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Entschieden. Wera Hobhouse befürwortet ein zweites Referendum. Über den Brexit sagt sie: „Man kann aus einem Omelett kein Ei mehr machen.“

© lynchpics/Alamy Stock Photo

Unter Briten: Eine gebürtige Deutsche kämpft für die europäische Idee

Die Deutsche Wera Hobhouse wurde Britin, um sich ins Parlament wählen lassen zu können. Nun kämpft sie aus tiefer Überzeugung gegen den Brexit.

Das britische Parlament ist blockiert, aber Wera Hobhouse kriegt noch was durch. Die Abgeordnete der Liberal Democrats sitzt im Schatten ihres Erfolgs, der im Moment von drei zu einer Girlande geknüpften Frauenunterhosen geworfen wird: Das sogenannte Upskirting ist soeben ein eigener Straftatbestand geworden, seit 12. Februar gilt das Gesetz offiziell. Seitdem steht es unter Strafe, Frauen unter den Rock zu fotografieren oder zu filmen.

Hobhouse hatte das Anliegen in das Parlament eingebracht. Und es ist selten, dass der Vorschlag einer einzelnen Person es bis zum Gesetz schafft. Hurra, das Parlament ist handlungsfähig! Trotz Brexit. Zum Feiern ist ihr jedoch nicht zumute.

Als zuletzt abtrünnige Parlamentsabgeordnete, sieben auf einen Streich, die Labour-Partei verlassen, um eine unabhängige Splittergruppe zu bilden mit der Aussicht zur Gründung einer eigenen Partei, ist das nur der letzte Riss in einer vollkommen verfahrenen Situation. Ausgerechnet drei Tories gesellen sich hinzu.

Entgeistert schaut die Welt auf das älteste Parlament der Welt. Es sind noch 36 Tage, bis das Land die EU verlassen soll. Aber das ehrwürdige House of Commons zerlegt sich selbst, Regierung und Opposition erpressen sich gegenseitig, eine gemeinsame Haltung ist nicht in Sicht.

Wera Hobhouse hat ihre eigene Perspektive auf das Geschehen: dritte Reihe, schräg hinter Jeremy Corbyn bei den Liberal Democrats, beste Sicht auf Theresa May. Sie sitzt im Brexit-Ausschuss und hört sich jeden Mittwoch die Ausführungen von Experten an. Es ist die Perspektive einer Engländerin, doch erst seit 2006, zuvor war sie Deutsche.

Citizen from Hannover, Germany

Hobhouse wurde britische Staatsbürgerin, um sich hierher wählen lassen zu können. Mit ihrer ganzen Biografie steht sie damit zugleich für eine nach dem Brexit gefährdete Art: Sie steht für die Europäer, die sich mit Leichtigkeit und Herz und Hirn über alle Grenzen hinweg bewegen. Solche Leute hat Theresa May zuletzt als „citizens from nowhere“ bezeichnet.

Dabei ist sie "citizen from Hannover, Germany". Heute Abgeordnete in London für die Stadt Bath. Im dritten Stock, hinter einer holzvertäfelten Tür, Raum 304, sitzt sie nun auf einem rückenschonenden Stuhl. Auf dem Tisch liegt der „Bath Chronicle“ aus ihrem Wahlkreis, es gibt vier kleine Schreibtische und zwei Praktikantinnen.

Ein winziger Fernseher überträgt das dünne Debattenrinnsal aus dem Unterhaus. Die Website „TheyWorkForYou“ dokumentiert, dass Hobhouse sich dort mit einer Häufigkeit „weit über dem Durchschnitt“ zu Wort meldet. Zu Themen wie: Klimawandel, Frauenrechte, Essstörungen, Verkehr, Europa.

„Man kann aus einem Omelett kein Ei mehr machen“

Wera Hobhouse, Kämpferin für Europa, Befürworterin eines zweiten Referendums, sagt über den Brexit: „Man kann aus einem Omelett kein Ei mehr machen.“ Erst jetzt, zweieinhalb Jahre nach dem unseligen Referendum, hätten die Engländer begriffen, wie untrennbar dicht alle Bereiche des Lebens miteinander verwoben sind. Kunstvolle Gewebe aus Logistik und politischem Willen.

Wenn sie „wir“ sagt, meint sie die Engländer. Abgesehen davon, dass Hannoveraner Wurzeln in den besten englischen Familien vorkommen, verkörpern sie für Wera Hobhouse genau das, wofür sie kämpft: die europäische Idee. Sie selbst ist ein Produkt des offenen Europa, in dem sie Ende der Achtziger mit Leichtigkeit ihr Leben wählen konnte.

