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Ob sich Abdullah Gül (r.) aus Recep Tayyip Erdogans Schatten traut?

© Aris Messinis/AFP

Wahl in der Türkei: Niemand kann Erdogan gefährlicher werden als Abdullah Gül

Sie waren Parteifreunde, Partner, Weggefährten. Bis Abdullah Gül von Erdogan abserviert wurde. Nun hoffen viele Türken auf sein Comeback – kommt er aus der Deckung?

Wo betet Abdullah Gül an diesem Freitag? Die Frage ist nicht unwichtig für die Zukunft der Türkei und alle, die mit ihr zu tun haben. Der frühere Staatspräsident ist ein frommer Mann und besucht, wo immer er ist, zum Freitagsgebet stets die Moschee. Wenn er etwas zu sagen hat, dann tut er das freitags nach verrichtetem Gebet vor der Moschee.

Viel hat Gül nicht mehr zu sagen, seit sein alter Weggefährte Recep Tayyip Erdogan ihn ausrangiert hat. Nur manchmal merkt er milde an, dass der Ausnahmezustand endlich aufgehoben werden solle, dass die eingesperrten Journalisten freigelassen werden sollten, dass die Türkei zu Demokratie und Reformen zurückkehren solle. Gebessert hat sich dadurch nichts, doch mit ein paar Worten könnte Gül am Freitag alles verändern.

Denn es gibt nur einen einzigen Mann in der Türkei, der das Sultanat von Erdogan noch verhindern kann, und das ist der 67-jährige Abdullah Gül. Demokratisierung, Frieden mit den Kurden, EU-Beitritt – das waren seine Ziele als Staatspräsident, als Ministerpräsident, als Außenminister und als Mitbegründer der AKP. Seit Erdogan diese Ziele aus der AKP verdrängt hat wie ihn selbst, hat Gül sich aus der Politik zurückgezogen. Dennoch hängen in diesen Tagen die Hoffnungen von Millionen Türken an ihm.

Erdogan tritt die Flucht nach vorne an

Sollte Gül sich zur Kandidatur für das Präsidentenamt entschließen und zur Wahl stellen, die Erdogan gerade auf den 24. Juni vorgezogen hat, könnte er die zersplitterte Opposition hinter sich vereinen. Eigentlich waren die Wahlen erst für November 2019 geplant. Doch nun tritt Erdogan die Flucht nach vorne an. So will er dem drohenden Niedergang der türkischen Wirtschaft zuvorkommen, der sich für das nächste Jahr abzeichnet – und die nationalistische Begeisterung ausnutzen, die der Krieg in Afrin entfacht hat. Drittens will er damit die Opposition überrumpeln, bevor diese sich hinter einem Kandidaten sammeln kann, einem Kandidaten wie Abdullah Gül.

Ihn würden sowohl die Kurden als auch die Kemalisten wählen, um Erdogan zu verhindern, und außerdem die wachsende Zahl von AKP-Anhängern, denen Erdogans Kurs nicht mehr geheuer ist. Technisch könnte Gül kandidieren, doch die große Frage ist: Wird er es wagen?

„Ich weiß schon, was Sie fragen wollen“, sagte Gül den wartenden Journalisten vor ein paar Monaten, als er aus einer Istanbuler Moschee trat. Er forderte Korrekturen an einem Regierungserlass, der Erdogan-Anhängern volle Straffreiheit bei der Bekämpfung angeblicher Staatsfeinde zusicherte. Es sei seine Pflicht, die Öffentlichkeit auf solche Mängel hinzuweisen, sagte er vor der Moschee. Die ganze Türkei war aus dem Häuschen vor Aufregung, dass Gül endlich einmal den Mund aufgemacht hatte.

Sehr verhalten war die Kritik – und doch wollte Erdogan selbst diese milde Rüge nicht auf sich sitzen lassen. Gül wurde in der regierungsfreundlichen Presse angegriffen, beschimpft und bedroht. Mit seiner Bemerkung über das Regierungsdekret habe er Erdogan nicht nur Grenzen aufgezeigt, merkte der Journalist und AKP-Kenner Rusen Cakir an: Die teilweise über Twitter verbreiteten Kommentare des Ex-Präsidenten zeigten auch, dass Gül in der Lage sei, die größtenteils von Erdogan kontrollierten Medien zu umgehen und trotzdem ein großes Publikum zu erreichen.

