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Grubenunglück. Viele Bewohner des Istanbuler Viertels Fikirtepe versprachen sich sozialen Aufstieg. Das Gegenteil ist der Fall.

© Kristina Karasu

Wirtschaftskrise in der Türkei: Wie sich die türkische Krise an einem Bauprojekt zeigt

In einem aufstrebenden Viertel in Istanbul muss das Haus von Zeynep Düzgünoglu einem Neubau weichen. Dann geht die Baufirma pleite. Eine Geschichte über Erdogans Türkei.

Früher standen hier Bäume. Die Häuser waren niedrig, von den Fassaden bröckelte der Putz und über den Straßen baumelten Starkstromkabel. Fikirtepe war ein Arbeiterviertel, „hier herrschte Menschlichkeit“, sagt Zeynep Düzgünoglu. Sie lächelt, wenn sie an dieses Früher denkt. An ihr Haus, das nur ein Stockwerk hatte, dafür aber einen Garten. Da, wo das Haus stand, ist heute ein Loch.

Alle Häuser der Nachbarschaft sind verschwunden in einer gigantischen Baugrube. Die alten, holprigen Straßen und die Bäume auch. Rundum ragen Kräne und glänzende Hochhaustürme in den Himmel, nur die alte Moschee steht noch verloren dazwischen.

Vor zwei Jahren wurde Düzgünoglus Nachbarschaft abgerissen, an ihrer Stelle sollten hier, auf der asiatischen Seite Istanbuls, zwei luxuriöse Hochhäuser mit dem Namen „Brooklyn Dream“ entstehen. Bis heute wurde nicht einmal ein Fundament gelegt. „,Broken Dreams‘ wäre passender gewesen“, sagt Zeynep Düzgünoglu. Sie sitzt am Rand der Grube mit ehemaligen Nachbarn in einem Zelt. Hier wohnen sie tageweise im Wechsel. Aus Protest.

Das Geld hat die Taschen gewechselt

Protest dagegen, dass sie übervorteilt worden sind. Dass Zusagen nicht eingehalten wurden und Geld die Taschen gewechselt hat, Häuser sind verschwunden und Träume unerfüllt geblieben. Sie protestieren gegen eines der ersten Anzeichen jener Erschütterung, die in diesen Tagen das ganze Land erreicht.

Zeynep Düzgünoglu ist 60 Jahre alt. Das verschwundene kleine Haus hatte sie sich als junge Frau gekauft. Sie arbeitete als Modellschneiderin, mehr als 40 Jahre lebte sie in dem Haus. Sie zog ihre Kinder darin groß. Heute schreitet sie aufrecht und selbstbewusst den Bauplatz ab.

Im Jahr 2010 entschied die Istanbuler Stadtverwaltung, Fikirtepe für die sogenannte Stadterneuerung freizugeben. Alte, baufällige Stadtteile sollten abgerissen werden, statt kleiner Wohnhäuser sollten fast 30 Stockwerke hohe, erdbebensichere Wohnblocks entstehen. Fikirtepe galt im rasant wachsenden Istanbul plötzlich als zentral gelegen, eine neue U-Bahn-Linie wurde gebaut.

So wie Istanbul wuchs auch die gesamte türkische Volkswirtschaft, nach Angaben des türkischen Statistikamtes im Jahr 2017 um 7,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – und damit stärker als die Chinas. Es war das neunte Wachstumsjahr in Folge.

Autobahnen, Brücken, Flughäfen - überall im Land

Die Baubranche ist der Motor dieser Entwicklung. Mit Steuererleichterungen für Baufirmen und Immobilienkäufer sowie großen staatlichen Infrastrukturprojekten förderten die Regierungspartei AKP und ihr langjähriger Chef und jetziger Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, diesen Boom. Überall im Land ließ Erdogans Regierung Autobahnen, Brücken und Flughäfen bauen. Die Immobilienpreise in der Stadt stiegen in den vergangenen fünf Jahren um mehr als 45 Prozent.