Sie hat die krampflösende Wirkung des Mauerfalls erlebt, in dessen Folge die beiden großen Blöcke der Ost-West-Politik sich in viele kleinere, unabhängige Einheiten übergehen. Sie hat 1990 den schlanken, hochgewachsenen Engländer William Hobhouse geheiratet, der gerade mit einem „Bath for Europe“-Button auf einem Stuhl in dem kleinen Büro sitzt.

Europa, das Wunder der Vorgeneration

Vier Kinder und 16 Jahre später nahm sie die britische Staatsangehörigkeit an, um für das Parlament kandidieren zu können. Sie hat Grenzen nur fallen und Möglichkeiten sich vervielfachen sehen. Sie ist Teil der Generation, die das Wunder der Vorgeneration annehmen konnte wie etwas Selbstverständliches: Europa war das natürliche politische Habitat, in dem sie aufwuchsen. In dem ehemals verfeindete Staaten zusammenwuchsen.

„Bei Operationen ist es möglich, aus einem Körper einzelne Organe zu entnehmen“, sagt Hobhouse, „aber nicht, jedes einzelne Organ zu halbieren.“ Außer natürlich, wenn man sich umbringen wolle.

Die Engländer sind an Extreme, an Entweder-oder gewöhnt, das weiß jeder, der sich in England einmal die Hände gewaschen hat: Es gibt nicht einmal Mischbatterien. Über den meisten Waschbecken thronen zwei Hähne, einer eiskalt, der andere brüllend heiß. Das Wasser muss sich jeder selbst zu einer erträglichen Temperatur mischen. Sollte sich etwa die berühmt pragmatische Politik des Landes auf das Niveau seiner Badausstattung zurückentwickeln?

"Unheilvolle Allianz von Volksverführern“

„Der Brexit ist die lokale – britische – Spielart des weltweiten Unmuts an der globalisierten Welt“, sagt Hobhouse. Wie überall gebe es die Menschen, die von einer Führungselite vernachlässigt werden. Die anfällig sind für „eine unheilvolle Allianz von Volksverführern“.

Nur, dass sich in England Spaltungstendenzen durch die historische, strukturelle Gespaltenheit des Landes verschärfen: Die Klassengesellschaft ist institutionalisiert. „Spaltung ist Teil des politischen Systems“, in Conservatives und Labour. Das Mehrheitswahlrecht begünstigt die Bildung zweier Lager, statt die Meinungsvielfalt im Land im Parlament auch abzubilden.

Es komme hinzu: „England ist eine Insel. Auf eigenem Boden haben wir lange keinen Krieg mehr geführt.“ Das besondere, zugrunde liegende Motiv, dieses Versprechen der EU: Nie mehr Krieg!, habe für die Engländer deshalb nie den gleichen Magnetismus entwickelt. Für sie war die EU zunächst ein Wirtschaftskonstrukt. So, sagt Hobhouse, habe sich das Referendum überhaupt derart auf wirtschaftliche Argumente stützen können!

Draußen im Land suchen zweieinhalb Jahre später Unternehmen nach Exit- Strategien und einem Rettungsfallschirm. Great Britain ist schon jetzt smaller geworden: um das Kapital, das nun anderswo gebunkert wird. Um Tausende Menschen, die sich um andere Staatsbürgerschaften bemüht haben. Um die Firmen, die das Land verlassen haben.

Hektische Vorbereitungen auf den Brexit-Notfall

Diejenigen, die auf der Insel zurückbleiben werden, womöglich nach einem harten Brexit in 36 Tagen, bereiten sich hektisch auf einen Notfall vor. Die Regierung richtet Krisenzentren für eine Situation ein, die einem Kriegszustand ähneln könnte, wenn die Exportlizenzen für drei Millionen Tonnen Müll, die im Jahr in die EU verschifft werden, ungültig werden.

Wenn die faulenden Halden zu stinken beginnen und die Güllelager überlaufen, weil die Bauern ihre Lämmer und Rinder nicht mehr loswerden. Im Zweifel soll die Armee befugt sein, im selbst verursachten Notstand humanitäre Hilfe zu leisten.

Notstand. Es ist inzwischen halb vier und weil Wera Hobhouse noch nichts gegessen hat, schlägt sie einen Tee im „Pugin Room“ des Parlaments vor. Ganz im Gegensatz zu dem Lärm da draußen herrscht in den teppichgedämpften Fluren an diesem Februarmittwochnachmittag merkwürdige Stille. Eine seltsame Stimmung nach der Hitze der vergangenen Debatten, die ihr ein bisschen gespenstisch vorkommt.

