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Am Unfallort in der Grunerstraße, im Januar 2018.

© imago/Olaf Selchow

Tödlicher Unfall in Berlin: Der Fall Fabien – eine Rekonstruktion

Eine junge Frau stirbt in Berlin, weil ein Polizeiwagen in ihr Auto rast. Wollten Polizisten vertuschen, dass einer ihrer Kollegen dabei betrunken war?

Peter G., 51, Hauptkommissar, drei silberne Sterne auf der Schulterklappe, kommt am Montag, dem 29. Januar 2018, zum Spätdienst. Direktion 3, Abschnitt 32, das Dienstgebäude steht in der Keibelstraße, im nördlichen Hinterland des Alexanderplatzes. Es ist 12.45 Uhr. Um 13 Uhr geht ein Notruf ein, gemeldet wird ein Raubüberfall in der „Mall of Berlin“ am Leipziger Platz. Einsatz, los! Es ist falscher Alarm, wie sich später herausstellen wird.

DER UNFALL
Peter G. steuert den Einsatzwagen – mit Blaulicht. Er fährt von der Otto-Braun-Straße durch den Tunnel am Alexanderplatz und raus auf die Grunerstraße. Der Wagen hat noch nicht einmal einen Kilometer zurückgelegt. Fabien Martini, 21 Jahre alt, sitzt in ihrem Renault, der Wagen rollt auf der Grunerstraße in Richtung Leipziger Platz. An dieser Stelle und in dieser Richtung hat die Straße vier Spuren. Von ganz rechts lenkt Martini ihren Wagen nach links zu den Parkplätzen auf der Mittelinsel. Dann ein Knall. Es ist 13.05 Uhr. Der Streifenwagen schlägt mit voller Wucht in die Fahrerseite des Renault ein. Fabien Martini hat keine Chance, sie stirbt noch am Unfallort. Peter G. und sein Beifahrer, ein junger Beamter, werden leicht verletzt in die Charité gebracht.

DER VERDACHT
Ein Jahr nach dem Unfall steht das Vertrauen in den Rechtsstaat auf dem Spiel. Denn erst jetzt kam heraus, dass der Fahrer nicht nur viel zu schnell unterwegs war, sondern dass er zum Unfallzeitpunkt betrunken gewesen sein könnte. Bei einer medizinischen Untersuchung in der Charité etwa eine Stunde danach werden 1,1 Promille Alkohol im Blut des Beamten festgestellt. Haben seine Kollegen verschwiegen, dass sich Peter G. betrunken ans Steuer gesetzt haben könnte?

Tagesspiegel-Recherchen deuten darauf hin, dass nicht nur bei der Polizei einseitig ermittelt wurde, sondern dass offenbar auch die Staatsanwaltschaft lange Zeit wenig Interesse daran zeigte, den Fall lückenlos aufzuklären. Sollte ein Polizist geschützt werden? Warum wurde nicht danach gefragt hat, was mit Peter G. los war? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

DER UNFALLORT
Mittagszeit an der Grunerstraße – das hier ist Gefahrengebiet. Viele Menschen sind nicht zu sehen, dafür Autos. Der Verkehr donnert ohne Unterlass über die Straße. Aus dem Tunnel am Alexanderplatz schießt ein Fahrzeug nach dem anderen in Richtung Leipziger Straße hervor. Die Spur ganz links grenzt direkt an die Parkplätze auf dem Mittelstreifen. Wer die Strecke kennt, weiß: Nur wenige Autofahrer halten sich an die Tempobeschränkung von 50 Stundenkilometern. Polizisten im Einsatz, wie Peter G., müssen sich laut Dienstvorschrift auch nicht daran halten. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung für Blaulichtfahrten gibt es nicht, nur die Maßgabe, dass niemand gefährdet werden darf. Dabei sind Berlins Polizisten nicht selten in Unfälle verwickelt. Allein 2018 insgesamt 1167 Mal, im Schnitt etwa alle acht Stunden.
In der Grunerstraße kracht es regelmäßig. In den vergangenen vier Jahren gab es hier mindestens 165 Unfälle – pro Jahr. Trotzdem hat die Polizei den Verkehr dort lange kaum beobachtet, erst 2018 gab es 18 Geschwindigkeitskontrollen, davor nie mehr als vier im Jahr. Als Ursache für Unfälle an dieser Stelle nennt die Polizei zu geringen Sicherheitsabstand, Fehler beim Rückwärtsfahren und beim Fahrstreifenwechsel.

