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Le Corbusier liebte die Gerade. "Sie ist gesund und edel", sagte er einmal.

© imago/ZUMA/Keystone

Vor 50 Jahren starb Le Corbusier: Freiheit mit Aussicht

Le Corbusier grollte, als sein Haus fertig war. Ein Berliner Kunstwerk sollte es werden, doch der Senat zwang ihn zu Kompromissen. Einzigartig ist der bunte Riese trotzdem. Ein Besuch

Le Corbusier hieß gar nicht Le Corbusier, sein wirklicher Name war Charles-Édouard Jeanneret-Gris, aber was zum Teufel kann man damit werden?

Avantgardisten heißen anders.

Avantgardisten sind die legitimen Nachfahren Gottes: absolute Schöpfer, die man fürchtet und bewundert, meist beides zugleich. Und wie ihr Vorbild neigen sie zu einer gewissen Militanz.

Corbeau, der Rabe. Sehr durchsetzungsfähig. Berlin hat sich vor dem Sohn eines Schweizer Uhrmachers durchaus gefürchtet, als er sich 1955 überreden ließ, auch in dieser Stadt ein Corbusier-Haus zu bauen.

Ein Haus?

„Eine Wohneinheit angemessener Größe“, formulierte der Architekt mit Bescheidenheit. Am Ende stand ein buntes Riesen-Rechteck auf dem Olympia-Hügel von Berlin. 557 Türen, hinter denen bis zu 2000 Menschen leben konnten. Eine vertikale Stadt in der horizontalen. Angemessen?

Vollkommen angemessen, findet Sabine Schulte-Schaefer. Im August 1958 zog sie ein. Den alles entscheidenden Satz sagt die Corbusier-Bewohnerin der ersten Stunde gleich zur Begrüßung: Fast 60 Jahre lang sehe sie nun von ihrem Sonnenuntergangszimmer dem Sonnenuntergang zu, aber noch nie, wirklich noch nie, sei er der gleiche gewesen!

Sie trägt die Sonnenuntergangsfarbe Rot. Die Malerin mag es, Menschen zu beobachten, wenn sie zum ersten Mal in ihre Wohnung treten. Aus dem unentschiedenen Zwielicht des fensterlosen Riesenhausflurs kommend … – nein, falsch: Gewöhnliche Häuser haben Hausflure, im Corbusierhaus aber heißen die Flure Straßen, wahrscheinlich weil sie ungefähr so lang sind und auch so breit. Von der fensterlosen Innenstraße kommend also, flutet der Tag dem Corbusier-Neuling entgegen und über ihn hinweg, und Berlin liegt zu seinen Füßen.

Was für ein Übergang! Was für ein Effekt!

Aber etwas stimmt nicht. Das da vorn ist doch Osten. Die Sonne steht hoch am Himmel, wie soll sie da nachher auch untergehen? Nein, hier geht sie nicht unter, sondern auf, erklärt die Corbusier-Pionierin behutsam und zeigt die Treppe ihrer Fünfziger-Jahre-Maisonette hinauf: Dort hinten, da geht sie unter.

Noch ein Balkon?

Noch ein Balkon!, bestätigt Sabine Schulte-Schaefer. Im ersten Jahr hier hat sie ein Bild gemalt, in allen Farben des Lebens, wenn es wirklich lebt, und mit tanzenden Frauen am Himmel. „Das ist Corbusier! Der hat gedacht, was uns glücklich macht, noch bevor wir es selber wussten!“

Sabine Schulte-Schaefer (rechts) und Gertrude Brauer Corbusierhaus wohnen gern im Corbusierhaus.
Sabine Schulte-Schaefer (rechts) und Gertrude Brauer Corbusierhaus wohnen gern im Corbusierhaus.

© Georg Moritz

Fünf weitere Bewohner der „Wohneinheit angemessener Größe“ bestätigen diese Aussage. Sie haben sich zum Mittags-Cidre getroffen und eine Begründung haben sie auch: Sie wollen gemeinsam über sich, ihr Haus und dessen Erbauer nachdenken, denn im August vor 50 Jahren ist er gestorben, beim Baden im Meer, vor seinem Ferienhaus. Es war das Herz.

So kränkend dieses Ende auch war: Dass sein Herzschlag der Herzschlag der Architektur der Zukunft sein würde, schien dem Baumeister gewiss. Hat er recht behalten?

Dass Corbusier gedacht und gebaut hat, was uns glücklich macht, ist eine Ansicht, die noch nie alle teilten. Schon gar nicht die Nachbarn.