Wichtige Ausschüsse finden nicht statt

„Alles ist eingefroren“, sagt Hobhouse. Kaum jemand ist anwesend, wichtige Ausschüsse finden nicht statt. Normalerweise summen die neogotischen „Houses of Parliament“ bis zum späten Abend vor Geschäftigkeit. Sogar die Expertenrunde im Brexit-Ausschuss fällt aus.

Womöglich hecken die Abgeordneten die nächste Revolte aus. Es gibt 23 Orte, an denen Abgeordnete sich in den Westminster Palaces treffen und etwas essen können, acht davon sind Bars mit jeweils unterschiedlichen Zugangsregeln für Abgeordnete, Parteimitglieder und ihre Gäste. Der grandios neugotische „Pugin Room“ mit seinen opulenten Tapeten, grünen Ledersesseln und dem Gemurmel der Parlamentarier ist einer davon. Unbeteiligt fließt draußen vor der Terrasse die Themse vorbei.

„English Breakfast Tea, please.“

„Brexit-Tea?“, fragt der Kellner.

Es ist alles ein bisschen viel geworden.

Grund für den Brexit? Menschliches Versagen von May und Corbyn

Last Minute. Offiziell soll Großbritannien am 29. März die EU verlassen. Die Brexit-Gegner demonstrieren weiter vehement.
Last Minute. Offiziell soll Großbritannien am 29. März die EU verlassen. Die Brexit-Gegner demonstrieren weiter vehement.

© Adrian Dennis/AFP

Wera Hobhouse glaubt die Gründe dafür zu kennen: menschliches Versagen. Persönlichkeitsprobleme in Regierung und Opposition. Theresa May hat ja versucht, quasi im Alleingang den Austritt zu verhandeln, und mit niemandem daheim das Gespräch gesucht, während ihre eigene Partei sich immer heilloser verstritt.

Ein Großteil ihres Scheiterns, glaubt Hobhouse, ist „ein Problem ihrer Persönlichkeit“. Ihrer Hölzernheit. „Blair, Cameron, die hatten wenigstens Leben in sich“, sagt Hobhouse. Als Person, sagt Hobhouse, ist die Premierministerin sogar wahrhaft schüchtern. „Wie kann man Politik machen, wenn man es nicht mag, mit Leuten zu reden?“

Hobhouse erinnert sich an den „Breast Cancer Awareness Day“, an dem man sich als Zeichen der Solidarität pinke Mützen und Schals umlegt. Es herrschte eine aufgekratzte Stimmung im Parlament, als die Schar lachender Leute plötzlich verstummte. Hobhouse drehte sich um: May hatte den Raum betreten.

„Die linken Schluffis“

Jeremy Corbyn sei sozial auch nicht geschmeidiger. „Ich kenne solche Leute von früher an der Uni. Die linken Schluffis, die mit 25 wie 55 aussahen.“ Die Linken an ihrer Uni in Münster kommunizierten und redeten genauso wenig. Etwas Abgestorbenes ging von ihnen aus. „Diese Nicht-Persönlichkeit, das macht die Sache so schwierig.“

Diese Versteifung der Führungsfiguren, man könnte sagen, das ist der Widerspenstigen Lähmung. Darin liegt der Knoten. Nichts könnte der drahtigen Hobhouse, deren breites Lachen ihr ganzes Gesicht beherrscht, persönlich fremder sein.

Haustürwahlkampf musste sie nicht mehr üben

Schwer zu sagen, wann es bei ihr anfing. Na klar war sie Klassensprecherin, und Schulsprecherin dazu. Der Tag ist sofort abrufbar, an dem sie als Schulsprecherin des Mädchengymnasiums in Hannover kurz vor dem Abschlussball feststellte, dass viele Mädchen noch keinen Tanzpartner hatten. Also besuchte sie die dazugehörige Jungsschule, um zusammen mit ihrer Stellvertreterin in den Klassen Tanzpartner zu werben.

Diese Gänge. Die verschlossenen Türen. Der tiefe Atemzug. Die Klinke. „Ich sagte mein Sprüchlein auf.“ Sie sieht noch vor sich, wie die Klassen sich alles gefasst anhörten – und kaum standen sie wieder auf dem Gang in Gelächter explodierten. Haustürwahlkampf musste sie danach nicht mehr üben.

Wera Hobhouse protestierte als Schülerin gegen das Atomendlager in Gorleben, sie studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Malerei in Münster und Paris und stellte mit dem Münsteraner Bildungswerk für Studenten wochenlang Systemvergleiche an: Planwirtschaft gegen Marktwirtschaft, totalitäre Systeme gegen Demokratien, Verhältnis- gegen Mehrheitswahlrecht.

