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Pierre Boulez 1972 in Paris.

© imago/Haytham Pictures

Zum Tod von Pierre Boulez: Sprengmeister der Moderne

Er war Komponist, Dirigent, Systemkritiker. Pierre Boulez hat die Musikwelt revolutioniert – und keinen geschont. Am wenigsten sich selbst.

Dieser Satz wird von ihm bleiben: „Die teuerste Lösung wäre“, sagt Pierre Boulez im Interview mit dem „Spiegel“ im Sommer 1967, „die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Aber glauben Sie nicht auch, dass dies die eleganteste wäre?“ Eine Provokation. Bis heute. Und Boulez geht noch weiter: Nicht nur die musiktheatralische Infrastruktur will er radikal abräumen, der Franzose rechnet in dem Gespräch auch noch mit den berühmtesten seiner Komponistenkollegen ab sowie dem gesamten zeitgenössischen Regie- und Intendantenpersonal.

Hans Werner Henze? „Erinnert mich an einen lackierten Friseur, der einem ganz oberflächlichen Modernismus huldigt.“ Boris Blacher? „Filmkulissenmusik.“ Kurt Weill und Paul Dessau? „Unwichtige Musiker.“

Rolf Liebermann? „Ein Intendant darf seinen bürgerlichen Durchschnittsgeschmack nicht auch noch institutionalisieren.“ Die Pariser Oper? „Ist voller Staub und Scheiße.“

Pierre Boulez weiß, wovon er spricht

Der deutsche Theaterbetrieb? „Die chinesischen Rotarmisten hätten hier einiges zu tun.“ Das Publikum? „Ich habe keine Sehnsucht, die Leute zu befreien, die lieber im Ghetto ersticken wollen.“
Der junge Pierre Boulez ist extrem, ein scharfzüngiger Systemkritiker, wild entschlossen, es sich mit allen und jedem zu verscherzen. Und er weiß, wovon er spricht.

Von 1946 bis 1956 hat der als Dirigent wie Komponist gleichermaßen Begabte Erfahrungen als musikalischer Leiter in der Pariser Avantgardetheater-Truppe von Jean-Louis Barrault gesammelt, 1964 debütiert er mit „Wozzeck“ an der Pariser Opéra, zwei Jahre später bringt er dasselbe Stück in der Regie von Wieland Wagner in Frankfurt heraus, ebenfalls 1966 beeindruckt er in Bayreuth mit einem klanglich entschlackten „Parsifal“ und dirigiert „Tristan und Isolde“ auf einer Japan-Tournee der Wagner-Festspiele. Kurz bevor er die „Spiegel“-Redakteure trifft, hat er sich maßlos über die Verantwortlichen der Frankfurter Oper geärgert, wie sie seine „Wozzeck“-Wiederaufnahme als Repertoirealltag betrachten und ihm viel zu wenig Proben zugestehen wollten.

Verbalattacken machen ihn zum Stadtgespräch

Schon zu einer Zeit, als nur eine Handvoll Menschen seine Werke kennen, ist der Student Pierre Boulez wegen seiner Verbalattacken Pariser Stadtgespräch.

Er hat sich zum Anführer einer Truppe Junger Wilder aufgeschwungen, die sogar Aufführungen von Strawinsky-Stücken niederbuhten, in der festen Überzeugung, nach 1945 könne das Musikleben nicht einfach da weitermachen, wo es vor dem Krieg stehengeblieben war. Ein Mann mit Leidenschaften, „einer, der mit dem Kopf fühlte und mit dem Herzen dachte“, wie es der Dirigent Daniel Barenboim am Mittwoch in seiner Reaktion auf den Tod seines langjährigen Künstlerfreundes formulierte.

Warum er nach dem Abitur rebellierte

Pierre Boulez 2010 in Wien.
Pierre Boulez 2010 in Wien.

© imago/SKATA

Die kompromisslose Abneigung gegen das Hochkultur-Establishment mag auch daher rühren, dass Pierre Boulez keine Chance hatte, als Kind die Rituale von Konzert- und Opernbetrieb kennenzulernen. Am 26. März 1925 geboren, wächst er auf dem Land auf, in Montbrison, einem Städtchen 90 Kilometer südwestlich von Lyon.

