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Zum Tod von Günter Grass: Sirenengesang und Trommelschlag

Eine Epoche ist vorüber. Messerscharf, manchmal knüppelhart, redete Günter Grass den Deutschen ins Gewissen. Er wurde geliebt und geschmäht wie kaum ein Schriftsteller vor ihm. Ein Nachruf

Sein wohl letzter öffentlicher Auftritt war vor zwei Wochen noch einmal ein persönlicher Triumph. Hamburg feierte Günter Grass, als am 28. März dort im Thalia Theater eine Bühnenversion seines „Blechtrommel“-Romans Premiere hatte. Und hinterher schüttelten viele, viele dem wie fast immer im rustikalen Cordsakko erschienenen Großschriftsteller die zart gewordene Hand, allen voran Olaf Scholz, der Erste Bürgermeister.
Grass, so erzählt eine enge Vertraute, sei dabei heiter wie lange nicht mehr gewesen. Die Inszenierung des belgischen Regiemeisters Luc Perceval, in der die über 70-jährige zauberhafte Schauspielerin Barbara Nüsse den zwergwüchsigen Trommelbuben Oskar Matzerath darstellt, hatte ihm überaus gut gefallen. „Stellenweise“, so Grass mit einem amüsierten Lächeln, „habe ich ganz vergessen, dass ich der Autor bin.“

Eigentlich konnte Grass, der Auftritte und Auftrieb um sich herum immer liebte, seit zwei Jahren kaum noch ohne eine Beatmungshilfe leben. Er hatte Herzprobleme, und die Lunge des passionierten Pfeifenrauchers versagte immer mehr. Trotz einer akuten Infektion hatte er am vergangenen Samstag vom Bett seines Landhauses in Behlendorf bei Lübeck noch lebhaft telefoniert, in der Nacht zum Sonntag aber kam ein Fieberschub. Seine Frau Ute brachte ihn in ein Lübecker Krankenhaus, wo der 1999 ausgezeichnete letzte Literaturnobelpreisträger des 20. Jahrhunderts am Montagmorgen im Alter von 87 Jahren gestorben ist.

Merkwürdig, so kurz vor seinem Tod hatte die „Blechtrommel“ wieder Saison. Sie wird, mit Blick auf den jetzt 70 Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkrieg und das Ende der Nazizeit, auch in anderen Theatern rezitiert und inszeniert, so im Januar in Frankfurt am Main von Oliver Reese, dem designierten Intendanten des Berliner Ensembles, der ehemaligen Brecht-Bühne. Und tatsächlich ist Günter Grass seit Thomas Mann und Bertolt Brecht der in der Welt berühmteste Autor der neueren deutschen Literatur. Oder sagen wir gleich: seit Goethe und Schiller. Ein Klassiker zu Lebzeiten. Geehrt, auch geschmäht, in jedem Fall auch so umstritten wie kein Zweiter.

Ein streitbarer Publizist, Redenschreiber und Interviewgeber

Als Grass vor neun Jahren in seinem Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“ zwischen den vielen Schalen als ziemlich dünne Unterhaut fast wie nebenbei offenbarte, dass er als 17-Jähriger zum Kriegsende hin noch Freiwilliger der Waffen-SS gewesen sei, war das ein Schock. Ein Schock, nicht weil der aus kleinbürgerlichem, ideologisch rechts verblendetem Milieu in Danzig stammende G. G. ein eingestandenermaßen dummer Junge gewesen war, der, wie er sagt, mit der „doppelten Rune am Uniformkragen“ nie einen Schuss abgegeben habe. Es war ein Schock, weil das Bekenntnis so spät kam – von einem, der als streitbarer Publizist, Redner und Interviewgeber anderen Menschen jahrzehntelang politisch und moralisch die Leviten gelesen hatte.

Ein Hai unter Sardinen

Günter Grass bei Dreharbeiten zur Verfilmung von "Die Blechtrommel".
Hier ist Günter Grass bei den Dreharbeiten zur Verfilmung des Romans im Jahr 1979 zu sehen, gemeinsam mit David Bennent als Blechtrommler Oskar Mazerath und Regisseur Volker Schlöndorff.

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Als Bundeskanzler Helmut Kohl mit US-Präsident Ronald Reagan 1985 zum damaligen 40. Kriegsende-Jubiläum den Soldatenfriedhof in Bitburg Hand in Hand besuchte, schäumte Grass, weil auf dem Friedhof auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind. Grass sprach von historischem Verdrängen, von Geschichtsblindheit und übersah den eigenen Balken im Auge: 32 der 49 in Bitburg bestatteten Angehörigen der Waffen-SS waren jünger als 25, auch Grass selber hätte einer von ihnen sein können. Zwei Jahrzehnte später stand er, der über sich nicht mehr schweigen wollte, nun selber als Beschämter da. Kein verdrängend Vergesslicher, vielmehr ein sonst oft messerscharf und manchmal knüppelhart ins nationale Gewissen redender Verschweiger.