Dann wollte sie ins Unterhaus

Dann fiel die Mauer, sie heiratete William Hobhouse und widmete die 90er ihren vier Kindern. In Liverpool hatte sie eine Galerie. Doch als die Klassensprecherin in ihr wieder die Oberhand gewann, setzte sie sich dafür ein, dass 600 Wohnungen auf dem verseuchten Gelände einer Asbestfabrik nicht gebaut würden. Sie wurde einige Jahre Stadträtin in Rochdale. Dann wollte sie ins Unterhaus.

Zunächst lernte sie einstecken. 2007 und 2010 hatte sie gegen Konkurrenten verloren, und als sie fast schon dabei war, sich abzufinden, kam das Referendum und nur zwei Wochen  später gründete sie „Bath for Europe“ mit. In der Stadt mit Englands einziger Thermalquelle demonstrierten sie im blauen Sternenbanner für Europa. Ihre Kinder waren längst zu guten Haustürwahlkämpfern herangewachsen.

Am 8. Juni 2017 machten 23 436 Bewohner der südenglischen Stadt Bath ihr Kreuzchen für Wera Hobhouse. Sie war drin. Sie hatte auch noch einem Konservativen den Sitz abgejagt.

Nie wieder übersteigerter Nationalstolz

Als Wera Hobhouse am Tag nach der Wahl die Glückwunschkarten um einen Strauß Pfingstrosen gruppierte, war sie die erste Frau, die für Bath ins Parlament geschickt wurde. Das erregte mehr Aufsehen als ihre deutschen Wurzeln. Sie selbst aber sprach in der Antrittsrede im Parlament von ihrer Mutter, die, in Hamburg in eine halb jüdische Familie hineingeboren, noch „die Verfolgung unter dem Naziterror“ erfahren hatte.

Sie sprach von der Entschlossenheit Deutschlands, danach nie wieder Fanatismus und übersteigertem Nationalstolz zu erliegen. Und sie verneigte sich vor der Offenheit Englands, sie gewählt zu haben.

Entfremdung auf allen Ebenen

Und was passiert nun? Unter der Flagge der „Identität“ findet in Wahrheit eine Entfremdung auf allen Ebenen statt: nicht nur Großbritanniens von der EU, auch der Abgeordneten von ihren Wahlkreisen, der Regierung von ihrem Volk, der Vorsitzenden von ihren gespaltenen Parteien. May und Corbyn sind zusätzlich von sich selbst entfremdet.

Die allgemeine Spaltung setzt sich bis hinein in die Persönlichkeiten der Anführer fort. Da ist die ehemalige Remainerin May, die nun den Brexit „liefern“ will. Und der Oppositionsführer Corbyn, der EU-Kritiker, dessen Partei mehrheitlich in der EU bleiben will.

Wera Hobhouse dagegen hat Glück, sie musste sich von ihren Überzeugungen nie entfremden, im Gegenteil: Bath und North East Somerset haben beim Referendum mit 57,9 Prozent „Remain“ gestimmt. Hobhouse zieht also mit einem ureigenen Anliegen in die Schlacht. Es spannt sich ein Bogen von ihren Gorleben-Protesten zum Kampf gegen die Asbest-Grundstücke bis zu ihrer Rede im Unterhaus, wie der Brexit den Klimawandel beschleunigen wird.

Rosinenpickerei ist einfach Tradition

Die Frau, die in Deutschland mit dem Fahrrad aufwuchs, setzt sich nun in Bath für weniger Autoverkehr ein. Die Integrität, die sie ausstrahlt, kommt auch von dieser Kontinuität.

Der prachtvolle „Pugin Room“ steht für eine ganze andere Tradition. Die Sandwiches kommen auf einer Etagere, hier zu sitzen ist ein Privileg. Weil England ein Empire war, erwarten viele noch immer, dass die EU in letzter Minute einknicken werde. Das ist es ja, was ein Empire ausmacht: Es wird gelenkt von Leuten, die davon überzeugt sind, dass sie die größere Macht haben. Dieser Glaube wurde nie, etwa von einer kriegerischen Niederlage, erschüttert.

Sehr lange geisterte deshalb die Vorstellung herum, dass die EU schon noch wieder ankäme und Großbritannien beknien würde, nicht auszutreten. Doch diese verwies stattdessen darauf, dass in den Austrittsverhandlungen die lang eingeübte Rosinenpickerei nicht mehr möglich sein werde. Wera Hobhouse versteht das vollkommen. Warum auch sollte die EU einer Änderung des selbst von Theresa May ausgehandelten Backstop zustimmen?

Hobhouse empfiehlt von der Etagere den Früchtekuchen. Und da wird klar: Es ist einfach Tradition. Rosinenpickerei ist noch heute in England täglich möglich. So etwa gegen fünf.

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