Auch der Fernsehproduzent Raci Sasmaz wollte davon profitieren. Er stieg ins Baugeschäft ein, in Partnerschaft mit einer alteingesessenen Baufirma wollte er mehr als 2.000 Wohnungen in vier Hochhaussiedlungen in Fikirtepe errichten, inklusive Schwimmbädern, Fitness- und Einkaufszentren. Für ihre Grundstücke versprachen die Bauherren Zeynep Düzgünoglu und ihren Nachbarn Luxuswohnungen in den neuen Häusern. Bis zu deren Fertigstellung müssten sie zwar in Mietwohnungen ziehen, doch deren Kosten würde die Baufirma übernehmen.

Düzgünoglu versprach man entsprechend der Größe ihres Grundstückes gleich drei Neubauwohnungen. Doch sie traute dem Geschäft nicht, sagt sie. Der bauende Fernsehproduzent sei ihr suspekt gewesen, die Vision von der schönen neuen Lebenswelt habe auf sie keinen Eindruck gemacht. Zudem hatte sie ihr Haus gerade erst renovieren lassen.

Die Abrissbagger kamen

Gemeinsam mit einigen Nachbarn wehrte sich Düzgünoglu jahrelang gegen den Abriss. Bis 2016 die Stadtverwaltung damit drohte, ihre Grundstücke zu verstaatlichen. Düzgünoglu unterschrieb. Die Abrissbagger kamen.

Die meisten der Haus- und Grundbesitzer von Fikirtepe hatten schneller eingewilligt. Sie waren Arbeiter, Handwerker und Rentner, kaum vermögend. Plötzlich würden sie Wohnungsbesitzer in einem eleganten Viertel sein, könnten dort selber einziehen oder die Wohnungen teuer verkaufen. So dachten sie wohl. Bis vor einem Jahr die Bauarbeiten plötzlich stoppten. Die Bauherren verkündeten, sie hätten kein Geld mehr. Sie stellten auch die Mietzahlungen ein.

Verwandlung. Der Umbau ihres Heimatviertels hat aus Zeynep Düzgünoglu (Bildmitte) eine Fremde gemacht.
Verwandlung. Der Umbau ihres Heimatviertels hat aus Zeynep Düzgünoglu (Bildmitte) eine Fremde gemacht.

© Kristina Karasu

Auch andere Firmen stoppten oder verlangsamten die Bauarbeiten in Fikirtepe. Manche Hochhäuser hier sind fertig, manche halbfertig, auf nur wenigen Baustellen wird gearbeitet. Einige alte Häuserzeilen wurden gar nicht erst abgerissen. In manchen abrissbereiten Häusern haben sich Obdachlose niedergelassen. Verblichene Reklametafeln, die für die geplanten Luxusresidenzen werben, erinnern an die einstige Aufbruchstimmung.

Die Inflationsrate im Juli war die höchste seit 15 Jahren

In jeder Straße gibt es Immobilienbüros, deren Mitarbeiter sich die Beine in den Bauch stehen. Manche von ihnen haben seit einem Vierteljahr keine Wohnung verkauft.

Auch der Makler Burhan Kocabey hat viel Zeit. Er breitet eine Karte aus, darauf ist Fikirtepe in 56 Inseln unterteilt, die von unterschiedlichen Firmen neu errichtet werden sollten. Bisher wurden zwölf der Wohnkomplexe fertiggestellt. Kocabey erklärt sich das mit der allgemeinen Wirtschaftslage des Landes.

Seit Anfang des Jahres hat die türkische Lira gegenüber dem US-Dollar enorm an Wert verloren. Am gestrigen Montag kostete ein Dollar zwischenzeitlich mehr als sieben Lira, am 1. Januar waren es 3,79. Die Inflationsrate im Juli war die höchste seit 15 Jahren, um fast 16 Prozent sind die Preise im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen. Der durchschnittliche Zinssatz für Immobilienkredite beträgt derzeit 20 Prozent.

