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Der wiedergewählte SPD-Chef Martin Schulz und der Juso-Vorsitzende Kevin Kuehnert.

© Reuters/Fabrizio Bensch

SPD-Parteitag: Die Prüfung des Martin Schulz

Der SPD-Parteitag wählt Schulz erneut zum Parteichef. Und macht ihm klar, dass er es in Zukunft nicht leicht haben wird.

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Vielleicht sind die drei Minuten davor die schlimmsten. Martin Schulz sitzt oben in der ersten Reihe auf der Vorstandstribüne. Vor ihm im Saal der Messe Berlin warten 600 Genossinnen und Genossen darauf, dass er spricht.

Der SPD-Vorsitzende knetet die Finger, kratzt sich am Bart, prüft den Sitz seines Krawattenknotens. Er hat sich genau überlegt, was er gleich sagen wird. 70 Seiten Manuskript hat er dabei für eine Rede, von der so vieles abhängt: eine stabile Regierung für Deutschland, die Zukunft der SPD als Volkspartei und nicht zuletzt seine eigene.

Schulz gibt sich einen Ruck, steht auf und geht die fünf Meter über die Bühne zum Pult, auf das die Parteitagsregie ein Motto geklebt hat. „Das ist unser Weg: Modern und gerecht.“ Die Frage ist nur, ob der angeschlagene Parteichef der SPD an diesem Donnerstag einen Weg weisen kann, der nicht in eine Sackgasse führt.

Jeder im Saal weiß: Der Parteivorsitzende hat eine atemberaubende Kehrtwende hinter sich. Am Tag nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen schloss er kategorisch aus, dass die Sozialdemokraten wieder in eine große Koalition eintreten könnten. Nun aber geht es genau darum, um Gespräche mit der Union über eine Regierungsbildung. Die müssen nicht auf eine große Koalition hinauslaufen, können es aber. Eine Aussicht, die viele Delegierte unten im Saal angst und bange werden lässt.

75 Minuten nimmt er sich Zeit

Dagegen muss der 61-Jährige nun anreden. Schulz weiß, dass fast alle linken Parteien in Europa heute auf die Entscheidung seiner SPD über die Verhandlungen mit der Union warten; die EU-Linke drängt darauf, dass die Partei Regierungsverantwortung übernimmt. Denn nur mit der SPD an der Macht, so glauben sie, lässt sich ein sozialeres Europa durchsetzen. Und Europa, das ist Schulz’ Lebensthema. Aber genügt Europa, um die SPD von einer großen Koalition zu überzeugen?

75 Minuten nimmt sich Martin Schulz Zeit. 75 Minuten, in denen er vieles zu vielem sagt. Es geht auch um die Zukunft der Arbeit im Digitalzeitalter, um einen Aufbruch in der Bildungspolitik, eben um die starken Versprechen aus dem Wahlprogramm. Außerdem hat Schulz ein ausführliches Lob für die „Me too“-Debatte im Angebot.

Je länger man dem Parteichef zuhört, umso stärker wird der Eindruck, dass es da einer sehr vielen recht machen will. Etwa mit der Erzählung über seine Begegnung mit einer alten Schildkröte aus dem Ozeaneum in Stralsund. Die Tierart ist vom Aussterben bedroht, sagt Schulz, weil Plastikmüll die Meere verschmutzt. Das wärmt das Herz der Delegierten, es gibt Applaus. Das fällt schon deshalb auf, weil der eigentlich sehr gute Rhetoriker fast 20 Minuten braucht, bis er den Saal zum ersten Mal zu längerem Beifall bewegen kann.

Es war am 19. März

Dass er selbst unter Druck steht, als Vorsitzender einer Partei, der es so ergehen könnte wie den Schildkröten, – das verschweigt Schulz nicht, im Gegenteil. „Es ist nicht leicht, hier zu stehen nach so einem Jahr“, gesteht er nach wenigen Sätzen: „So ein Jahr habe ich noch nicht erlebt in meiner politischen Karriere.“

Tatsächlich haben Schulz und seine SPD eine politische Achterbahnfahrt hinter sich. Neun Monate ist es erst her, dass derselbe Martin Schulz, der am Donnerstagabend bei seiner Wiederwahl um ein achtbares Ergebnis kämpfen muss, von seiner Partei nur halbironisch als „Gottkanzler“ gefeiert wurde.