DER UNFALLFAHRER
Eine Woche nach dem Unfall schreibt Peter G. auf seinem Facebook-Profil: „Ich bin grad verdammt froh, dass Polizeifamilie wirklich real sein kann. Danke an euch, die gerade da sind und ihren Arsch riskieren.“ Jeder Versuch, ihn zu kontaktieren, über Bekannte, über Vertraute, läuft ein Jahr nach dem Unfall ins Leere. Aber der Beamte hat im Internet Spuren hinterlassen. Er war in den sozialen Netzwerken aktiv, betrieb einen Blog, zeigte Fotos von sich: an den Seiten kurz rasiertes Haar, oben lang, nach hinten zum Zopf gebundenes, am Kinn ein langer Zickenbart. Für einen Polizisten zumindest ein ungewöhnliches Aussehen.

Die Accounts in den sozialen Netzwerken und die meisten seiner Texte hat er mittlerweile gelöscht, einige lassen sich rekonstruieren. Sie zeichnen das Bild eines offenbar frustrierten Menschen. Frustriert von schlechten Arbeitsbedingungen, von einer Gesellschaft, die Polizisten keinen Respekt entgegenbringe, von Bürgern, die sich nicht einmal bei einer Verkehrskontrolle anständig benehmen könnten.

Von Politik und Behörden scheint sich Peter G. im Stich gelassen zu fühlen. Immer wieder greift er in seinen Beiträgen die Berliner Politik an. Mal schreibt er, die Stadt kapituliere vor der Kriminalität, mal zweifelt er die offiziellen Kriminalitätsstatistiken der Polizei an. Beamte wie er müssten ihren Kopf „für eine Kuschelpolitik“ hinhalten, sinnlose Überstunden schieben.  

Peter G. schreibt,  wie gern er  Gewalt anwenden möchte, wenn ihn ein Flüchtling  nach der Festnahme wegen Ladendiebstahls auch noch provoziert („Eigentlich zuckt die linke Gerade, aber wir sind Profis... meistens“). Ein anderes Mal schreibt er über „die blöde Sau, die es verdient hat, bei der Festnahme zu leiden, weil sie einfach ein menschenverachtendes Stück Scheiße ist.“

Er wütet gegen jene, die seiner Meinung nach  schuld sind an der Überlastung der Polizei. Zum Beispiel verweichlichte Mitmenschen: „Überstunden werden immer öfter durch einen belanglosen Kackpissdreckscheiss produziert. Hilflose Bürger, die mimimi winseln, weil sie der Meinung sind, dass hier die Polizei einschreiten muss, weil sie sich selber nicht die Finger schmutzig machen wollen.“ An anderer Stelle beschwert er sich über eine – aus seiner Sicht – unnütze „Weltverbesserungsdemo“, die ein „gelangweilter Gutmensch“ angemeldet hat. Auch wenns keine Sau auch nur ansatzweise interessiert.“

Seine Frau hat ebenfalls Texte im Internet publiziert, in denen sie über das Berufsleben ihres Mannes berichtet. So habe er ihr etwa erzählt, dass „Du verlierst, wenn Dir jemand in zehn Meter Entfernung mit einem Messer gegenüber steht. Verbale Deeskalationsscheiße sollte man da eher lassen und einfach die Knarre ziehen. Und schießen.“

Er ist begeisterter Fotograf, liebt düstere, morbide Motive. Für eine Fotosession hält er sich einen Revolver an die Schläfe. Auf einem anderen Bild posiert er mit Axt, dazu ein Zitat aus dem Kinofilm „Django Unchained“: „Krieg ist ne schmutzige Sache. Da halt’ ich mich dran. Jetzt wird es schmutzig.“

Ermittler am Unfallort in der Grunerstraße.
Ermittler am Unfallort in der Grunerstraße.