Eine Wohnmaschine wollte sich bei ihnen niederlassen? Die Charlottenburger Villenkolonie am Olympiastadion ging zum Widerstand über. Sozialer Wohnungsbau hier? Sie befestigten tapfer Trauerfahnen an ihren Balkonen und Transparente, auf denen stand: „Das Hochhaus muss woanders hin/ Hier stört es unseren Schönheitssinn!“

„In Freiheit neigt der Mensch zur reinen Geometrie“, glaubte der Baumeister. Die da unten waren, nach ihren Häusern zu urteilen, offenbar noch nicht frei. Stuck? Gebogene Linien am Bau? Umso besser für sie, wenn sie fortan täglich den lehrreichen Anblick der Freiheit vor Augen haben.

Niemand in Sabine Schulte-Schaefers Cidre-Runde würde widersprechen. Der wusste, was uns glücklich macht, wiederholt die Malerin. „Das schon“, bestätigt ein Mann in quittegelbem Poloshirt und ebensolchen Shorts, er trägt buschige eisgraue Augenbrauen und hält den zukunftsblauen Blick in die Unendlichkeit vorm Balkon gerichtet: „Aber die haben auch gegen die plötzliche Dunkelheit in ihren Gärten protestiert. Unser Haus macht zu viel Schatten.“

53 Meter Höhe und 141 Meter Länge. Ein Ozeanriese, auf einer Sandhügelbank gestrandet. Natürlich wirft der Fortschritt Schatten, und der große Fortschritt eben einen besonders großen, aber doch eher grundsätzlich und nicht im Garten des Nachbarn!

1924 saß in der Ruhe des sommerleeren Paris, das er liebte und hasste, ein noch junger, nicht übermäßig erfolgreicher Architekturschriftsteller und dachte über die Stadt der Zukunft nach. Er nannte sein Werk „Urbanisme“, „Städtebau“. Das erste Kapitel trug die Überschrift „Der Weg der Esel und der Weg des Menschen“. Es beginnt so: „Der Mensch schreitet geradeaus, weil er ein Ziel hat. ... Der Esel geht im Zickzack, döst ein wenig, blöde vor Hitze und zerstreut, um den großen Steinen auszuweichen.“ Der Befund nach kaum einer halben Seite: „Der Esel hat alle Städte des Kontinents gezeichnet.“ Und noch einmal drei Seiten weiter: „Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg der Menschen.“ Die Gerade sei ein Widerstehen, ein bewusstes Tun. „Sie ist gesund und edel.“

Der französisch-schweizerische Architekt und Städteplaner Le Corbusier (r) und der Berliner Bausenator Rolf Schwedler (l) betrachten während der Ausstellungseröffnung am 7.9.1957 im ehemaligen British Center am Kurfürstendamm das Modell von Corbusiers «Strahlender Stadt», einem Gebäude in der von Le Corbusier entwickelten Skelettbauweise.
Der französisch-schweizerische Architekt und Städteplaner Le Corbusier (r) und der Berliner Bausenator Rolf Schwedler (l) betrachten während der Ausstellungseröffnung am 7.9.1957 im ehemaligen British Center am Kurfürstendamm das Modell von Corbusiers «Strahlender Stadt», einem Gebäude in der von Le Corbusier entwickelten Skelettbauweise.

© dpa

Seltsam genug, fällt das vielen gar nicht auf. „Hier einziehen? Nie und nimmer. Das sieht ja aus wie in der Kaserne!“, antwortete der Innenstraßenpfleger auf die Frage einer Ethnologin, die im Haus Sitten und Gebräuche der Eingeborenen studierte. Manche sagen gleich Haftanstalt. Tür neben Tür, so groß, nein, so klein, dass ein nicht allzu übergewichtiger Mensch ohne stecken zu bleiben hindurchpasst. Dass die einzelnen Türen Nummern haben, überrascht nicht, eher verwundert es, dass daneben noch so etwas individuell Launenhaftes, Ungerades, Zufälliges, Endliches wie ein Name steht.

Le Corbusier hat die Kritik an seinen Türen nie verstanden. Hier kommt kein Barockschrank durch und keine dieser Ritterburgen, die man früher für Buffets hielt. Ist das denn nicht großartig? Ist es nicht ein Akt der Emanzipation? Sabine Schulte-Schaefer weiß noch, wie die Nachbarn im Sommer 1958 mit ihren großen schweren Schreibtischen ratlos vor ihrer Wohnungstür standen.

Sie mussten sich neue kaufen und suchten fortan Zuflucht bei dem Gedanken, dass die viel größeren Autoren möglicherweise die viel kleineren Schreibtische haben.

