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Die Akademie bemüht sich um Schadensbegrenzung. Doch ob ein Neustart gelingt, ist offen.

© J. Nackstrand/AFP

Zerwürfnis über sexuelle Belästigungen: Warum die Schwedische Akademie den Literaturnobelpreis aussetzt

Sie hat sich um ihren eigenen Ruf gebracht. Nun setzt die Schwedische Akademie den Literaturnobelpreis für ein Jahr aus. Nicht nur, um den Mythos zu retten.

Da hat also wieder einmal die ganze Welt gespannt nach Stockholm geschaut und auf eine Entscheidung der Schwedischen Akademie gewartet. Allerdings außer der Reihe. Denn es ist dieses Mal ein Freitag gewesen, ein Freitag im Mai, morgens um 9 Uhr, und kein Donnerstag im Oktober, mittags um 13 Uhr, wie sonst, wenn die Akademie verkündet, wer den Literaturnobelpreis erhalten soll.

Es ist auch niemand aus einer weißen Tür herausgetreten, um vor den aufgeregt versammelten Weltmedien einen Namen zu verlesen. Nein, mittels einer knappen an die Nachrichtenagenturen verschickten Erklärung ließ die Schwedische Akademie im Namen ihres Interimsvorsitzenden Anders Olsson verkünden, dass sie den Literaturnobelpreis 2018 aussetzen wird. Er soll erst im nächsten Jahr mit dem 2019er-Preis vergeben werden.

„Wir halten es für nötig, Zeit zu investieren, um das Vertrauen in die Akademie wiederherzustellen, bevor der nächste Preisträger verkündet werden kann“, sagt Olsson danach in Interviews und fügt an: „Wir sind in einer ungewöhnlichen Situation und in Kämpfe verstrickt, die Akademie ist geschwächt. Wir müssen Respekt vor den Preisträgern haben, den vergangenen und den zukünftigen. Und als Institution glaubhaft bleiben.“

Woher nimmt sie die Autorität?

Es ist der vorläufige Höhepunkt einer schweren Krise dieser Institution, die wie keine andere in den vergangenen Jahrzehnten mit Bedeutung aufgeladen wurde. Und die sich nun, ihrer Integrität beraubt, der Frage stellen muss, woher sie eigentlich noch die Autorität nimmt, zu bestimmen, wer in den Kanon der Weltliteratur aufgenommen wird.

Seit Monaten werden immer mehr Missstände in der Schwedischen Akademie öffentlich, jenem aus 18 Mitgliedern bestehenden Gremium, das seit 1901 jährlich den Literaturnobelpreis vergibt.

Begonnen hatte diese Krise im Spätherbst des vergangenen Jahres, als im Zuge der #Metoo-Bewegung 18 angehende Schriftstellerinnen und Mitarbeiterinnen aus dem Umkreis der Akademie erklärten, sie seien sexuell angegangen und belästigt worden. Sie nannten auch einen Namen: den des französischstämmigen Fotografen Jean-Claude Arnault, Ehemann der 65 Jahre alten Lyrikerin Katarina Frostenson, die seit 1992 Mitglied der Akademie ist und über die Vergabe des Literaturnobelpreises mitentscheidet. Überdies geriet dabei der von Frostenson und Arnault betriebene private Kunstclub „Forum“ ins Zwielicht. Der Club hatte Zuwendungen von der Schwedischen Akademie erhalten, hier war es zu eben jenen sexuellen Übergriffen gekommen, hier soll illegal Alkohol ausgeschenkt worden sein und es Steuerhinterziehungen gegeben haben. Und auch Namen von Preisträgern sind von Arnault vor der Bekanntgabe durchgestochen worden.

Mitglieder traten aus

Als man nun im April innerhalb der Akademie über den Ausschluss der Lyrikerin beraten wollte – zumal Frostenson sich die Monate über loyal ihrem Mann gegenüber verhalten und alle Vorwürfe abstritten hatte –, kam es zum offenen Zerwürfnis innerhalb des Gremiums. Nach der Sitzung, in der man sich mehrheitlich nicht für einen Rauswurf Frostensons entscheiden konnte, teilten drei Mitglieder ihren Austritt mit: der Historiker Peter Englund, der Schriftsteller Klas Östergren und der Literaturwissenschaftler Kjell Espmark. Zwei Tage später gab die Schriftstellerin Sara Stridsberg bekannt, ihren Austritt zu überdenken, sollte Frostenson Mitglied bleiben und die kriminellen Vorfälle nicht konsequent aufgeklärt werden.

Seitdem geht es drunter und drüber im der Club der 18, der schon vor der Frostenson/Arnault-Causa aus nur 16 Mitgliedern bestand, denn die Schriftstellerin Kerstin Ekman und die Literaturwissenschaftlerin Lotta Lotass lassen ihre Sitze aus unterschiedlichen Gründen seit Jahren ruhen. Es folgte eine ergebnislose Vermittlung durch Schwedens König Carl Gustav, dem Schirmherrn des Literaturnobelpreises, und dann die Rücktritte der Jury-Vorsitzenden Sara Danius und schließlich auch Katarina Frostenson. Spätestens damit hatte sich die Schwedische Akademie allein wegen ihrer Statuten in eine praktisch ausweglose Lage gebracht. Austreten oder herausgeworfen werden kann eigentlich niemand aus der Akademie, eine Mitgliedschaft erlischt erst mit dem Tod. Weil es zudem zwei Drittel des Gremiums braucht, um – nach einer dann erfolgten Statutenänderung – über mögliche neue Mitglieder abzustimmen, war die Schwedische Akademie praktisch arbeitsunfähig. Ganz zu schweigen davon, dass sie bei all diesen Turbulenzen ihrer eigentlichen Aufgabe, der Sichtung potenzieller Literaturnobelpreisträger, kaum nachkommen kann.