Vor wenigen Tagen hat sich der SPD-Chef das Video noch einmal angeschaut vom Höhepunkt des Schulz-Hypes. Es war am 19. März in einer alten Industriehalle in Berlin-Treptow, als auf dem Wahlparteitag sein Ergebnis von unglaublichen 100 Prozent verkündet wurde. Auf dem Mitschnitt ist zu sehen, wie er vor Rührung die Hände vorm Gesicht zusammenschlägt.

Doch danach ging es bergab: drei verlorene Landtagswahlen, schließlich das historische Desaster am 24. September im Bund. Die Debatte in der SPD um seine Fehler wird Schulz seither nicht mehr los.

Er bittet höflich um freie Hand

In der Berliner Messehalle versucht Schulz es deshalb mit Selbstkritik. Bei all den Menschen, die der SPD ihr Vertrauen geschenkt und auf einen sozialdemokratischen Bundeskanzler gehofft hätten – „bei all diesen Menschen bitte ich für meinen Anteil an dieser bitteren Niederlage um Entschuldigung“, sagt er. Und weiter: „Ich kann die Uhr nicht zurückdrehen, aber ich möchte als Parteivorsitzender meinen Beitrag dazu leisten, dass wir es besser machen.“

Die Verbeugung soll den Weg frei machen für seine Wiederwahl. Er hofft auf die Basis, die anders als viele in der Parteiführung noch immer an ihm hängt. Nach dem Platzen der Jamaika-Träume hat Schulz einige Tage gebraucht, um zu verstehen, welche Chance ihm daraus erwachsen ist. Wer, wenn nicht „der Martin“ mit seiner Gabe, an die Gefühle der Genossen zu rühren, kann die Partei in das verhasste Bündnis mit der Merkel-Union führen?

Wobei das Wort „führen“ an diesem Tag nicht der Begriff ist, der einem bei seinem Auftritt als Erstes einfällt. Vielleicht ist das die größte Schwäche der Rede des Parteichefs – er bittet höflich um freie Hand für ergebnisoffene Gespräche. Aber er gibt keine Linie vor. Was er selbst will, lässt er offen. Die SPD steht am Scheideweg, aber ihr Vorsitzender agiert ziemlich defensiv.

„Wir müssen nicht um jeden Preis regieren“

Dabei steuert Schulz intern längst in Richtung große Koalition, redet in kleinem Kreis skeptisch über die Variante einer Minderheitsregierung. An Neuwahlen lässt er kein Interesse mehr erkennen, seitdem ihm diverse Mitglieder der engeren Parteiführung unmissverständlich klar gemacht haben, dass er nach dem Scheitern im Herbst nicht noch einmal Kanzlerkandidat werden kann.

Mit der Union reden oder nicht? Martin Schulz hat den größten Teil seiner Rede hinter sich, als er zum Kern kommt. Der Parteitag soll nicht den Weg verstellen für den Aushandlungsprozess mit der Union, den er schon nächste Woche beginnen will. „Auf den Inhalt kommt es an und nicht auf die Form“, ruft Schulz. „Wir müssen nicht um jeden Preis regieren, aber wir dürfen auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.“

Erst mit der Union über die eigenen Forderungen reden und sehen, wie viel vom eigenen Programm durchsetzbar sei – das ist sein Angebot und seine Bitte. Gleich zwei Mal sagt er: „unsere politischen Inhalte zuerst und keinen Automatismus in irgendeine Richtung“. Für dieses Vorgehen, verspricht er, „gebe ich euch meine Garantie“.

Nahles verspricht harte Verhandlungen

Das Problem ist nur: Im Saal rührt sich kaum eine Hand an dieser entscheidenden Stelle. Spätestens jetzt wird den Strategen klar: Der Parteitag kann auch aus dem Ruder laufen. Auf den Fluren unken manche schon. Nicht auszudenken, was ein Nein der Delegierten zum Leitantrag der Parteispitze zur Folge hätte. Die deutsche Sozialdemokratie hätte sich ins Abseits manövriert, ihre Führung könnte zurücktreten. Und das Land stünde vor der Frage, ob es Neuwahlen gibt. Das Wort von der Staatskrise – dann wäre es wohl angemessen.

Den Kampf gegen das Chaos nehmen andere auf, in einer stundenlangen Debatte. 80 Genossinnen und Genossen wollen sprechen. Die Gegner einer möglichen Koalition treten sehr entschieden auf, allen voran Kevin Kühnert. Er sei nicht in die SPD eingetreten, „um sie immer wieder gegen die gleiche Wand laufen zu sehen“, ruft der Juso-Chef. „Die Erneuerung der SPD wird außerhalb der großen Koalition sein, oder sie wird nicht sein.“ Großer Beifall. Zu großer Beifall?