© imago/Olaf Selchow

Immer wieder lichtet er seine Freunde von der Berliner Metal-Band „Vlad in Tears“ ab – ist aber auch in anderen Kreisen unterwegs. Er dokumentiert Harley-Davidson-Treffen, porträtiert einen Kreuzberger Flüchtling oder Teilnehmer des Christopher Street Days. Auf den Fotos, auf denen er selbst zu sehen ist, schneidet er Grimassen oder hält seinen ausgestreckten Mittelfinger in die Kamera. Auf den ist die Zahlenfolge „110“ tätowiert.

Aber machen ihn solche Details verdächtig? Zumindest bekommt er eine Warnung von den Vorgesetzten bei der Polizei wegen all der Fotos und Posts: Treib es nicht zu weit.

Andere beschreiben Peter G. als „tollen Menschen“, einen Mann mit großem Herzen, fair, einer der sich auch um seine Kollegen kümmert – und wenn es im Dienst sein muss, auch robust zupackt. Etwa wenn er auf dem Alexanderplatz im Einsatz ist, ein Kriminalitätsschwerpunkt.

Dass Peter G. mal „einen getrunken“ hat, auch „über den Durst“, wird erzählt. So wie es viele tun, eben auch bei der Polizei, bei Rettungskräften, bei der Bundeswehr. „Wenn dir was schlimmes passiert ist, gibt der Chef schon mal einen Schnaps aus“, sagt ein Beamter. Alkohol, sagt er, ist das Schmiermittel. Für die Kameradschaft, die Truppe. Blut, Tod, menschliche Abgründe, alles, was sonst niemand sieht, wird ertragen – und heruntergeschluckt, im wörtlichen Sinn.

Als der Alkoholverdacht bekannt wird und Fernsehteams vor seiner Tür in Prenzlauer Berg stehen, verlässt Peter G. die Stadt. Die Polizei verbietet ihm die Ausübung der Dienstgeschäfte – bei vollen Bezügen. Es ist eine Vorstufe, um ihn aus dem Dienst zu entfernen. Für eine Suspendierung, so heißt es, seien die Beweise noch zu dünn, dass G. tatsächlich betrunken am Steuer saß.

Peter G. schreibt am 29. Dezember auf seinem inzwischen gelöschten Facebook-Profil: „Jetzt mal der ganz persönliche Rückblick. Mir ist etwas passiert, was nie hätte sein dürfen. (…) Und nun steht eine Entscheidung an, die mir noch weniger leicht fällt, als der ganze Scheiss aus dem letzten Jahr.“

Der Polizist kommt ins Krankenhaus - keiner interessiert sich für ihn.

DIE ERMITTLUNGEN

Nach dem Unfall rücken am 29. Januar 2018 Kollegen vom Polizeiabschnitt und Rettungskräfte an. Später kommt das Verkehrsunfallkommando. Um 13.50 Uhr wird ein Bereitschaftsstaatsanwalt eingeschaltet, wie üblich bei Unfällen mit Verletzten und Toten. Ab jetzt ist die Staatsanwaltschaft Herrin des Verfahrens. Kein Ermittlungsschritt der Polizei geschieht ohne den Segen, ohne eine Anweisung der Behörde. Die Staatsanwaltschaft sieht jedoch keinen Anlass dafür, sich über eine Blutuntersuchung „Gedanken zu machen“.

Peter G. und sein Beifahrer werden in Rettungswagen gebracht und versorgt. Angeblich kommt keiner der Kollegen auf die Idee, dass G. betrunken gewesen sein könnte. Nur bei einem konkreten Verdacht dürfen sie einen Atemalkoholtest vornehmen. Ein betrunkener Beamter im Dienst und mit Blaulicht auf dem Weg zu einem Raubüberfall – darauf muss man erstmal kommen. Oder will niemand darauf kommen?

Matthias Hardt, der Anwalt der Familie Martini, findet: Allein aus Fürsorge und um jedem Verdacht nachzugehen, hätte die Staatsanwaltschaft auch den Zustand von Peter G. prüfen müssen, Beamte in die Charité schicken müssen. „Übliches Ermittlungshandwerk“, nennt es Hardt. Doch in den Ermittlungsakten findet sich dazu nichts, als der Anwalt im April erstmals Einsicht erhält.