Dazu kommt, dass Baufirmen des immer schneller fortschreitenden Währungsverfalls wegen Zement oder Eisen zu immer höheren Preisen aus dem Ausland importieren müssen – und gleichzeitig ihre Kreditzinsen und -tilgungen zahlen, oft in Dollar, türkische Unternehmen sollen laut Branchenschätzungen mit bis zu 300 Milliarden Dollar im Ausland verschuldet sein. Gleichzeitig stagnieren die Wohnungspreise. Auch dadurch wird es für die Baufirmen immer unlukrativer, neue Wohnungen zu errichten.

Zwei Suizide, zehn Kranke?

Auch die „Brooklyn Dream“-Baufirma begründet den Baustopp mit der Krise der Bauwirtschaft. Doch viele in Fikirtepe glauben nicht an eine Pleite der Firma, sondern vermuten einen großen Betrug: „Die Firma hat die meisten Wohnungen vor Baubeginn verkauft, bevor sie überhaupt eine Baugenehmigung erhielt. Wo ist das Geld geblieben?“, sagt Zeynep Düzgünoglu. „Da hat jemand ein ausgeklügeltes Drehbuch geschrieben, und uns in die Hauptrollen gezwungen.“

Die Firma wurde mehrmals zerschlagen, ging neue Partnerschaften ein, änderte den Namen. An ihre Spitze wurde ein mittelloser Mitarbeiter gesetzt, der einst dort den Tee servierte. Der einstige Chef Raci Sasmaz beschuldigte seine Partnerfirma des Betrugs und erstattete Strafanzeige.

Zeynep Düzgünoglu ist bei einer Nichte untergekommen. Sie, die immer auf eigenen Beinen stand, ist nun auf Unterstützung angewiesen. „Ich war nie arm, aber jetzt hat man mich verarmen lassen“, sagt sie.

Statt des erhofften Aufstiegs droht den Anwohnern von Fikirtepe das Gegenteil. „Zwei meiner alten Nachbarn haben im letzten Jahr Selbstmord begangen, zehn sind aus Kummer krank geworden, einige haben einen Schlaganfall erlitten“, erzählt Zeynep Düzgünoglu. Zwei Suizide, zehn Kranke? Ihre Nachbarn vor den Zelten nicken, jeder versichert, von ähnlichen Schicksalen zu wissen.

Er besaß fünf Autos

Düzgünoglus ehemaliger Nachbar, der Schulbusfahrer Engin Akgüzel, gesellt sich zu den Protestierenden. Akgüzel besaß einst ein Haus mit drei Wohnungen im Viertel. In einer wohnte er mit Frau und Tochter, in einer seine Mutter, die dritte vermietete er. Er besaß fünf Autos die vermietete er auch, „es ging uns gut“, sagt er. Heute muss er Miete für zwei Wohnungen aufbringen, hat vier der Autos verkauft, ist verschuldet.

Doch die Alteingesessenen von Fikirtepe sind nicht die Einzigen, die durch die „Brooklyn Dream“-Baufirma am Rande des Ruins stehen. Während hier die Bauarbeiten nie richtig begannen, stellte sie 2017 ein paar Blocks weiter noch die Wohnanlage „Brooklyn Park“ fertig – Wohntürme auf einem Hügel, mit marmorgepflasterter Lobby, Tiefgarage und Wachdienst. Doch weil die Baufirma ihre Schulden nicht zahlt, sind die Wohnungen mit Hypotheken belastet, haben Gläubiger sie pfänden lassen. Mehr als 160 Wohnungskäufer haben bis heute keinen Grundbuchschein erhalten.

