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Jahrzehntelang stritt Hideko Hakamada um ein Wiederaufnahmeverfahren für ihren Bruder. In seiner Jugend war er ein berühmter Boxer.

© AFP

Todeskandidat in Japan: Freiheit nach 48 Jahren

48 Jahre saß er in der Todeszelle, länger als jeder andere auf der Welt: Iwao Hakamada, verurteilt wegen Mordes. Aber seine Schwester glaubte an seine Unschuld und kämpfte ein Leben lang für ihn. Jetzt musste er freigelassen werden. Und in Japan beginnt eine neue Debatte über die Todesstrafe.

Hideko Hakamada wird wieder gegrüßt. Endlich. Nach 48 Jahren. Die 81-jährige Frau schüttelt Hände, macht Verbeugungen und ist darin noch so geübt, als hätte sie nie damit aufgehört. Als wäre sie nie als die Schwester eines Mörders in Ungnade gefallen.

„Die Aufmerksamkeit freut mich“, sagt sie im lauten Getümmel. Sie ehre sie und nicht bloß sie, sondern vor allem ihren Bruder.

Es ist Sonntagnachmittag. Am Morgen hatte sich Hideko Hakamada in ihrer Heimatstadt Hamamatsu in den Schnellzug gesetzt, 80 Minuten später kam sie in Tokio an. Hier, im Zentrum der japanischen Hauptstadt, soll sie einen kurzen Vortrag über das Befinden ihres 78 Jahre alten Bruders Iwao Hakamada halte. „Ich bin ganz erstaunt“, sagt Hideko Hakamada und kann nicht aufhören dabei zu lächeln. „Dass er noch Treppen steigen kann. Er hat über Jahrzehnte keine Stufen benutzt. Im Gefängnis gab es nur einen Aufzug.“

In dem Hörsaal im sechsten Stock der Meiji-Universität, in dem sie spricht, tost Beifall. Bei dem eintägigen, öffentlichen Seminar über die Todesstrafe ist Hideko Hakamada die Hauptrednerin, denn kaum jemand kennt die beispiellose Geschichte ihres Bruders so gut wie sie. Vor fast 50 Jahren wurde Iwao Hakamada wegen vierfachen Mordes angeklagt, kam ins Gefängnis. Zwei Jahre später wurde er zum Tod verurteilt. Mehr als vier Jahrzehnte lang folgten Revisionen, Hoffnungen, Rückschläge, während die Zuversicht auf eine Neuverhandlung langsam schwand.

Frei nach 48 Jahren Gefangenschaft: Iwao Hakamada.
Frei nach 48 Jahren Gefangenschaft: Iwao Hakamada.

© AFP

Jeder dieser Tage begann für Iwao Hakamada mit dem Wissen, dass er am Strick enden könnte. Bis die Beweislast im Frühling dieses Jahres, nach 48 Jahren, so schwach geworden war, dass man ihn auf freien Fuß setzen musste.

Das Urteil war schon rechtskräftig

Der Fall schlägt hohe Wellen im Land. Erst sechsmal in der Nachkriegsgeschichte Japans wurde ein Prozess wieder aufgenommen, nachdem ein Todesurteil schon rechtskräftig gesprochen war. Und dann noch bei jenem Mann, der spätestens 2011 mit einem Eintrag im Guiness Buch der Rekorde bekannt wurde – als weltweit langlebigster Insasse einer Todeszelle.

Japan debattiert dieser Tage über die Todesstrafe. Nach Hideko Hakamadas Vortrag fragt ein älterer Mann: „Warum haben wir eigentlich unsere ganze Gesetzgebung immer wieder reformiert, nur die Todesstrafe nicht?“

Die Meiji-Universität trägt den Namen einer Ära, die in Japan wie keine andere für Modernisierung steht. Mit den sogenannten Meiji-Reformen übernahm das Land ab 1868 große Teile des deutschen Rechtssystems und aus Frankreich und England Elemente des Bildungssystems. Erstmals schützte Japan den Privatbesitz, bekam eine Verfassung und ein Parlament. In Reiseführern ist immer zu lesen, Japan verbinde das Traditionelle mit dem Ultramodernen. Häufig stimmt das. Aber im Umgang mit Gefängnisinsassen kann heute höchstens noch von Traditionen die Rede sein. Japan ist neben den USA, wo im vergangenen Jahr 39 Menschen hingerichtet wurden, der einzige G-7-Staat, der an der Todesstrafe festhält. Während in den USA jedoch hauptsächlich die Giftspritze zum Einsatz kommt, ist es in Japan der Strick, 2013 wurden acht Menschen auf diese Weise hingerichtet. Weltweit wurden im selben Jahr 1925 Exekutionen in 58 Ländern gezählt – die tatsächliche Zahl aber dürfte deutlich höher liegen. China veröffentlich keine Daten.

Mitte der 1960er Jahre, als Japans Wirtschaft boomte, war Iwao Hakamada gerade 30 Jahre alt und arbeitete in einer Fabrik für Miso, die japanische Sojapaste, aus der Suppen gemacht werden. Hakamada hatte kurz zuvor seine Karriere als einer der besten Profiboxer Japans beendet. In seiner Heimatpräfektur Shizuoka war er ein angesehener Mann, auf der Straße und in Geschäften wurden seine Eltern und Geschwister auf Iwaos Kämpfe im Ring angesprochen.