Als Herrin des Verfahrens ist die Staatsanwaltschaft dafür zuständig, die Ermittlungsergebnisse der Polizei zu prüfen, neue Aufträge an die Polizei zu erteilen – falls Fragen offen sind, falls es Lücken gibt. Etwa offene Lücken zu Peter G. – geschlossen wurden sie bis zum April, zwei Monate nach dem Unfall, nach Ansicht des Anwalts, nicht im Ansatz.

Stattdessen scheinen alle Nachforschungen auf Fabien Martini ausgerichtet: Der Bereitschaftsstaatsanwalt ordnet an, dass ein Unfallsachverständiger den Fall untersucht, dass die Leiche von Fabien Martini obduziert wird. Ein Richter erlässt auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Beschluss, das Handy von Fabien Martini auszulesen. Es wurde im Fußraum ihres Autos gefunden. Kurz nach dem Unfall wird über die Medien kolportiert, sie habe kurz vor oder während des Unfalls telefoniert. Der Anwalt sagt: Laut den Ermittlungsakten habe Fabien Martini nicht telefoniert, keine Kurznachricht geschrieben. Auch die Smartbox, die alles aufzeichnet und mit der das Auto über einen Vertrag mit einem Kfz-Versicherer ausgestattet war, wird angezapft. Bis zum 9. Februar 2018, binnen elf Tagen nach dem Unfall, sei Fabien Martini von Justiz und Polizei komplett durchleuchtet worden, sagt der Anwalt.

Am 22. Juli trifft das Gutachten eines zusätzlich eingeschalteten externen Unfallsachverständigen bei der Staatsanwaltschaft ein und wird zu den Unterlagen genommen. Das Ergebnis: Mit 136 Stundenkilometern raste G. mit Blaulicht und Martinshorn durch den Tunnel der Grunerstraße, 134 waren es, als der Wagen aus dem Tunnel kam. Und 93 Stundenkilometer waren es, als der Streifenwagen auf das Auto von Fabien Martini knallte.

Am 15. August berichtet die „Berliner Morgenpost“ über das Gutachten, die Öffentlichkeit weiß nun, dass der Beamte viel zu schnell gefahren ist, dass jetzt wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung ermittelt wird. „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, heißt es dazu in Paragraf 222 des Strafgesetzbuches. Es handelt sich um ein Vergehen, nicht um ein Verbrechen.

Der Anwalt Matthias Hardt, bis Ende August im Urlaub, bekommt am 7. September 2018 die Akte zur Einsicht. Das letzte, was bis dahin in die Akten geheftet wurde, ist nach Angaben des Anwalts das Gutachten vom 22. Juli. Eineinhalb Monate ist demnach nichts geschehen. Die Ermittlungen stehen zu dieser Zeit, so wird später behauptet, kurz vor dem Abschluss. Dass Peter G. vor Gericht gestellt werden dürfte, seine Zukunft auf dem Spiel steht, war mit dem Gutachten klar. Die Staatsanwaltschaft strebt laut Anwalt zunächst kein Verfahren vor dem Landgericht, sondern nur vor dem Verkehrsgericht am Amtsgericht Tiergarten an. Der Staatsanwalt, so erinnert sich der Verteidiger, wirft dem Anwalt vor, Inhalte der Ermittlungsakte an die Presse durchgestochen zu haben. Der Anwalt wiederum beschwert sich, weil die Staatsanwaltschaft noch immer nichts Näheres zu Peter G. ermittelt habe.

Parkplätze auf dem Mittelstreifen in der Grunerstraße - ein Gefahrengebiet.
Parkplätze auf dem Mittelstreifen in der Grunerstraße - ein Gefahrengebiet.

© Jörn Hasselmann

Mehr als sieben Monate ist da der Unfall schon her. In einem solchen Zeitraum dürfte bei anderen Strafverfahren mit solch klarer Faktenlage schon längst umfangreich zum Beschuldigten ermittelt worden sein. In diesem Fall aber nicht. An diesem 7. September stellt der Anwalt schriftlich einen „Antrag auf Blutuntersuchung“ und forderte weitere Ermittlungsschritte, die nach seiner Ansicht nötig sind. Zwölf Tage später erreicht ihn ein erster, anonymer Hinweis per Telefon, dass Peter G. nach dem Unfall betrunken war – Belege dafür erhält er nicht. An diesem 19. September leitet der Anwalt den Hinweis gleich an die Staatsanwaltschaft weiter.