2001 gründeten sie gemeinsam die AKP

Dass Gül durchaus den Mut zu unangenehmen politischen Auseinandersetzungen hat, zeigt der Blick zurück in die jüngere Geschichte der Türkei. In den 1990er Jahren war er Sprecher der ersten islamistisch geführten türkischen Regierung, der die Haltung des Kabinetts gegen die Vormacht der Armee und der Kemalisten verteidigen musste. Kurz darauf führte er dann jenen aufständischen Flügel der Religiösen an, der mit dem Islamismus der alten Garde brechen und Islam und Demokratie vereinen wollte.

Unvergessen ist in der Türkei sein Auftritt beim Parteitag der islamistischen Fazilet-Partei im Jahr 2000. Gül trat gegen den Widerstand der Parteiführung als Bannerträger der Erneuerer an und stellte sich den heftigen Angriffen seiner Gegner im Saal. Damals verlor er zwar die Abstimmung um den Parteivorsitz, doch er rang den Traditionalisten einen Achtungserfolg ab, der zum Vorzeichen eines neuen Zeitalters für den politischen Islam in der Türkei wurde. Ein Jahr später gründete Gül gemeinsam mit Erdogan die AKP.

Gemeinsam schafften sie das Unmögliche: Aus dem Stand heraus holte die AKP bei der Wahl im November 2002 die absolute Mehrheit der Stimmen im türkischen Parlament. Der Sieg war eine politische Zäsur für das Land, eine Revolution an der Wahlurne. Nun hätte Gül die Chance, das noch einmal zu schaffen.

Der große Unterschied ist aber, dass Gül diesmal gegen Erdogan antreten müsste. In seiner aktiven Zeit war er ein treuer Gefährte des heutigen Staatspräsidenten. Gül übernahm zunächst kommissarisch für Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten und übergab es im Jahr 2003 an ihn, als dieser die Hürde eines politischen Betätigungsverbotes überwunden hatte. Damals erschreckte Gül die säkularistische Elite der Türkei unter anderem damit, dass seine Frau Hayrünissa im islamischen Kopftuch auftrat, was in jenen Tagen noch Mut erforderte. Dann aber trat Gül zugunsten von Erdogan zurück und wurde Außenminister: Die Loyalität zu seinem Weggefährten war ihm wichtiger als das Amt an der Regierungsspitze.

Sein Land, sagt er, sei ein „natürlicher Teil Europas“

Die Türkei werde Europa mit ihrem Reformeifer schocken, sagte Gül zu Beginn der AKP-Regierungszeit. Tatsächlich folgte ein Reformpaket nach dem anderen. Bei seinen EU-Kollegen machte er sich als Europa-Anhänger einen Namen. Sein Land sei ein „natürlicher Teil Europas“. Anders als Erdogan, der sein ganzes Leben in der Türkei verbracht hat, studierte Gül in Großbritannien und arbeitete später für die Islamische Entwicklungsbank in Saudi-Arabien. Er spricht Englisch und Arabisch, während Erdogan keine Fremdsprache kennt.

Im Kreis seiner westlichen Kollegen hatte es Gül oft leichter als zu Hause in der Türkei. Mit seiner Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2007 forderte er die Armee offen heraus: Die Generäle drohten mit einem Staatsstreich wegen Güls islamistischer Herkunft, aber auch wegen des Kopftuchs seiner Frau. Mit Massendemonstrationen setzte die AKP Gül gegen den erbitterten Widerstand der Säkularisten durch, doch leicht hatte es der damals neue Staatschef nicht. Bei einem seiner ersten öffentlichen Termine weigerten sich hochrangige Generäle, dem Staatsoberhaupt die Hand zu schütteln.

Abwarten. Abdullah Gül, hier bei einer Wahl im März 2014, hat seine Kandidatur noch nicht erklärt.
Abwarten. Abdullah Gül, hier bei einer Wahl im März 2014, hat seine Kandidatur noch nicht erklärt.

© AFP/Adem Altan

Damals schaffte Gül als erster türkischer Präsident aus dem religiösen Lager eine Zeitenwende. Wird er jetzt wieder eine neue Epoche einleiten? Als Präsidentschaftskandidat könnte er die Türkei gewissermaßen vor dem Präsidialsystem retten, das Erdogan bei der Wahl im Juni vollenden will. Gül könnte die Gewaltenteilung wieder stärken, für die er eintritt und die Erdogan abgeschafft hat. Er könnte auf die Kurden zugehen, mit denen die AKP zu seinen Zeiten einen Friedensprozess begonnen hatte, der dann von Erdogan beendet wurde. Gül könnte den EU-Beitrittsprozess neu beleben.