Der wichtigste Kulturpreis neben dem Oscar

Nun geht es darum, wie Anders Olsson es angekündigt hat, die verspielte Glaubwürdigkeit wieder zurückzugewinnen – und Schadensbegrenzung zu betreiben. Denn der Literaturnobelpreis als Institution, als neben den Film-Oscars wichtigster, angesehenster Kulturpreis auf der Welt, als Preis, der stets größer, bedeutender ist als diejenigen, die ihn erhalten, hat viel Renommee verloren. Dabei ist es nicht einmal ein Novum, dass er ausgesetzt wird: In den Erste-Weltkriegsjahren 1914 und 1918 gab es keinen Literaturnobelpreis, nicht 1940 bis 1943, den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Und 1935 konnte sich das damalige Komitee auf keinen Preisträger einigen.

Viel entscheidender ist, dass nach den Zerwürfnissen der vergangenen Wochen und Monate der Literaturnobelpreis und sein Auswahlverfahren zur Debatte stehen. Dass sich die Frage stellt, warum die Literaturwelt eigentlich ausgerechnet dem Urteil einiger weniger schwedischer Historiker, Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler vertraut. Klas Östergren oder Kerstin Ekman beispielsweise mögen in Schweden zu den herausragendsten ihres Faches gehören, doch in Deutschland, den Vereinigten Staaten oder Lateinamerika sind sie nur Eingeweihten bekannt.

Und was befähigt den Historiker Peter Englund, von dem es in Deutschland zuletzt ein durchaus umstrittenes Buch über den Ersten Weltkrieg („Schöner Schrecken“) und ein Standardwerk über den Dreißigjährigen Krieg („Verwüstung“) gegeben hat, über die Literatur einer Herta Müller, eines Kazuro Ishiguros oder die vermeintlich preiswürdige Literarizität eines Bob Dylan zu urteilen? Zumal alle Akademie-Mitglieder allein wegen der Sprachbarrieren auf Expertisen von außen angewiesen sind, um letztgültige Entscheidungen fällen zu können. Marcel Reich-Ranicki zum Beispiel erzählte immer gern, wie er auf die per Brief formulierte Frage aus Stockholm nach möglichen Kandidaten Heinrich Böll genannt und dieser den Preis dann auch bekommen habe. Und er verriet genauso gern, was in dem Brief noch so drin stand: „Wir bitten, Ihr Urteil zu begründen. Aber wenn Sie es eilig haben, geht es auch ohne Begründung.“

Die Jury ist beweglich

Tatsächlich waren die Preisverleihungen in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr in den Fokus einer Öffentlichkeit geraten, die sich für Literatur eigentlich nicht interessiert, auch was ihre politische Signalwirkung anbetrifft. Was wiederum einherging mit immer heftigeren Debatten innerhalb der Literaturzirkel über die ästhetische Gerechtfertigkeit mancher Preisvergaben. Darüber ob beispielsweise Günter Grass 1999 seinen Preis nur wegen der ewig lange zurückliegenden „Blechtrommel“ erhalten habe, Herta Müllers Werk nicht zu monothematisch, ein Le Clézio nicht zu unbekannt sei, Doris Lessing nicht zu altmodisch, der Preis für Elfriede Jelinek nicht den Literaturnobelpreis entwerten würde.

Am erstaunlichsten an den Turbulenzen rund um die Akademie ist, dass sie es selbst mit ihrem Preisentscheidungen vermochte, der Aufladung des Preises einiges an Energie zu nehmen. Souverän erweiterte sie den eigenen Literaturbegriff und überführte ihn in eine gewandelte Literaturmoderne. Die Auszeichnung für den Songschreiber Bob Dylan war 2016 vielleicht der Höhepunkt. Aber auch die an die mit ihrem Werk im Dokumentarischen angesiedelte Autorin Svetlan Alexijewitsch 2015 zeigte die Beweglichkeit der Jury für neue Tendenzen in der Literatur.

Darüber konnte diskutiert werden. Über das, was in den vergangenen Monaten passiert ist, dürfte es keine zwei Meinungen geben. Die Jury hat sich zerlegt. Den Preis dieses Jahr auszusetzen ist eine gute und in dieser Zusammensetzung letzte Entscheidung gewesen. Am besten wäre es wohl, die verbliebenen Mitglieder würden auch zurücktreten und das Gremium sich per Statutenänderung und Königserlass persönlich gänzlich neu konstituieren.

Nicht nur der Kulturwelt wird natürlich im kommenden Oktober etwas fehlen, wenn da keine weiße Tür in den Räumen der Schwedischen Akademie aufgeht und der oder die Juryvorsitzende einen Namen von einem Zettel abliest – aber der Literaturnobelpreis dürfte letztendlich doch zu groß und zu wichtig sein, um diesen Aussetzer nicht locker zu überstehen.

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