Alle mussten die Freiheit erst lernen. Auf einer Seite von Sabine Schulte-Schaefers Wohnzimmer steht ein schmales Bücherregal, auf der anderen Seite ein kleines Sofa, sonst nichts, denn viel mehr passt nicht in ein Zimmer, wenn man nicht auf dem Balkon wohnen will. Und kein Keller, kein Boden, registrierten verblüfft und leicht panisch die Erstmieter.

Was habt ihr denn gewöhnlich im Keller und auf dem Boden?, fragte Le Corbusier die Kleinmütigen. Sabine Schulte-Schaefer weiß die Antwort noch wie heute: „Das, was ihr nicht braucht, genau. Ist es da nicht besser, ihr werft es gleich weg?“ – Aber was ist mit meinen Langlaufskiern?, hätte der Wintersportler fragen können, der sich stumm ein Bett mit Kasten untendrunter kaufte und fortan auf seinen Skiern schlief.

Was ist schlechter Geschmack? Schlechter Geschmack ist, wenn die Dinge etwas anderes scheinen wollen, als sie sind. Plaste, das Marmor vorstellen will. Kunststoff mit imitierter Holzmaserung. Das gibt es bei Corbusier nicht. In den ehrlichen Metallfensterrahmen stecken die ersten Doppelglasfenster, die in Deutschland je gebaut wurden. Und die Treppen, die Fenster- und Balkonbänke sind aus wunderbarem dunklen Asbest. Eternit, verbessert ein Teilnehmer der Cidre-Runde. Die Malerin streicht liebevoll darüber: schön wie am ersten Tag. Und wenn man nicht anfängt zu raspeln, auch garantiert ungefährlich, das versichern alle.

Wie Gottvater machte Corbusier eigentlich keine Kompromisse. Aber der Senat hat ihn gezwungen. Darum schrieb der Architekt den ersten Mietern zur Begrüßung: „Ich kann behaupten, dass heute ein architektonisches Kunstwerk auf dem olympischen Hügel Berlins stünde, wenn meine Pläne in ihrem ganzen Umfang hätten realisiert werden können.“

Der Riese von Westend: das Corbusierhaus. Die Nachbarn ärgerten sich über das 53 Meter hohe Gebäude.
Der Riese von Westend: das Corbusierhaus. Die Nachbarn ärgerten sich über das 53 Meter hohe Gebäude.

© Mike Wolff

Gott sei Dank hat er das nicht geschafft!, ruft sogar Sabine Schulte-Schaefer. Sie weiß, was sie sagt, denn sonst hinge die Decke direkt über ihrem Kopf. Wie jeder Weltenschöpfer führte auch Corbusier ein ganz neues Maßsystem ein. Sein Ausgangspunkt war er selbst. Corbusier war 1,83 Meter groß, und wenn er die Hand nach oben streckte kam er auf genau 2,26 Meter. Das war die verbindliche Deckenhöhe in allen Corbusierhäusern: Mit der bloßen Hand den Himmel berühren können und Einziehung des symbolischen Himmels, den alle Architektur bisher mitgebaut hatte! So war das gemeint, aber dem Senat war das egal. Die Berliner seien es nicht gewohnt, in Konservendosen zu leben, erklärte er sinngemäß. 2,50 Meter mindestens. Schluss. Punkt. Aus.

Und das war noch nicht alles. Die Ladenstraße im 7. Stock: Gestrichen aus Kostengründen. Und am Ende traf es auch noch das Dach.

Gott sei Dank!, sagt Sabine Schulte-Schaefer noch einmal, denn sie wohnt unter dem Dach. Wenn sie sich vorstellt, es ginge über ihrem Kopf zu wie in Marseille, wo Corbusier seine erste Unite d’Habitation baute: Kindergarten, Theater, Schwimmbecken, Jogging-Strecke … Das ganze öffentliche Leben auf dem Dach.

Großartig!, sagt der Mann in Gelb. Hans E. Roth ist der Vorsitzende des Vereins Corbusierhaus e.V., er hält den Kontakt zu allen anderen Corbusier-Häusern und hat gerade mehrere Einladungen nach Frankreich ausgeschlagen, um den Todestag des Meisters im „Typ Berlin“ begehen zu können, mit einem historischen Filmabend. Außerdem, sagt Roth, sei Marseille mit Berlin nicht zu vergleichen: „Damals hatte er fünf Jahre Zeit und unbegrenzt Geld.“ Dafür wurde das Berliner Corbusierhaus, eine ganze vertikale Stadt, wenn auch ohne Agora auf dem Dach und ohne 7.-Stock-Ladenstraße in nur 18 Monaten erbaut!

