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Tor und Thora. In seiner New Yorker Kindheit war Deutschland für Teichtal „so weit entfernt wie der Mond“. Er kam dennoch.

© Mike Wolff

Yehuda Teichtal trotzt dem Antisemitismus: Dieser Berliner Rabbi lässt sich auch durch Attacken nicht einschüchtern

Angriffe auf Juden in Berlin häufen sich. Rabbi Yehuda Teichtal sagt dennoch: „Wir denken gar nicht daran abzuhauen.“ Und baut einen Jüdischen Campus.

Da steht er, mitten in der Pfütze, zwischen nackten Betonwänden, Pfeiler stützen die Decke ab. Ein kalter Wind zieht durch den vierten Stock des Rohbaus, Yehuda Teichtal, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, schaut sich um. Dann sagt er: „Das hier. Das ist unsere Antwort.“

Übernächstes Jahr soll der Jüdische Campus in Berlin-Wilmersdorf seinen Betrieb aufnehmen. Mit Kita und Schule, Raum für Feiern und Vorträge, einer Sporthalle, einem Kino. „Wir denken gar nicht daran abzuhauen“, sagt Teichtal. „Im Gegenteil. Wir bauen weiter.“

Die Baustelle befindet sich in der Westfälischen Straße, in Sichtweite des jüdischen Bildungszentrums Chabad, das Rabbiner Teichtal vor zwölf Jahren eröffnet hat – und wenige Minuten Fußweg von der Stelle, an der er vor vier Monaten, Ende Juli, auf offener Straße auf Deutsch und Arabisch beschimpft und bespuckt wurde, auf dem Nachhauseweg von einem Gottesdienst, im Beisein seines Sohnes.

Die Baustelle ist die Antwort darauf, die Antwort auf den Hass, die Beleidigungen und Drohungen, die gewalttätigen Übergriffe gegen Juden.

Er habe danach viel Solidarität erfahren, sagt der 47-Jährige. Bundespräsident Steinmeier und Außenminister Maas kamen vorbei. Und die Übergriffe auf jüdisches Leben in Berlin gingen weiter. Im August wurde ein 55-Jähriger am Stuttgarter Platz attackiert, im September einem Jugendlichen in Friedrichshain ins Gesicht geboxt. Im Oktober versuchte ein Syrer, mit Messer in der Hand in die Synagoge an der Oranienburger Straße einzudringen, eine Woche später wurde ein 70-Jähriger in Pankow angegriffen.

Und dann der Anschlag von Halle am jüdischen Feiertag Jom Kippur. Während der Angreifer versuchte, die dortige Synagoge zu stürmen, feierte Teichtal gerade in Berlin mit 600 Gemeindemitgliedern.

„Das Vertrauen der Juden in die Bundesrepublik ist auf eine harte Probe gestellt“

Yehuda Teichtal sagt: „Das Vertrauen der Juden in die Bundesrepublik ist auf eine harte Probe gestellt.“ Er berichtet von Eltern, die Angst haben, ihre Kinder weiter zur Schule zu schicken. Von Familien, die überlegen auszuwandern. Dieses Mal lieber zu früh als zu spät. Er könne das gut nachvollziehen, sagt der Rabbi. Dennoch sei er überzeugt, dass Verstecken der falsche Weg sei: „Hass muss mit Liebe begegnet werden. Und Dunkelheit wird mit Licht bekämpft.“ Es gebe „Leute, die uns davon abbringen wollen, aber sie werden scheitern“.

Beim Rundgang durch die oberen Stockwerke des Rohbaus wirkt Teichtal euphorisch, klatscht den Bauarbeitern zu, ruft: „Ihr seid die Besten.“ Alle paar Minuten zückt er sein Smartphone, weil er noch irgendetwas zu organisieren, rückzusprechen, zu bestätigen hat.

Während viele Juden in Berlin auf der Straße nicht als solche erkennbar sind, einige aus Angst die Kippas zu Hause lassen oder mit Mützen bedecken, fällt Rabbi Teichtal mit seinem schwarzen Anzug, dem Hut und vollen Bart schon von Weitem auf. Für Antisemiten ist er ein Trigger auf zwei Beinen.

Teichtal gehört der sogenannten Lubawitsch-Bewegung an, einer orthodoxen Strömung, die im späten 18. Jahrhundert gegründet wurde und ihr Zentrum heute in New York hat. Das Etikett „orthodox“ habe er für sich lange abgelehnt, sagt Teichtal, das habe auf ihn genauso wenig gepasst wie der Begriff „liberal“: „Ich habe immer gesagt, ich bin einfach Mensch.“

Mittlerweile habe er begriffen, dass dies in Deutschland schwer vermittelbar sei, „die Menschen hier lieben Kategorien.“ Deshalb sagt er heute: „Ich bin orthodox, aber offen.“ Also offen für alle Menschen, egal welcher Religion oder sexueller Orientierung oder ob überhaupt gläubig. „Ich nehme jeden, wie er ist, und jeder ist willkommen.“

Das Bildungszentrum in der Münsterschen Straße ist durch dicke Betonpoller abgesichert, Polizisten stehen Wache, es gibt eine Einlasskontrolle und Scanner wie am Flughafen. Eine Wand des Foyers wurde der Klagemauer nachempfunden, die Steine stammen aus Jerusalem. Dahinter befindet sich der Synagogenraum, groß prangt das Logo des Zentrums: eine ausgebreitete Tora-Rolle mit Brandenburger Tor im Hintergrund.