Aber das ist jetzt nur noch ein Detail, ein wunder Punkt in einer wundersamen, denn doch viel größeren Geschichte.

Der erste deutsche Weltstar seit 1945

Ein Hai unter Sardinen. Oder profaner gesagt: der erste deutsche Weltstar nach 1945. Zu einer Zeit, als Romy Schneider für die meisten noch Sissi war und man die deutschen Fußballhelden von '54 so richtig bloß in der Pfalz, in Nürnberg, Köln oder Essen kannte. Hier nun war einer, der zum Titelhelden des amerikanischen „Time Magazine“ taugte und zum Schwarm japanischer Studentinnen. Als der Hai indes noch ein sehr kleiner, unbekannter Fisch war, ist er ein bisschen im braunen Tümpel mitgeschwommen. Was eben keiner wusste. Und dann das: Günter Grass taucht im Leben, im nicht nur literarischen Leben Nachkriegsdeutschlands auf wie ein Naturereignis. Jäh, trotz allererster Anerkennung schon beim Treffen der Gruppe 47, kohläugig, schwarzschnauzbärtig, in fabulösen Zungen redend, himmeltiefen Tönen schreibend. Einer, der mit den Wörtern tanzte und ebenso gern mit den Frauen, selbst wenn sie oft einen halben Kopf größer waren. Ein Feger, sechs Kinder von drei Müttern, umwerfend, verführerisch.

Ein Naturereignis, doch das einer Kunst- und Künstlernatur. Mit der Ankunft des gerade gut dreißigjährigen Günter Grass sah die eigentlich viel jüngere Bundesrepublik plötzlich altbacken aus. Das historisch geschlagene, sich eben aufrappelnde Adenauer-Halbland hatte trotz begonnenem Fernsehen und Erhards Wirtschaftswunder bis zum Ende der 50er Jahre an alltagskultureller Weltöffnung noch nicht so viel erlebt: wenig über den von amerikanischen GIs importierten Keller-Jazz, das Fußballmirakel von Bern, die frühe Rock-'n'- Roll-Welle und die ersten Adriareisen hinaus.

Doch, halt: Es gab natürlich wieder die von den Nazis vertriebenen, verfemten Künstler. Vor allem ihre Bücher oder Stücke – und überhaupt wieder: die Weltliteratur, von Thomas Mann bis Brecht, von Hemingway bis Sartre. Es gab zudem schon Heinrich Böll. Oder Wolfgang Koeppen. Mit Büchern wie „Haus ohne Hüter“ oder „Der Tod in Rom“, beide 1954 erschienen, die vom Schatten der NS-Zeit, vom Nachkrieg und belasteten Neuanfang erzählten. Keine provinziellen Bücher, indes sehr deutsche Chosen.

"Die Blechtrommel: grassklar Weltliteratur

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1961 lernt Grass Willy Brandt kennen. Er unterstützt mehrere SPD-Wahlkämpfe und tritt der Partei 1982 bei.

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Aber als 1959 die über 700-seitige, teilweise in einer Pariser Kemenate bei ländlichem Rotwein und vielen schwarzen Zigaretten geschriebene „Blechtrommel“ erschien, war das grassklar Weltliteratur. Kein deutscher Roman hatte bis dahin einen so genialen Grundeinfall: Weltkriegs- und Jahrhundertgeschichte aus der Untersicht des kleinwüchsigen, in einer Heilanstalt eingewiesenen Trommlers und Glaszersingers Oskar auszuspinnen: eines Kindskopfs, der noch das größte Grauen auch als größte Groteske erlebt, als (un)heiliger Narr und Nachfahre des Grimmelhausenschen Simplicius aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.

Seine Werke sind längst kanonisiert

Plötzlich öffnete sich da, im Ton und Schlag des Blechtrommlers, ein gewaltiger, jeden kleinteiligen Realismus übersteigender, gleichwohl von realistisch sinnlichster Anschauung erfüllter Echoraum. Und kein anderer konnte mit einer solchen Szene wie Grass ein ganzes Epos beginnen: wieder in Untersicht, weil unter den vielen, zwiebelschalenartigen Röcken der kaschubischen Großmutter Oskars. Auf einem Kartoffelacker Ende des 19. Jahrhunderts sucht ein gerade vor der Polizei geflüchteter polnischer Brandstifter unter ihren Röcken Schutz – und macht ihr ebendort eine Tochter, die Oskars Mutter wird. Eine so skurrile wie epochale, das Polnische, Deutsche, Kaschubische vereinende Ouvertüre. Und tatsächlich hatte der dunkle Schnauzbart Grass seiner eigenen kaschubischen Großmama derart ein poetisch erotisch liebendes Denkmal gesetzt.