Am 21. September erklärt der Staatsanwalt, eine Blutuntersuchung bei Peter G. sei aufgrund der gesetzlichen Regelungen nicht möglich. Die Staatsanwaltschaft selbst sagt, sie habe noch früher als der Anwalt versucht, diesen Verdacht zu belegen oder zu entkräften. „Ersten Hinweisen auf eine Alkoholisierung ist die Staatsanwaltschaft erstmals durch Nachfrage bei der Ermittlungsdienststelle der Polizei am 7. September 2018 nachgegangen“, vermerkt die Behörde. Hat sie – wie der Anwalt – einen Hinweis bekommen?

Bei der „Ermittlungsdienststelle“ handelt es sich um die Verkehrsunfallermittler der Polizeidirektion 3, jener Direktion also, in der Peter G. beschäftigt war.

Im Oktober teilt die Staatsanwaltschaft mit: „Der Beschuldigte hat nach Akteneinsicht über seinen Verteidiger bereits am 22. Oktober 2018 eine Stellungnahme abgegeben.“ Was diese genau beinhaltet, sagt die Behörde nicht.

Am 9. November 2018 bekommt der Anwalt der Familie Martini einen „schriftlichen Beleg“ zum Blutalkoholwert von Peter G. vom Unfalltag. Den schickt der Anwalt am 13. November 2018 dem ermittelnden Staatsanwalt zu.

Am 19. November erteilt die Staatsanwaltschaft einen „Ermittlungsauftrag an die ermittelnde Polizeidienststelle“, also wieder an die Verkehrsunfallermittler in der Polizeidirektion 3. Der damalige Einsatzleiter wird vernommen, beim Alkoholverdacht aber kommen die Ermittler der Polizei nicht voran.

Im neuen Jahr geht es dann Schlag auf Schlag. Am 1. Februar 2019 erwirkt die Staatsanwaltschaft über Umwege einen richterlichen Beschluss, der ermöglicht, die Patientenakte von Peter G. aus der Charité zu bekommen: Die Staatsanwaltschaft startet ein Ermittlungsverfahren gegen Charité-Mitarbeiter wegen des Verdachts der Strafvereitelung, „wonach angeblich Untersuchungsergebnisse des Beschuldigten nicht zu den Akten genommen worden seien, um dadurch seine Alkoholisierung zu vertuschen und dadurch zu verhindern, dass er diesbezüglich bestraft wird“. Dabei unterliegen Ärzte grundsätzlich der Schweigepflicht. Ein Trick, sagen Juristen und selbst Polizisten: Die Ermittlungen gegen das Klinikpersonal werden eingestellt – als die Akte beschlagnahmt ist.

Nun ist kein Zweifel mehr möglich: Eine Stunde nach dem Unfall wurde bei Peter G. ein Alkoholwert von 1,1 Promille im Blut nachgewiesen. Ein Wert, bei dem das Unfallrisiko zehn Mal höher ist als im nüchternen Zustand. Doch was beweist das? Mindestens vier halbe Liter Bier oder ein Drittel einer Flasche Schnaps sind nötig dafür. Wann Peter G. das getrunken hat, am Vormittag oder ob es Restalkohol vom Vorabend war oder ob ihm ein Beamter nach dem Unfall Schnaps besorgt hat – darüber sagt das Ergebnis nichts.

Dass die Staatsanwaltschaft ein Jahr zuvor nichts angeordnet hat, um den Zustand von Peter G. untersuchen zu lassen, rächt sich jetzt. Denn um gerichtsfest den Alkoholwert festzustellen, gibt es strenge Vorschriften.

DIE BLUTPROBE

Es müssen zwei Blutproben im Abstand von mindestens einer halben Stunde genommen werden. Anhand der beiden Werte lässt sich dann errechnen, wann und wie viel Alkohol jemand getrunken hat. Denn der Alkoholwert baut sich im Blut erst langsam auf, bis er dann wieder sinkt.

