt sind sie in Verdacht geraten. „Russophobie“ nennt das Cyrill Pech. Über eine Stimmung, die gekippt ist.

Mit seinen 75 Jahren hat Cyrill Pech, seit seiner Zeit als Oberschüler verbriefter Freund des russischen Volkes, das diesbezüglich Schlimmste längst hinter sich. Er sitzt auf seiner Wohnzimmercouch und denkt an früher, an die Nachwendezeit in Ostdeutschland und daran, dass er damals gar nicht mehr hat mitzählen können, wie es immer einsamer wurde um ihn herum. Alle zehn Sekunden ging ihm einer seiner Mitfreunde von der Fahne.

„Ich kann mich rühmen, eine Organisation, die mehr als sechs Millionen Mitglieder hatte, auf ein paar hundert runtergebracht zu haben“, sagt er. Die Organisation hieß „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“. Pech war ihr letzter, Anfang 1990 gewählter Vorsitzender. Jeder dritte DDR-Bürger war damals Mitglied, zwei Jahre später so gut wie niemand mehr.

Seitdem ist es ein schwieriges Geschäft geblieben, deutsche Freundschaft zu den Russen zu organisieren. Seit einigen Wochen, seit dem Umsturz in der Ukraine und Russlands Reaktionen darauf, kommt auch noch Erklärungsbedarf dazu. Pech, weißes Haar, schwarz gerahmte Brille, sagt: „Ich sage immer: Es gibt imperiale Völker, und die Russen gehören dazu.“ Er rechtfertigt das nicht, er stellt fest.

Der Russe an sich: In der Seele verletzlich, immer beleidigt

Pech leitet heute eine der Nachfolgeorganisationen der Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft, den Verein der Berliner Freunde der Völker Russlands. Der Verein hat 120 Mitglieder, beinahe ebenso viele, wie es Völker in dem Land gibt. Einmal im Monat treffen sie sich zu Vortragsveranstaltungen, die meisten von ihnen sind in Pechs Alter.

Sie sind die Letzten ihrer Art, durch ihren Beruf, ihre Freunde oder Verwandtschaft mit Russland verbunden. Sie waren dort, sie kennen sich aus. Sie versuchen zu verstehen, was in diesen Tagen im Kreml und auf der Krim vor sich geht, sie erklären sich gegenseitig die Lage und bleiben hinterher dennoch oft ratlos. Auch wenn sie selber am besten wissen, dass man Russlands Regierung nicht mit Russlands Volk verwechseln sollte, sehen sie ihre Freundschaft zu diesem Volk auf eine Probe gestellt.

Und ganz grundsätzlich befürchten sie, dass ein Wesenszug der Deutschen neue Nahrung erhält: die „Russophobie“.

„Russophobie“, sagt Pech auf seiner Wohnzimmercouch, „dieser Anti-Russismus hier in der deutschen Gesellschaft, ich habe das Gefühl, dass da immer noch der alte deutsche Antikommunismus dahintersteckt.“

Das Wort fiel auch mehrfach auf der letzten Vortragsveranstaltung der Berliner Russlandfreunde im Februar, bei der nächsten Ende März wird es das alleinige Thema sein. „Russophobie“ hatte Pech auch auf der Jahreshauptversammlung des Vereins vor zwei Wochen gesagt: „Ein Punkt, auf den wir immer wieder kommen, ist die tief verwurzelte Russophobie, die wir ja gerade wieder in fast unverträglichem Maße bei der Olympia- Berichterstattung und im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine erlebt haben.“

Man konnte das übertrieben finden. Man konnte mit Pech aber auch sich jemanden äußern hören, dessen Wahrnehmung diesbezüglich geschärft ist.

Pech ist Sorbe. Geboren wurde er im Jahr 1938, als es üblich war, Kinder Fritz oder Adolf zu nennen. Pechs Eltern gaben ihrem Sohn stattdessen den Namen eines Slawen-Apostels. „Wenn Sie mich fragen würden: Sind Sie ein Deutscher?“, sagt er, „würde ich sagen: Nein. Ich bin ein Deutschländer.“ Ein Sorbe in Deutschland, so will er das verstanden wissen, der in seinem Leben etliche Erfahrungen des Fremdelns mit ihm, des Fremdseins gemacht hat.

In Deutschland lebende Russen sehen sich Skepsis der Einheimischen gegenüber

Zusätzlich dazu hat er ein historisches Bewusstsein. Der Zeitschrift „Die Sowjetfrau“, die ihn im Jahr 1990 porträtierte, sagte er damals: „Letztlich verdanke ich, wie das sorbische Volk überhaupt, meine Existenz der Befreiung vom Faschismus.“ Also der Roten Armee.