Mit am schnellsten, am hellsten brachte der zwei Jahre jüngere Hans Magnus Enzensberger das Ereignis G. G. plus „Blechtrommel“ auf den Begriff. Im November 1959 sagte Enzensberger, der zuvor mit seinem Gedichtband „Die Verteidigung der Wölfe“ selber furios debütiert hatte: „Dieser Mann ist ein Störenfried, ein Hai im Sardinentümpel, ein wilder Einzelgänger in unserer domestizierten Literatur, und sein Buch ist ein Brocken, wie Döblins ,Berlin Alexanderplatz’, wie Brechts ,Baal’, an dem Rezensenten und Philologen mindestens ein Jahrzehnt lang zu würgen haben, bis es reif zur Kanonisierung oder zur Aufbewahrung im Schauhaus der Literaturgeschichte ist.“ Kanonisiert ist die „Blechtrommel“ längst. Sie wurde vier Millionen Mal in 25 Sprachen verkauft, und ihre Verfilmung durch Volker Schlöndorff hat 1979 die Goldene Palme in Cannes gewonnen und 1980 einem deutschen Regisseur zum ersten Mal nach dem Krieg einen Oscar beschert. 1959 das Buch, zwanzig Jahre später der Film, vierzig Jahre später der Literaturnobelpreis. Genau 70 Jahre nach Thomas Mann, der 1929 gleichfalls für seinen Erstling, „Die Buddenbrooks“, den höchsten Lorbeer erhalten hatte.

Grass - ein Mann mit Charisma

Im April 2007 eckt Grass jedoch erneut an: In der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht er ein Gedicht unter dem Titel "Was gesagt werden muss".
Im April 2007 eckt Grass jedoch erneut an: In der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht er ein Gedicht unter dem Titel "Was gesagt werden muss".

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Mann bekam den Nobelpreis für ein drei Jahrzehnte zurückliegendes Buch, als er neben viel anderem bereits seinen noch preiswürdigeren „Zauberberg“ veröffentlich hatte. Auch Grass spürte diesen einzigen Dorn im goldenen Lorbeer: dass die Auszeichnung dem Frühwerk, dem Debütanten galt, verlieh dem längst Weltberühmten den Hauch auch des „ewigen“ Anfängers, des spät geehrten Frühvollendeten. Der Verdacht, hier habe einer seinen Geniestreich als Erzähler schon mit dem ersten Streich geführt, begleitete den Autor der Danziger Trilogie (nach der „Blechtrommel“ Anfang der 1960er Jahre die schöne Novelle „Katz und Maus“ und der zweite Roman „Hundejahre“) eine geraume Weile. Er selbst, der einst auch fabelhaft freche, eher surrealistische Gedichte schrieb, erklärte sich das vor allem als Verdächtigung einer missgünstigen Kritikerschaft. Wobei sich das Politische und das Ästhetische bei Grass und notabene seinen Kritikern spätestens seit Mitte der 60er Jahre vermischt hat.

Redenschreiber Willy Brandts

Da war G.G. schon der Redenschreiber Willy Brandts bei dessen erstem Bundestagswahlkampf 1961 gewesen und hatte dann beim zweiten Anlauf 1965 nicht nur das Hohelied der „EsPeDe“ gesungen, er selber auf Tournee in vielen Wahlkampfstädten. Er war es auch, der den als uneheliches Kind geborenen ehemaligen Emigranten Brandt gegen offene oder oft denunziativ verdeckte Hetze wortmächtig in Schutz nahm.

Es war kein abgehobener, kein glanzvoll hoher Ton. Im Ganzen blieb Grass ganz prosaisch. Doch auf einmal zitierte er zwischen Finanzministern, Juliusturm, Bauern- oder Industrieverbandspräsidenten, zwischen Bundeswehr und Bundesweh den amerikanischen Volks- und Weltdichter Walt Whitman mit seinem „Dich singe ich, Demokratie“. Und setzte seine EsPeDe als einzige Partei, die einst (das KZ vor Augen) gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte, in ihr historisches Recht. Sprach als einer der Ersten Tacheles: eine Schande, wenn man sich in der deutschen Politik für einen Widerständler und Emigranten 20 Jahre nach Hitlers Tod noch quasi entschuldigen müsse.