Dann, im Juni 1966, brannte das Haus eines Vorgesetzten Hakamadas ab. Der Chef, dessen Frau und die zwei Kinder lagen erstochen zwischen den Trümmern, 200 000 Yen waren gestohlen. Iwao Hakamada war am Tatort, um das Feuer zu löschen und zu helfen, wie er selbst sagt. Die Polizei aber vermutete in ihm den Mörder. Im August wurde Hakamada verhaftet, Beamte verhörten ihn 20 Tage lang, ohne dass er einen Anwalt sehen durfte. „Mein Bruder erzählte mir, dass sie ihn verprügelt haben“, berichtet seine Schwester Hideko.

Nach knapp drei Wochen gestand der ehemalige Boxprofi vierfachen Mord, Brandstiftung und Diebstahl – um zu Prozessbeginn alles wieder zurückzunehmen. Hideko Hakamada ist sicher: „Das Geständnis wurde durch Folter aus ihm herausgepresst.“ Das Gericht von Shizuoka verurteilte Hakamada 1968 zum Tode.

Die Verurteilungsrate liegt bei 99 Prozent

Hideki Wakabayashi geht zur Tür, die aus dem Hörsaal führt, in dem die Besucher noch wild diskutieren, und atmet durch. Der 60-Jährige ist japanischer Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, mit dem Hakamada-Fall beschäftigt sich sein Verein seit über 30 Jahren. „Wenn in Japan jemand wegen einer Straftat angeklagt wird, ist die Sache damit schon fast entschieden“, sagt er. Wakabayashi klingt resigniert, fast so, als hielte er sein Land für einen hoffnungslosen Fall.

Die Verurteilungsrate liegt in Japan über alle Vergehen hinweg bei rund 99 Prozent. Im internationalen Vergleich ein extrem hoher Wert. In Deutschland lag die Zahl zuletzt bei etwa 80 Prozent.

Wie ist das zu erklären? Manch einer sagt, den Gesetzeshütern fehle das Budget, um allen Fällen nachzugehen, so dass nur die offensichtlichsten verfolgt werden. Wenige halten es immerhin für möglich, dass das System derart gut funktioniert, dass die Ankläger so gut wie immer richtig liegen. Hideki Wakabayashi und andere Menschenrechtsvertreter haben eine andere Theorie: „Unschuldige Menschen werden verurteilt.“ Das passiere eben, wenn Verhöre nicht aufgezeichnet werden, praktisch niemand kontrollieren könne, was die Polizei mit einem Verdächtigen anstellt. „Wie bei Iwao Hakamada werden Verdächtigte so lange genötigt, bis sie es nicht mehr aushalten und alles gestehen, was ihnen unterstellt wird. Und im Prozess hat so ein Geständnis dann extrem viel Gewicht.“

129 Todeskandidaten sitzen derzeit in japanischen Gefängnissen. Wer zum Tode verurteilt wurde, weiß bis zum letzten Moment auch nicht, wann er mit der Exekution zu rechnen hat. „Gewöhnlich erfahren die Verurteilten eine Stunde vorher, dass sie sterben müssen“, sagt Wakabayashi. Keine Zeit, ein letztes Mal die Angehörigen zu sehen, Briefe zu schreiben. Insassen berichten, dass nur das tägliche Mittagessen ein Hinweis ist, ob man die nächsten 24 Stunden überleben wird: Steht eine Mahlzeit auf dem Tisch, geht das Leben zumindest einen Tag weiter.

Internationale Kritik wies Japan stets von sich

Internationale Kritik hat Japan immer wieder von sich gewiesen. Ende Juni, bei der letzten Hinrichtung, kommentierte Justizminister Sadakazu Tanigaki: „Die Todesstrafe ist eine innenpolitische, interne Angelegenheit.“ Bei „extrem grausamen Morden“, sagte er, sei der Tod die gerechte Strafe. Dieser Meinung sind laut den Umfragen der Regierung auch die meisten der Japaner. Über 80 Prozent befürworten die Todesstrafe.

Auch Hideko Hakamada gehörte einst dazu. „Als mein Bruder verhaftet wurde, war ich 33 Jahre alt. Ich hatte mein eigenes Leben, und die Todesstrafe war immer da“, sagt sie. „Wenn jemand etwas richtig Schlimmes tut, fand ich, ist der Tod wohl die angemessene Strafe.“

Ihre kurzen Haare erinnern an alte Fotos des Profiboxers. Hideko Hakamada, die die hohen Wangenknochen und die schlanke Nase ihres Bruders hat, trägt auch die Frisur des jungen Iwao. Als wollte sie seine Jugend, von der sich so viel im Gefängnis abspielte, am Leben halten.