Peter G. wird am 1. Februar 2019 über „die Ausweitung der Ermittlungen“ informiert. Seither lautet der Vorwurf nicht mehr nur auf fahrlässige Tötung, sondern auch auf Gefährdung des Straßenverkehrs durch Trunkenheit. Darauf stehen ebenfalls bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Wenig später erfährt auch Polizeipräsidentin Barbara Slowik von der Wende in dem Fall, vom Verdacht, dass G. betrunken gefahren sein könnte. Nach Angaben der Polizei bekam Slowik einen Anruf von der Staatsanwaltschaft. Aber warum wurde sie erst so spät informiert? Hätte das nicht früher geschehen müssen? Die Behörde verneint. Es sei schon in Ordnung so: Erst als das Ermittlungsverfahren auf einen weiteren Vorwurf erweitert worden sei, habe die Präsidentin informiert werden müssen. Die Direktion 3 jedoch, spätestens seit September von der Staatsanwaltschaft über den Alkoholverdacht informiert, behielt das Wissen offenbar für sich. Dabei herrscht bei solch brisanten Fällen Berichtspflicht, sagen erfahrene Beamte, gerade weil die ganze Behörde, ihr Ruf betroffen sein könnte, nicht zuletzt weil ein Disziplinarverfahren gegen G. lief.

Jetzt prüft die Staatsanwaltschaft, ob andere Beamte vom Polizeiabschnitt in der Direktion 3 und der junge Kollege, der Beifahrer, gewusst und gemerkt haben, dass G. möglicherweise betrunken war. Und es bewusst oder unbewusst nicht meldeten.

FABIEN MARTINIS FAMILIE

Ihre Tochter war eine, die vor nichts Angst hatte, sagen die Eltern. Nach der Schule hatte die 21-Jährige begonnen, in einem Café am Alexanderplatz zu jobben, bald sollte sie die Leitung einer Filiale übernehmen. Sie war weltoffen, sagen ihre Freunde, selbstbewusst und lebensfroh.
Fabien Martinis Vater ist nicht entgangen, wie Polizisten sich mit Peter G. solidarisieren. Auf einer Facebook-Seite beschweren sich Beamte über die vermeintliche Vorverurteilung ihres Kollegen. Sie machen „reichweitensüchtige Medien“ dafür verantwortlich, aber auch „ratlose Angehörige“. Fabiens Vater schaltet sich ein: „Wie lange wurde über meine Tochter schlecht gesprochen?“, fragt er auf der Seite. „Es ist einfach, die Schuld von sich auf andere zu schieben. Wenn man einen Menschen totgefahren hat, muss man dazu stehen …“
Martini unterstellt Peter G. einen „Mangel an Menschlichkeit“, er habe „seinen Kopf aus der Schlinge“ ziehen wollen und deshalb andere glauben lassen, seine Tochter trage Schuld. Den anderen Beamten wirft er vor, die Täuschung mitgetragen zu haben: „Bei denen halten alle zusammen.“ Seine Tochter habe mit ihrem Leben bezahlen müssen, „nur weil einer sich nicht unter Kontrolle hatte“. Fabien Martinis Vater schließt mit den Worten: „Ich hoffe, er bekommt die Höchststrafe …“
Der Polizist, der die Seite betreibt, antwortet dem Vater schroff. Er könne dessen Wut zwar verstehen, sehe den Ort jedoch „nicht als Plattform, mit Ihnen über Ihre Gefühlswelt zu diskutieren“.

Zu einer Gedenkveranstaltung für Fabien Martini kamen am 29. Januar 2019, dem Jahrestag des Unfalls, hunderte Menschen.
Zu einer Gedenkveranstaltung für Fabien Martini kamen am 29. Januar 2019, dem Jahrestag des Unfalls, hunderte Menschen.

© RubyImages/F. Boillot

Aus dem Radio erfahren die Eltern Martini schließlich, dass Peter G. betrunken gewesen sein könnte. Am 8. Februar 2019 beruft ihr Anwalt eine Pressekonferenz ein, er spricht von einem Justizskandal, von verschleppten und einseitigen Ermittlungen. Erst am Mittwoch, dem 13. Februar, informiert die Staatsanwaltschaft offiziell die Senatsjustizverwaltung über das Ergebnis der Blutprobe und die Ausweitung des Verfahrens.