Wer Grassens Reden von damals liest, wieder liest, findet auch so Unsinniges darin wie die Forderung nach Abschaffung der nach den Erfahrungen der Weimarer Republik so segensreich errichteten Fünf-Prozent-Hürde im Bundeswahlgesetz. Was man in den eher spröden Texten jedoch nicht findet, wenn man’s nicht erlebt hat, ist der Ton, damals, im zeitgeschichtlichen, lebenswirklichen Kontext. Wie Grass, ein allemal betörender (Vor-)Leser, sein politisch Lied mit so sonor sanfter, alle Brüche verschleifender, sich insistent, aber nie lauthals steigernder Stimme sang, in einem weichen, pommerschen Rollen und Grollen. Ein verlockender, schier unwiderstehlicher Sirenengesang. Der Mann hatte Charisma.

Früher Warner vor dem "linken Faschismus"

Starker Tobak. Die Pfeife war Günter Grass' Markenzeichen. Er war Mahner und Warner der Nation - geliebt und gehasst zugleich.
Starker Tobak. Die Pfeife war Günter Grass' Markenzeichen. Er war Mahner und Warner der Nation - geliebt und gehasst zugleich.

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Natürlich gab es die hanebüchenen Irrtümer. Wenn Grass in einem „Zeit“-Artikel nach der Wende von einem „Schnäppchen namens DDR“ sprach und die deutsche Teilung gleichsam als Strafe für Auschwitz verewigen wollte, dann redete er über Herzen und Köpfe hinweg. Bei einem über 1000 Milliarden kostenden, kostbaren Schnäppchen. Dass ihn 2012 die Sorge um den Weltfrieden, um Israel und den Mittleren Osten zu dem holprigen, zudem anmaßenden Kolportagegedicht „Was gesagt werden muss“ hingerissen hat, in dem er vor einem israelischen Atomangriff auf den Iran warnte, machte ihn nicht zum Antisemiten. Kein israelischer Schriftstellerkollege vom Rang eines Amos Oz oder David Grossman würde dies Grass (anders als jüngere deutsche Kritiker) unterstellen. Das Gedicht im Lichte der lange verschwiegenen Waffen-SS-Mitgliedschaft zu lesen, war und ist unfair. Es im Schatten der eigenen Jugendtorheit geschrieben zu haben, war allerdings: Alterstorheit.

Ende einer Ära

Manchmal überwog bei diesem großen, gegenüber Freunden wie auch Fremden in Not jederzeit großzügigen Autor statt des engagierten Intellektuellen der enragierte Künstler. Der dann mit so heftigem Pinsel nicht mehr ganz so kunstvoll schrieb wie der gelernte Bildhauer und Maler mit Händen formte und mit der Radiernadel oder der Tuschfeder bis zum Schluss virtuos gezeichnet hat. Andererseits befiel ihn mitunter eine gewisse Steifheit und sogar Blässe im Stil und poetischen Bild, wenn man seine mittlere Prosa, etwa vom Roman „Der Butt“ (1977) bis zum fontanehaft gemeinten „Weiten Feld“ (1995) heute betrachtet. Grass war in seinen Anfängen wirklich besser.

Es bleibt jedoch ein kaum zu unterschätzendes Verdienst von Günter Grass, den jugendlichen Fanatikern unter den 68er-Rebellen frühzeitig die Warnung vor einem „linken Faschismus“ (so Jürgen Habermas) entgegengehalten zu haben. Weil er eben selber erfahren hatte, was ideologischer Wahn als totalitärer Wahrheitsanspruch bewirkt.

Schon damals, Mitte der 60er Jahre, war das auch ein Generationenkonflikt, und die Kinder von Marx und Coca-Cola hielten sich als Nachgeborene für unfehlbar unschuldig. Einige von ihnen, die Ex-Jusos und Ex-Spontis, gelangten 1998 bis 2005 sogar an die politische Macht. Doch die intellektuelle Szene haben sie nie beherrscht. Dort regierten bis gestern die Großväter: die Generation der Flakhelfer, die ihrerseits zu jung war, um vor 1945 mehr als unschuldig schuldig zu werden.

Die Generation Golf hat diese alten Rigoristen nie ablösen können. Im Vergleich zu den Flakhelfern oder Panzerschützen Grass, Habermas, Enzensberger, Walser oder auch Ratzinger sind die geistigen Minigolfer keineswegs zu dumm. Sie sind nur zu erlebnisarm, spannungsloser, abgrundlos. Ohne eigenen historischen Echoraum. So verhallen sie, und keiner von ihnen bringt es je zum Papst. Nicht einmal mehr zum Literaturpapst. Der Tod von Günter Grass markiert auch das Ende einer Ära.

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