Erdogan dagegen will sich mit dem Präsidialsystem auf Dauer zentrale Machtbefugnisse sichern und eine Ein-Mann-Regierung bilden. Auch in der AKP hat der heutige Präsident die Macht nicht teilen wollen. Alte Mitstreiter wie Gül oder den früheren Parlamentspräsidenten Bülent Arinc hat er kaltgestellt und den Reformprozess abgewürgt. Die AKP wurde unter ihm von einer treibenden Kraft für die Modernisierung des Landes zu einem reinen Erdogan-Wahlverein.

„Er ist ein Schwächling“

Und Gül schaute zu. Kritiker halten ihn für einen Zauderer, der sich aus Furcht von Erdogan nicht aus der Deckung wagt. „Er ist ein Schwächling“, sagt Ahmet, ein Istanbuler Teehausbesucher, über Gül. „Erdogan dagegen ist ein echter Anführer.“ Auch heute, vier Jahre nach Güls Ausscheiden aus dem Präsidentenamt, wissen die Türken nicht, warum er sich so zurückhält. Selbst als Erdogans Justiz in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe prominenter Geschäftsleute aus seinem Umfeld im zentralanatolischen Kayseri einsperren und enteignen ließ, sagte Gül dazu nicht mehr als: „Ich hoffe, dass sie nicht weiter gequält werden.“ Auch seine Kritik am fast zwei Jahre geltenden Ausnahmezustand in der Türkei formuliert Gül sehr vorsichtig. Erdogan hat Gül mit dieser Zurückhaltung – manche meinen: Leisetreterei – nicht stoppen können.

Und doch hängen an diesem Mann nun die Hoffnungen von Erdogan-Gegnern aus allen politischen Lagern, die beim Verfassungsreferendum des vergangenen Jahres 49 Prozent der Stimmen zusammenbrachten: Türken, die Frieden wollen mit den Kurden und mit den Nachbarn, die frei von Unterdrückung und Zensur leben und Rechte für Frauen und Minderheiten sichern möchten, kurz: die eine europäische Türkei wollen.

Kein anderer Politiker kann Erdogan so gefährlich werden wie Gül. Meral Aksener, die Chefin der neuen rechtspopulistischen Partei Iyi Parti, wildert zwar mit Erfolg in der konservativen Stammwählerschaft der AKP, wird aber als knallharte Nationalistin und ehemalige Innenministerin von den Kurden abgelehnt, die mehr als zehn Prozent der türkischen Wähler stellen. Der charismatische Chef der legalen Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, sitzt im Gefängnis. Kemal Kilicdaroglu, als Chef der säkularistischen Partei CHP nominell der Oppositionsführer, ist farblos. Eine gemeinsame Mobilisierung der Erdogan-kritischen Wähler ist weder mit Aksener noch mit Kilicdaroglu möglich.

Wohl aber mit Abdullah Gül. Seine Kandidatur würde alle Kalkulationen Erdogans über den Haufen werfen. „Die Iyi Parti, die CHP und die MHP sollten sich hinter Gül stellen, das wäre was“, sagt ein kurdischer Händler aus Istanbul. „Wenn alle auf Gül setzen, dann ist es vorbei mit Erdogan.“

Vielleicht hat sich Erdogan verzockt

Um Präsident zu werden, braucht ein Kandidat mindestens 50 Prozent der Stimmen. Erdogan will das Ziel am ersten Wahlgang am 24. Juni erreichen – Güls Bewerbung könnte sicherstellen, dass daraus nichts wird. In einer Stichwahl Anfang Juli könnte Gül zum gemeinsamen Kandidaten der Opposition werden. Dann hätte sich Erdogan, der die vergangenen Jahre alles in die angestrebten präsidialen Vollmachten gesteckt hat, verzockt. Laut den Umfragen kann sich Erdogan selbst ohne Gegenkandidatur Güls nicht sicher sein, dass er die 50-Prozent-Marke erreicht. Mit Abdullah Gül im Rennen würden seine Chancen drastisch sinken.

Antreten könnte Gül als Kandidat der kleinen islamistischen Saadet-Partei. Ironischerweise ist die Saadet die politische Nachfolgerin jener Islamisten-Organisation, aus der Gül und Erdogan vor fast 20 Jahren ausstiegen, um die AKP zu gründen. Damals galt die Saadet als verknöcherter Altherren-Verein, doch heute positioniert sich die Partei geschickt als rechte Reform-Alternative zur AKP. Die Saadet-Partei „streut Sand in Erdogans Getriebe“, schrieb der Kolumnist Ahmet Hakan kürzlich in der „Hürriyet“. Parteichef Temel Karamollaoglu will in den nächsten Tagen mit Gül reden.

Die Kandidatur steht Gül also offen. Aber wird er es wagen? Millionen Menschen in der Türkei warten auf ein Wort von ihm.

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