REAKTIONEN DER POLITIK

Der Innenausschuss des Abgeordnetenhauses befasst sich am Montag, den 18. Februar 2019, mit dem Fall. Innensenator Andreas Geisel ist da, Polizeipräsidentin Barbara Slowik und der Leitende Oberstaatsanwalt Jörg Raupach. „Wir sind zutiefst beschämt“, sagt Geisel. Vom Verdacht, Peter G. könne alkoholisiert gefahren sein, hatte er am 5. Februar erfahren. Ob die Ergebnisse der Blutprobe in dem Strafverfahren verwendet werden dürfen, ist noch offen. Jörg Raupach erklärt, warum: Es geht um die Frage, ob ein solcher Eingriff in die Patienten- und Persönlichkeitsrechte verhältnismäßig und gerechtfertigt ist.

Für viele klingt das wie Hohn gegenüber dem Opfer. Dass Details aus dem Ermittlungsverfahren an die Öffentlichkeit geraten sind, kritisieren Rechtsanwälte und Polizisten. Die sogenannte Prangerwirkung durch die Berichte und Fotos, die Bezeichnung als „Suff-Cop“ – als Suff-Polizisten in der Boulevardpresse – könnte ihm bei einer Verurteilung angerechnet werden. War das alles Kalkül? Der Abgeordnete Benedikt Lux von den Grünen sagt: „Das Opfer ist damit zum zweiten Mal geschändet worden.“

Polizeipräsidentin Barbara Slowik reagiert entschieden im Fall Peter G. Seiner Direktion 3, die über Wochen mit dem Fall betraut war, entzieht sie das Verfahren, die internen Ermittler des Landeskriminalamtes übernehmen. Das Disziplinarverfahren gegen Peter G. zieht sie sich selbst auf den Tisch. Sie habe das auch aus Fürsorge für alle Beteiligten entschieden, sagt Slowik.

Sind künftig in Berlin Polizeifahrzeuge in Unfälle verwickelt, muss das Verkehrsunfallkommando einer anderen Direktion anrücken. Diese Beamten müssen nun extra protokollieren, wie sie geprüft haben, ob die in den Unfall verwickelten Beamten fahrtüchtig waren. Beteiligte Beamte sollen künftig freiwillig pusten. So empfiehlt es Barbara Slowik allen Mitarbeitern. Vorschreiben kann sie es ihnen nicht.

DER PROZESS

Wann das Ermittlungsverfahren beendet sein wird, wann es zu einer Anklage kommt, wann Peter G. sich vor einem Gericht verantworten muss – all das ist noch unklar. Martin Henselmann hat jahrelang Erfahrungen gesammelt bei Strafverfahren gegen Polizisten. „Die Berliner Justiz geht milde mit Polizeibeamten um, mehr als mild, wenn sie es überhaupt macht“, sagt Henselmann. Der Anwalt vertritt Mandanten aus dem linken Lager. Wenn sie Anzeige gegen Polizisten erstattet haben, haben sie erleben müssen, dass dann gegen sie ermittelt wurde, dass sie von der Staatsanwaltschaft beschuldigt wurden – wegen falscher Verdächtigung.

Die Verfahren gegen die Polizisten dagegen seien häufig genug einfach eingestellt worden. „Schon zu behaupten, ein Polizeibeamter würde lügen, löst in der Regel Empörung bei der Staatsanwaltschaft und auch bei vielen Richtern aus“, sagt Henselmann. Und Peter G.? Der ist lange Zeit krankgeschrieben. Kollegen kümmern sich um ihn, sie sollen ihm auch dabei geholfen haben, die Stadt zu verlassen, als der Alkoholverdacht bekannt wurde und die Fernsehteams vor der Tür standen.

Die Staatsanwaltschaft hat versprochen, alles zu tun, um den Fall aufklären zu können. Der Anwalt der Familie Martini mag dem nicht recht glauben. Immer wieder beantragt er Akteneinsicht, jede Woche, erst recht seit der Alkoholverdacht bekannt ist. Nun endlich, drei Wochen nachdem die Staatsanwaltschaft die Charité-Akten beschlagnahmt hat, konnte er wieder Einblick nehmen. Aber ob Peter G. jemals nachgewiesen werden kann, dass er betrunken am Steuer saß? Wahrscheinlich wird das nie geschehen, sondern immer nur ein Verdacht bleiben. Weil nach dem Unfall erst nicht geprüft wurde, was mit Peter G. los war.

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