In der 9. Klasse trat er in die DSF ein, später wurde er Pfarrer, also Spezialist fürs Zuhören, Predigen, fürs Sich-auf-Menschen-Einlassen und ein wenig auch fürs Gras-wachsen-Hören.

Aber dennoch: Russophobie?

In Deutschland lebende Russen berichten von etwas Ähnlichem, einer Art Vorstufe davon. Sie scheinen alle die gleiche Erfahrung hier zu machen, sie sehen sich einer tief sitzenden Skepsis der Einheimischen gegenüber. Wen man auch fragt, Eltern, die ihre Kinder in eine russisch-deutsche Kita bringen, Kunden im Berliner Rossija-Supermarkt, russische Verbandsvertreter, Spätaussiedler, sie alle berichten von ihrem Gefühl, den Deutschen irgendwie suspekt zu sein.

Tatjana Forner kann sich gut an die Zeiten erinnern, als sie anfing, Verdacht zu erregen. Man beobachtete sie aus einem Kleinbus heraus, der vor dem Haus stand. Man machte Fotos von ihr und von allen anderen, die es betraten und verließen. Die Obrigkeit wollte informiert sein über den Arbeitsalltag und die Kontakte dieser Frau, denn sie lebte damals zwar schon 20 Jahre hier, sie war längst zu Hause in Berlin, Hauptstadt der DDR, aber sie stammte immer noch aus Moskau. Sie musste also zwangsläufig den Gorbatschow-Virus in sich tragen, dachte man, und dessen Verbreitung war zu verhindern.

Das Klischee: Die verletzte russische Seele, verstehen Sie?

Einer der Letzten. Cyrill Pech, 75, war Pfarrer, bevor er 1990 an die Spitze des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvereins gewählt wurde. Damals hatte der sechs Millionen Mitglieder.
Einer der Letzten. Cyrill Pech, 75, war Pfarrer, bevor er 1990 an die Spitze des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvereins gewählt wurde. Damals hatte der sechs Millionen Mitglieder.

©  Alice Epp

Der Virus verbreitete sich dennoch, die 80er Jahre gingen zu Ende, genauso wie die DDR und das Gefüge der halben Welt, aber der Verdacht ist geblieben. Er gründet sich wie damals allein auf die Herkunft, geht jedoch längst nicht mehr nur von oben aus. Es geht auch nicht mehr um Gorbatschow, sondern um alles Mögliche. Der Russe an sich ist verdächtig und bedarf deshalb der Maßreglung.

Das ist die Gefühlslage. Tatjana Forner, mittlerweile seit 45 Jahren in Berlin ansässig, sagt, dass sie deshalb sehr traurig sei. Sie arbeitet noch immer in jenem einst überwachten Gebäude, auf ein paar der insgesamt 29 000 Quadratmeter Nutzfläche des „Russischen Hauses“ in der Friedrichstraße, das ein Kulturzentrum ist und irgendwie auch exterritoriales Gebiet. Hier zog sie 1988 ein, nachdem sie den Verein „Dialog“ gegründet hatte, der die Integration von Einwanderern aus den Ländern der einstigen Sowjetunion betreibt und Kontakte zu Einheimischen organisiert. Forner, Jahrgang 1946, sitzt in der dritten Etage und hat einen guten Überblick.

200 000 Menschen in Berlin sollen russische Wurzeln haben, ganz genau weiß es niemand. Viele davon, so sagt es Forner und so sagen es eigentlich alle aus dieser großstadtgroßen Menschengruppe, die auf entsprechende Fragen Antworten geben, fühlen sich in Mithaftung genommen für alles, was dort, wo sie oder ihre Vorfahren herkommen, gerade passiert.

Sie und ihresgleichen haben Wladimir Putin wiedergewählt. Oder sie haben nicht laut genug gegen Putin’sche Wahlfälschungen protestiert. Sie haben ihren Anteil am ukrainischen Blutbad. Sie sind bei der Mafia oder zahlen zumindest Schutzgeld an sie. Sie sind als deutschstämmige Spätaussiedler hergekommen, aber richtig deutsch sind sie nicht. Sie haben die Jüdische Gemeinde unterwandert. Sie hassen Homosexuelle. Sie haben eine olympische Goldmedaille im Eiskunstlaufen gewonnen, obwohl doch eine Koreanerin die Titelfavoritin gewesen und auch viel besser gelaufen ist.

„Ja“, sagt Forner, „und aus den Wasserhähnen in den Hotels in Sotschi floss braunes Wasser.“

Oder nur kaltes.

Oder gar keins.

Die Deutschen, sagen sie, hätten den fatalen Hang zu Details

Zwischen zwei nebeneinander stehenden Toilettenschüsseln fehlte die Trennwand.