Fraktionschefin Andrea Nahles hält dagegen, und zwar mit einer Verve, die manche beim Parteichef vermisst haben. „Wenn ich einigen hier zuhöre, dann springt mich hier Angst an, Angst vor dem Regieren“, poltert sie. „Unser Maßstab kann aber nicht Angst sein, sondern nur inhaltliche Überzeugung und Selbstbewusstsein.“ Nahles verspricht harte Verhandlungen mit der Union. „Das wird für die ganz schön teuer.“ Dann schickt sie noch ein schadenfrohes „Bätschi“ an die Adresse der Union hinterher. Auch das kommt an.

Einer spricht aus, was viele befürchten

Das nächste politische Schwergewicht, das sich für die Gespräche mit der Union stark machen muss, ist Stephan Weil. Der niedersächsische Ministerpräsident ist so etwas wie der letzte Held der SPD, hat nach der Bundestagswahl die Macht in Hannover verteidigt und seine Partei zur stärksten dort gemacht. Die SPD dürfe nie nur „Selbstzweck“ sein, müsse das Leben ihrer zehn Millionen Wähler besser machen, fordert er: „Davor darf man nicht kneifen.“

Wie unsicher die Lage zu diesem Zeitpunkt ist, zeigt der Auftritt von Michael Groschek. „Wir brauchen eine vertrauensbildende Maßnahme, damit dieser Parteitag nicht zu einem Misstrauensvotum wird“, verlangt der Vorsitzende der mächtigen NRW-SPD. Damit spricht Groschek aus, was viele aus der SPD-Führung im Stillen befürchten: Der Parteitag könnte sie auflaufen lassen. Um das ganz sicher zu verhindern, macht der NRW-Vorsitzende den Skeptikern ein Angebot. Bereits nach den Sondierungsgesprächen mit der Union soll ein Sonderparteitag entscheiden, ob Koalitionsverhandlungen überhaupt Sinn haben.

Den ganzen Nachmittag hat Martin Schulz sich die Debatte von seinem Platz in der ersten Reihe aus schon angehört. Immer wieder suchen andere SPD-Politiker das Gespräch mit ihm, wollen sich beraten. Draußen ist es längst dunkel geworden.

Die Erleichterung steht ihm ins Gesicht geschrieben

Drinnen steuert der Parteitag auf die Entscheidung zu. Noch einmal wirbt Juso-Chef Kühnert für eine Absage an die große Koalition: „Nach so einer Debatte ist nicht der Tag für Stallorder. Heute ist der Tag, an dem die SPD einen ersten großen Schritt zur Erneuerung gehen kann.“

Jetzt ist Schulz wirklich gefordert – und diesmal geht er es mutiger an als am Mittag. Drei Probleme nennt er, bei denen die SPD in der Pflicht sei zu handeln: Pflegemisere, Wohnungsnot, sinkende Renten. Den Menschen, die darunter litten, sei die SPD etwas schuldig. „Die warten auf uns, die brauchen uns“, ruft er. Ein Basta ist das freilich nicht. Es käme auch nicht gut an. „Die Zeiten, in denen ein Parteivorsitzender hier Stallorder ausgegeben hat, die sind vorbei“, versichert er Juso-Chef Kühnert.

Damit ist alles gesagt. Klarer, als erwartet, stimmen die rund 600 Delegierten gegen ein Nein zur großen Koalition und gegen unverhandelbare Vorgaben für die Gespräche mit der Union. Und auch mit seinem Ergebnis bei der Wiederwahl als Parteichef kann Schulz zufrieden sein. Die Erleichterung steht ihm jedenfalls ins Gesicht geschrieben, als die Zahl verkündet wird: 82 Prozent. Einen nach dem anderen umarmt der Vorsitzende auf dem Podium, alle wollen ihm gratulieren.

In diesem Moment scheint der Gedanke keine Rolle zu spielen, dass an diesem Abend erst eine erste Etappe geschafft ist auf dem langen Weg, den Schulz gehen will. Kann er der Union so viel abverhandeln, dass ein SPD-Sonderparteitag im Januar damit zufrieden ist und grünes Licht für Koalitionsverhandlungen gibt? Eines ist sicher nach diesem Donnerstag in der Berliner Messehalle: Die SPD wird es ihm nicht leicht machen.

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