Mehrfach wurden seine Schüler zusammengeschlagen

Im Obergeschoss liegen Büros und Seminarräume, hier bildet Teichtal Rabbiner aus. Mehrfach wurden Schüler in den vergangenen Jahren auf der Straße zusammengeschlagen, manche brachen daraufhin die Ausbildung ab und und verließen das Land, andere blieben. Teichtal habe jedes Mal gesagt: „Unsere Antwort auf die Dunkelheit ist das Licht.“

Um Berührungsängste abzubauen, werden jede Woche Besuchergruppen durch das Bildungszentrum geführt. Am Tag zuvor war es eine Berliner Schulklasse mit überwiegend muslimischen Schülern. Die meisten hatten noch nie einen Rabbiner gesehen, aber schon viel über sie gehört. „Manche Kinder“, sagt Teichtal, „kommen aus Familien, in denen der Hass auf Juden quasi in der Muttermilch weitergegeben wird.“

Er habe erst einmal lange über das Stadion gesprochen, das Hertha BSC bauen will, und die Schüler nach ihrer Meinung befragt. „Ich versuche, gemeinsame Interessen aufzuzeigen“, sagt Teichtal. „Das baut Wände ab, die gar nicht existieren müssten.“ Teichtal sagt auch: „Kein Mensch ist böse geboren. Was es braucht, ist Geduld.“

63 Familienmitglieder wurden von den Nazis ermordet

Yehuda Teichtal lebt seit 25 Jahren in Deutschland. Aufgewachsen ist er im New Yorker Stadtteil Crown Heights, einem Viertel in Brooklyn mit hohem Anteil orthodoxer Juden. Sein Großvater hat den Holocaust überlebt, 63 andere Mitglieder der Familie wurden von den Nazis ermordet. Etwa Yissachar Shlomo Teichtal, Yehudas Urgroßvater. Der Oberabbiner von Pistyan in der heutigen Slowakei wurde im Sommer 1944 nach Auschwitz verschleppt, im Januar 1945 kurz vor der Befreiung des Lagers in einen Zug nach Mauthausen gesteckt und während der Fahrt erschossen.

In seiner New Yorker Kindheit habe ihm Deutschland also nicht fremder sein können, sagt Teichtal. „Deutschland war so weit entfernt wie der Mond.“ Seine Familie habe darauf geachtet, keine deutschen Produkte zu kaufen: „Eine Waschmaschine von Siemens oder AEG war undenkbar.“

Ein Mittwochabend, halb acht. Im Gebetsraum im Erdgeschoss haben 40 Menschen auf den rot gepolsterten Sitzen Platz genommen, Yehuda Teichtal steht in der Mitte auf einem kleinen Podest, er wird einen Vortrag halten darüber, warum es im Leben wichtig sei zu kämpfen. Er zitiert aus der Tora, singt ein bisschen Michael Jacksons „We are the world“, spricht über Broadway-Comedy und Engel, Barbecue-Soße und die Kabbalah.

Das Judentum sei keine Religion des Perfektionismus, sagt er. Gott erwarte nicht „das Beste, sondern nur das Beste, was wir sein können“. Mal bringt Teichtal Popcorn als Metapher, mal Whatsapp-Nachrichten, zwischendurch sagt er: „Wer ein Problem hat, hat gleichzeitig auch eine Chance.“

Genau das habe Teichtal auch zu Horst Seehofer gesagt, als er im Innenministerium zu Gast war. „Wir Juden wollen nicht nur als Opfer gesehen werden.“

Dass Teichtal trotz der Vorbehalte in seiner Kindheit als junger Mann nach Deutschland ging, liegt an Menachem Mendel Schneerson, dem langjährigen Oberhaupt der Lubawitsch-Bewegung und einem der berühmtesten Rabbiner des 20. Jahrhunderts.

Zur Zeit der Weimarer Republik hat Schneerson in Berlin gelebt, Philosophie und Mathematik studiert. Als die Nazis an die Macht kamen, floh Schneerson nach Frankreich und später in die USA. Vor seinem einstigen Wohnort am Hansa-Ufer 7 in Moabit erinnert heute eine Gedenktafel an ihn.

Yehuda Teichtal bewunderte Schneerson, erlebte ihn in seiner Jugend in Brooklyn in etlichen Gottesdiensten. „Er sagte: Wir dürfen Deutschland nicht aufgeben. Wir müssen hingehen, Hass mit Liebe beantworten.“

Teichtal heiratete, dann kauften sich seine Frau Leah und er Tickets nach Berlin. Bloß den Hinflug. Sie sprachen kein Wort Deutsch.