Die Charta von Athen, die 1933 die funktionale Stadt propagierte, teilte sie in Bereiche: Wohnen, Arbeit, Erholung, Verkehr. Corbusier war einer ihrer Autoren. Die Folgen sind bis heute spürbar: Urbane Kommunikation erstirbt, Straßen und Plätze verlieren ihre Bedeutung, der Nachbar weiß von seinem Nachbarn nichts. Im Corbusierhaus mit seinen Innenstraßen war das nicht anders.

Wer dicht am Fahrstuhl wohnt, kennt niemanden und lernt auch niemanden kennen, denn er geht ja nie die Straße lang. Irgendwann hatte jemand die rettende Idee: Wir feiern zusammen Nikolaus! Nicht nur Hunderte von Stiefeln sollten vor den Türen stehen, nein, auch die Bewohner selbst. Seitdem gibt es im Corbusierhaus Innenstraßenfeste.

Man müsste noch vieles sagen: Etwa dass inzwischen alle Wohnungen im Haus Eigentumswohnungen sind. Dass das Konklave der Eigentümer die ästhetische Diktatur der Hausmeister stürzte, die noch nie etwas von Corbusiers Farbenlehre gehört hatten und die Flure in den Tönen strichen, die sie schön fanden und die ein vormaliger Kirchenmaler übrig gelassen hatte. Seit 1996 steht das Haus unter Denkmalschutz. Er, Corbusier, die Avantgarde, ein Denkmal? Wahrscheinlich hätte ihn das am tiefsten getroffen, von den Stuckdecken und Schrankwänden aus deutscher Eiche abgesehen, die im Haus bereits gesichtet wurden, Dokumenten des zivilen Ungehorsams.

Häuser haben Flure. Das Corbusierhaus hat Straßen.
Häuser haben Flure. Das Corbusierhaus hat Straßen.

© Mike Wolff

Aber auch einen bekennenden Corbusierenthusiasten strenger Observanz überkommt mitunter so ein Gefühl, als müsse er links oder rechts eine Tür aufmachen. Doch das geht nicht. Es gibt kein Rechts und Links in diesen Wohnungen, es gibt nur ein Geradeaus. Es sind architektonische Riegel.

Vielleicht deshalb hängt an Sabine Schulte-Schaefers originaler Corbusier-Treppe seit mehr als dreißig Jahren ein großer echter dicker pausbäckiger Barockengel. Jemand hatte ihn im Lastenaufzug ausgesetzt. Leider war sie nicht allein im Fahrstuhl, und niemand traute sich, den dicken Engel zu nehmen, Corbusier verpflichtet. Schließlich griff ein Nachbar, den sie noch nie leiden konnte, mit sichtlichem Unbehagen nach der Putte. Sie stiegen gemeinsam aus, und vor seiner Wohnungstür übergab er ihr dankbar und erleichtert das Monstrum. Sie werde es für ihn entsorgen, hatte sie ihm erklärt. Sabine Schulte-Schaefer ließ den Engel vergolden. Er wiegt alle Zumutungen Corbusiers auf. Das ist die Ökonomie der Seele.

Morgens, wenn ihr Mann, der technische Leiter der Technischen Universität zur Arbeit ging, verabschiedete er sich mit den Worten: Ich fahr’ jetzt in die Unterwelt! Er starb vor vier Jahren. Ich brauche den offenen Himmel, sagt die Malerin, schließlich komme sie aus Ostpreußen, aus Marienburg. Da gab es immer viel mehr Himmel als Erde. Mit nichts als einer Geige ist sie 1945 in Berlin angekommen. Dass sie den Himmel behalten durfte, macht sie dankbar.

Und dass sie von ihrem Sonnenuntergangsbalkon bis nach Potsdam sehen kann, sogar den Turm der Erlöser-Kirche, für die sie einmal zwei Fenster gemacht hat in allen Farben des Erlöstseins schon auf Erden. Corbusier hätte diesen Gedanken wohl gemocht.

Wenn sie sich für einen ihrer beiden Balkons entscheiden müsste, welchen würde sie nehmen? Ein tiefer Ernst legt sich auf das Gesicht der Erstmieterin, die die fliegenden Beinahe-Chagall-Frauen in den Himmel über Berlin gemalt hat. Dann antwortet sie mit düsterer Bestimmtheit: Ich glaube, ich würde ausziehen.

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