Eine der Betroffenen, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt: „Nun drohen uns die Banken, dass sie uns jederzeit aus der Wohnung werfen können.“

Der Schulbusfahrer Akgüzel und Hunderte Mitstreiter haben Gerichtsprozesse gegen die Bauherren eröffnet, fordern ihr Recht, ihre Wohnungen, ihre Grundstücke. Doch das werde schwer, sagt einer ihrer Anwälte: „Die Geschäftspartner haben wohl rechtzeitig ihr Geld in Sicherheit gebracht, als sie merkten, dass die Firma pleitegeht.“ Dokumente legen das nahe. Der zuständige Staatsanwalt erklärte den Anwohnern, das Problem müsse nun der Staat lösen.

Die Regierung ist seine letzte Hoffnung

Daran knüpfen sich jetzt tatsächlich alle Hoffnungen. Der Umbau Fikirtepes war stets ein Vorzeigeprojekt der AKP-Regierung. Im vergangenen Jahr erklärte sie, eine staatliche Baufirma würde die Projekte übernehmen. Monatelang passierte nichts. Ende Juli schließlich versprach der Umwelt- und Städtebauminister Murat Kurum eine schnelle Lösung des Problems.

Einige Tage später wird eine Delegation der „Brooklyn Dream“-Protestierenden in das Istanbuler Büro des Ministeriums geladen. Akgüzel kehrt enttäuscht davon zurück: „Drei Stunden lang hat man uns zugehört, aber nichts Konkretes in Aussicht gestellt. Keine Lösungsvorschläge, keinen Zeitplan, nichts.“

Trotzdem geht Akgüzel am nächsten Tag wieder zum Baustellen-Zeltplatz, aufgeben käme für ihn nicht infrage, sagt er. Heute sind vor allem Frauen gekommen. Jeder hat etwas zu essen mitgebracht: Blätterteigtaschen, gefüllte Paprika und Hirtensalat.

Noch vor dem ersten Bissen beginnt Zeynep Düzgünoglu, auf die Regierung zu schimpfen. Die habe schließlich unterstützt, dass man ihr das eigene Grundstück entriss. Akgüzel versucht sie zu stoppen. Die Regierung ist seine letzte Hoffnung. Sie zu attackieren könnte ihnen allen schaden, fürchtet er.

Auch Nurtem Akgüzel, Ehefrau von Engin Akgüzels Cousin, gesellt sich zu ihnen. Sie lebt in einem der fertiggestellten Hochhaustürme neben der Baugrube. Sie müsste sich glücklich schätzen. „Wir leben dort wie in einem Schuhkarton“, sagt sie. Schlimm sei die Einsamkeit: „Die neuen Nachbarn schauen auf uns herab. Sie grüßen uns nicht einmal.“

Vorhänge kaufen, den Swimmingpool nutzen

In ihrem Hochhausturm spielt sich ein kleiner Kulturkampf zwischen den Alteingesessenen und den Zugezogenen ab. Die einen sind ein fast dörfliches Leben gewohnt, die Zugezogenen sind in der Regel wohlhabend und gut gebildet, treiben Sport und gehen in schicke Restaurants. „Um dort zu wohnen, muss man genug Geld für die passenden Kleider, Möbel und Hobbys haben“, sagt Nurtem.

„Der Plan war, uns von hier zu vertreiben“, sagt Düzgünoglu. Die unteren Schichten sollten an den Stadtrand gedrängt werden, sagt sie, im Zentrum Platz machen für andere. Sie sagt: „Ich werde hier niemals weggehen.“

Zeynep Düzgünoglus alte Heimat gibt es nicht mehr, das jetzige Fikirtepe erscheint ihr nicht als ein lebenswerter Ort. Sollten das Viertel und ihre Wohnung allerdings jemals fertig werden, würde sie einziehen, sich eben anpassen an die neue Lebensart.

Sie würde keine Schuhe vor der Wohnungstür stehen lassen, schicke Vorhänge kaufen, vielleicht auch den Swimmingpool nutzen. Sie will ihr geliebtes Haus nicht umsonst verloren haben.

Kristina Karasu

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