Als ihr Bruder plötzlich ein Mörder sein sollte, hatte sich Hideko Hakamadas Einstellung geändert. Jede Woche besuchte sie ihn anfangs im Gefängnis. „Er war stark. Er schlug sich seine Fäuste an den Wänden der Zelle blutig, um sich in Form zu halten.“ In Briefen schrieb er an Hideko, dass sich irgendwann alles aufklären werde.

In letzter Instanz gescheitert

1980 beschloss das Oberste Gericht das Gegenteil. Die Verteidiger waren in letzter Instanz gescheitert. Der Vollstreckung stand nichts mehr entgegen, obwohl die Indizien immer dünner werden sollten. Ein DNA-Test entkräftete später den Verdacht, dass an einem blutigen Hemd am Tatort Spuren von Hakamada klebten. Dann traten Zweifel auf, ob das Messer, mit dem er die vier Personen angeblich erstochen hatte, die wirkliche Mordwaffe gewesen sein konnte. Andere Kleidungsstücke, die Hakamada laut Anklage getragen haben soll, stellten sich als zu eng für ihn heraus.

Dass er trotzdem sterben sollte, brach den Todeskandidaten. Hakamada begann, Besucher abzulehnen. Einige Angehörige, auch seine Schwester, erkannte er irgendwann nicht mehr wieder. „Er verlor all seine Emotionen, das war gruselig“, sagt Hideki Wakabayashi.

Hideko Hakamada hatte in der Zwischenzeit alle ihre sozialen Kontakte verloren. Sie war die Schwester eines Mörders geworden. Sie zog sich zurück und verließ ihr Haus über Jahrzehnte nur noch, um ins Gefängnis nach Tokio zu fahren. Auch zu Freunden brach sie den Kontakt ab. „Ich wollte nicht mehr über meinen Bruder ausgefragt werden.“ Sie und die anderen Hakamadas wurden geschnitten, vereinsamten umso mehr, je länger Iwao in seiner Zelle vegetierte.

Erst 2007 änderte sich die Lage. Ein ehemaliger Richter erklärte, dass er die Beweislage, aufgrund derer auch er das Todesurteil mitentschieden hatte, eigentlich für ziemlich dünn halte. Nationale Medien begannen, Japans Rechtssystem infrage zu stellen, der Fall Hakamada rückte wieder in die Öffentlichkeit, Hunderte Unterstützer aus dem Boxverband und Menschenrechtsverbänden demonstrierten. Ende März 2014 befand das Gericht schließlich: Einige Indizien wurden wohl gefälscht, die schon älteren DNA-Befunde fanden Anerkennung. Der Fall wurde neu aufgerollt. Hakamada kam frei. Nach 48 Jahren.

Drei Monate in psychologischer Behandlung

Als der 78-Jährige Ende März das Gefängnis in Tokio verließ, war von dem kräftigen Boxer nicht mehr viel übrig. Ein gebeugter Mann, schütteres Haar, beinahe regungslos, nur das Victoryzeichen, zu dem er seine Hand in die Luft streckte, erinnerte an den einstigen Kämpfer. Die Eltern leben schon lange nicht mehr, zwei ältere Geschwister sind auch verstorben. Iwao Hakamada erfuhr davon Monate später über die Gefängnispost, die nicht immer zuverlässig kam.

Drei Monate in psychologischer Behandlung folgten, seit zwei Wochen lebt er nun im ersten Stock des Hauses seiner Schwester Hideko. „Manchmal erkennt er mich immer noch nicht. Manchmal will er nachmittags um drei Uhr schlafen, weil er das noch aus der Zelle gewohnt war. Da hatte er nichts Besseres zu tun“, sagt die Schwester. Ihre Augen strahlen trotzdem. Sie weiß, wie sensationell das Urteil des Gerichts in Shizuoka ist. „Ich bin so dankbar“, sagt sie an diesem Sonntag nicht zum ersten Mal, „dass er draußen ist.“

Könnte Hakamada ein Präzedenzfall werden, den Weg in die Freiheit ebnen für weitere, womöglich unschuldige Todeskandidaten? Hideki Wakabayashi winkt ab. „Das hoffen wir“, sagt er, „aber bis jetzt deutet nicht viel auf einen Wandel hin. Seit Iwao freigelassen wurde, haben die Gerichte die Wiederaufnahme bei zwei anderen Fällen schon abgelehnt.“ Über einen davon, Masaru Okunishi, wurde an diesem Sonntag eine Fernsehdokumentation gezeigt, die über die schwache Beweislast berichtet und ein im Verhör erzwungenes Geständnis. Okunishi soll fünf Frauen vergiftet haben und sitzt dafür seit mehr als 40 Jahren, in ständiger Erwartung des Todes.

Dass Iwao Hakamada nun frei ist, schafft trotzdem Hoffnungen für die Kritiker von Japans Justiz. „Wenn er bald genesen würde, könnte Iwao uns helfen. Er muss uns von allem erzählen, was er da drinnen erlebt hat.“

Hideko Hakamada ist skeptischer als der Menschenrechtler Wakabayashi. „Mein Bruder ist noch nicht so weit“, sagt sie. „Iwao hat auch ein Recht darauf, noch für ein paar Jahre seines Lebens einfach das zu tun, was er selbst will.“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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