Bei der Eröffnungsfeier klappte irgendetwas mit einem der fünf olympischen Ringe nicht. Die Gulags kamen in der Inszenierung auch nicht vor.

„Alles interessant“, sagt Forner, „aber wenn man das Gefühl bekommt, dass solche Dinge zur Hauptinformation werden, dann wird es komisch. Bestenfalls.“

Im Grunde mag sie darüber überhaupt nicht reden.

Reden darüber ist für sich genommen doch schon wieder genauso klischeehaft und stereotyp wie das Russlandbild der Deutschen, das hatte sie einige Tage zuvor schon am Telefon gesagt. Die verletzte russische Seele, verstehen Sie? Das russische Beleidigtsein.

Sie musste überredet werden, und nun sitzt sie hier in ihrem Büro, an der Wand gerahmte Fotografien mit Walter Jens darauf, Stephan Hermlin, Roman Herzog, der jungen Angela Merkel, und sagt: „Es gibt Phasen, wo ich sage, ich liebe die Deutschen. Und manchmal sage ich, ihr seid irre.“

Die Deutschen, sagt sie, schauten viel zu oft und viel zu gern auf Kleinigkeiten. Wie die Leute auf der Titanic kurz vorm Untergang. Die hätten auch alles Mögliche gesehen, nur den Eisberg nicht.

Die Deutschen sahen in Sotschi zum Beispiel eine Metalltür. Sie kam vor in einem Fernsehbeitrag, erzählt Forner, der zwischen der Sportberichterstattung lief und von einem Schwulenklub handelte. Alles war einigermaßen gut in diesem Klub, aber am Ende blieben zwei wichtige Informationen übrig: die Metalltür, der Klub musste sich offenkundig verschanzen; außerdem befand er sich nicht auf einer der Hauptstraßen Sotschis, sondern etwas abseits.

Ist das jetzt nicht ein wenig pingelig, Frau Forner?

Vielleicht, sagt sie. Aber sehen Sie nicht das Aufgesetzte daran? Man zeige recht schöne Olympische Spiele, und dann erinnere man sich daran, dass man ja auch etwas kritisch sein muss. Ist ja Russland. „Das ist Deutschlands nicht würdig. Das fällt auf das Land zurück.“

Forner hat hohe Ansprüche. Sie weiß das selber. Aber es ist über die vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte eben auch Etliches zusammengekommen an verallgemeinernden Vorwürfen, die soziologischen Studien zufolge auch eine Abschottung der Russen in Deutschland befördern, etwas Wagenburghaftes in ihnen stärken. Sie wenden sich ab, oder sie zahlen mit gleicher Münze heim und machen den Deutschen ihrerseits Vorwürfe, oder sie werden grundsätzlich. Wie Forner.

Die Chance der öffentlichen Aufmerksamkeit

„Ich habe ein Gespür für Veränderungen“, sagt sie. Erfahrungswerte, das letzte Jahr der DDR zum Beispiel. „Es war klar damals, dass alles untergeht, weil die Menschen lange nicht mehr miteinander gesprochen haben.“

Die Titanic, das Ende der DDR. An der Oberfläche ist davon nichts zu bemerken, aber wer als Deutscher mit Fragen durch dieses große Russische Haus läuft, spürt etwas anderes. Der trifft mit jedem Tag, der vergeht, tatsächlich auf immer größere Sprachlosigkeit und größeres Desinteresse, auf Skepsis der Russen und Russenfreunde den Deutschen gegenüber.

Menschen, die in den Tagen von Sotschi auskunftsbereit gewesen waren, Einladungen aussprachen, sich Zeit nahmen, sind seit den Toten vom Maidan nicht mehr zu treffen – wollen nicht.

Cyrill Pech, der Russlandfreund, dagegen schon. Vielleicht, ohne es sich bewusst zu machen, sieht er ja sogar eine Chance in der öffentlichen Aufmerksamkeit, die Russland gerade zuteil wird. Auch wenn ihr Anlass kein guter ist. Aber hinschauen, Fragen stellen ist immer gut, sagt Pech. Es könne nur besser werden.

Dann steht er auf, geht hinüber zum Bücherregal, nimmt einen Brockhaus-Band heraus. Schlägt den Eintrag zur Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft auf, liest vor. „Die Mitgliedschaft in der DSF gilt in der DDR als Mindestnachweis ,gesellschaftlicher Aktivität‘.“

Die Worte „gesellschaftliche Aktivität“ sind in Anführungszeichen gesetzt, es ist eine Umschreibung für systemkonformes Verhalten, eine Art Schimpfwort.

Wer sie dagegen wörtlich nimmt, der hat Cyrill Pech wahrscheinlich verstanden.

Erschienen auf der Dritten Seite. Weitere Reportagen finden Sie hier.

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