Verwunderung über die Sicherheitsmaßnahmen in Deutschland

In den ersten Jahren wunderte er sich über die rigiden Sicherheitsmaßnahmen, mit denen jüdisches Leben hier geschützt wird. So etwas kannte er aus Brooklyn nicht, „ich fand das sehr übertrieben“, sagt er. Eines Nachts wurde der Kindergarten, den er gegründet hatte, attackiert, wurden Hakenkreuze an die Fassade geschmiert und der Schriftzug „Juden raus“. Die Täter versuchten, Feuer zu legen. „Was für ein Wahnsinn“, sagt er.

Es schockiert Teichtal, dass inzwischen eine Partei in den Parlamenten sitzt, die einen Extremisten wie Björn Höcke als „Mitte der Partei“ akzeptiert. Andererseits seien die Toleranten in Deutschland sehr deutlich in der Mehrheit, sagt Teichtal. Und die Solidaritätsbekundungen, die nach jedem neuen Angriff auf Juden erfolgen, seien erfreulich und wichtig. „Aber ganz ehrlich, sie reichen längst nicht aus.“

Es brauche konsequente Strafverfolgung der Täter, es könne nicht sein, dass ein Mann mit Messer in der Hand eine Synagoge stürmen will und kurz darauf wieder frei herumläuft. Es brauche auch mehr Prävention durch Bildung, Sensibilisierung an Schulen, gezieltes Training für Lehrer, damit sie Antisemitismus erkennen und einschreiten. Außerdem – und davon sei Deutschland leider noch weit entfernt – müsse endlich allen klar sein, dass jede Attacke auf Juden nicht nur gegen diese gerichtet ist.

„Juden sind eben ein leichtes Ziel. Aber es handelt sich um Angriffe auf die gesamte Gesellschaft.“ Gleiches gelte für Angriffe auf Muslime, Homosexuelle oder Frauen. „Das sind alles Varianten desselben Gifts.“

Der Jüdische Campus soll auch für Nichtjuden offenstehen

Das neue Gebäude, der Jüdische Campus, soll sieben Stockwerke haben, das sechste wird gerade gebaut. Für kommenden März ist das Richtfest geplant, es wird auch ein koscheres Restaurant geben, nebenan einen ökologischen Garten. Das Areal werde ausdrücklich auch Nichtjuden offenstehen, sagt Teichtal, „nur so kann es eine wirkliche Begegnungsstätte werden, in der wir Vorurteile überwinden.“

Sonntagmorgen, Viertel nach acht. Yehuda Teichtal hat sich mit seinem Wagen in die Kolonne eingereiht, die über den Jüdischen Friedhof in Weißensee rollt. Anlässlich des Volkstrauertags wird die Bundesverteidigungsministerin gleich der jüdischen Opfer unter den deutschen Soldaten gedenken, Teichtal soll das Gebet sprechen.

Am Steuer seines Wagens sieht er, wie rechts und links die alten Gräber an ihm vorbeiziehen. Er sagt, es sei wunderbar zu beobachten, wie sich das jüdische Leben wieder in Berlin entwickle. Diese Woche gab es eine Bar-Mizwa und eine Beschneidung, nächste Woche eine Hochzeit. „Ich denke immer an die Zukunft“, sagt Teichtal.

Seinen Großvater habe er nie überreden können, ihn in Berlin zu besuchen. „Dabei fand er es richtig, was wir hier vorhatten, was wir hier aufbauen wollen.“

Kritik an den Botschaften der deutschen Politik

Was Teichtal gerade besonders frustriere, seien die widersprüchlichen Botschaften, die er aus der Politik wahrnehme. „Einerseits gibt es die Beteuerungen: Ja, wir wollen jüdisches Leben in Deutschland.“ Andererseits werde dem iranischen Regime, das die Vernichtung Israels verspricht, zum 40. Geburtstag gratuliert. Oder es werde ein Angriff auf eine Synagoge, wie in Wuppertal geschehen, als „Israelkritik“ verharmlost. Oder nun auch nach dem Attentat von Halle wieder oft von einem „Einzeltäter“ gesprochen.

Die Männer, die ihn Ende Juli bespuckt haben, werden straffrei davonkommen. Laut Polizei konnten die Täter nicht zweifelsfrei identifiziert werden. Dass die Ermittlungen eingestellt wurden, sieht Teichtal als fatales Zeichen. Und die Übergriffe gehen weiter. Mitte November wurden Fußballfans in Marienfelde antisemitisch beleidigt, zwei Tage später wurde ein 76-jähriger Mann niedergeschlagen.

Glaubt Yehuda Teichtal sich selbst, wenn er sagt, die Intoleranten würden am Ende scheitern, das Licht werde die Dunkelheit verdrängen? „Ich bin Realist, ich sehe, was falsch läuft.“ Yehuda Teichtal sagt: „Aber ich bin auch Optimist.“

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