Die Familie ist wohlhabend, der Vater, technischer Direktor der örtlichen Stahlfabrik, aber hat mit Kunst nichts am Hut. Klavierunterricht erhält der kleine Pierre lediglich, weil es für eine bürgerliche Familie gesellschaftlich dazugehört. Von den vielen Talenten seines Sohnes fördert das Familienoberhaupt nur die mathematische Begabung. Nach dem Abitur und einem Studienjahr an der Ecole Polytechnique in Lyon rebelliert der Junge, erklärt, er werde nun in Paris Komposition studieren – was erstaunlicherweise nicht zum Bruch mit dem Vater führt. Der mag sich zwar bis zuletzt nicht mit der Berufswahl anfreunden, unterstützt ihn aber finanziell so lange, bis Pierre von seiner Kunst leben kann. In Paris lässt sich der rebellische Neutöner von den Komponisten Arthur Honegger fördern und von Olivier Messiaen unterrichten – ohne freilich ein gutes Wort über deren Werke zu verlieren.

Er sagt: „Schönberg ist tot“

1951 erklärt er „Schönberg ist tot“ und verdammt Strawinsky. Sein Vorwurf: Nachdem beide in der Musik Revolutionäres vollbracht hatten – die Zerschlagung des tonalen Systems respektive die Befreiung des Rhythmus aus dem Korsett der Konventionen – sind sie zu klassischen Formen zurückgekehrt, zu Sonate, Sinfonie, Streichquartett. Das aber will Boulez um keinen Preis. Sein Ziel ist es, neuartig strukturierte Stücke zu erschaffen, bei denen er sämtliche Parameter intellektuell kontrollieren kann: Nicht mehr nur die Tonhöhe, sondern auch Rhythmen, Anschlagsarten und Tondauern werden nach streng rationalen Prinzipien festgelegt. Dafür entwickelt er das Zwölftonprinzip der zweiten Wiener Schule weiter. Durch diesen Serialismus, sagt Boulez, wird „die Musik sich ihrer selbst bewusst, zum eigentlichen Objekt ihrer Reflexion“. Es entstehen hermetische Werke, die bei aller Abstraktion in der deutschen Tradition von Bach, Beethoven und Brahms wurzeln: In der tonsetzerischen „Arbeit“ werden kleinste motivische Zellen auf alle erdenklichen Veränderungen hin untersucht.

Boulez überschreitet die eigenen Regeln

Mit seiner „objektiven Musik“ setzt sich Pierre Boulez bald an die Spitze der Nachkriegs-Avantgarde. Doch er verharrt nicht im einmal gefundenen synthetischen Partiturherstellungsmechanismus. Bereits in „Le Marteau sans maître“ überschreitet er 1953 die eigenen Regeln, führt Freiheiten für die Interpreten ein, Passagen, in denen sie selber über die zeitliche wie inhaltliche Gestaltung eines vorgegebenen Musikmaterials entscheiden. Auch diese „Aleatorik“ wird schnell stilbildend. Doch während sich seine Komponistenkollegen noch lustvoll den Improvisationsabenteuern hingeben, ist Boulez schon wieder einen Schritt weiter. Er wendet sich der Elektronik zu, will mit modernster Technik multidimensionale Konstrukte erschaffen, nie dagewesene Raummusik.
Dann allerdings führt ihn eine Reihe von Zufällen in eine andere Richtung: zum Dirigieren. Aus dem Autodidakten, der Uraufführungen leitet, wenn sich kein anderer zutraut, die komplexen Strukturen umzusetzen, wird ein global gefragter Maestro. Fast zeitgleich bieten ihm das BBC Symphony Orchestra wie auch das New York Philharmonic Chefposten an. Er akzeptiert beide Offerten, fordert ab Herbst 1971 das Publikum in London wie New York mit anspruchsvollen Programmen heraus, arbeitet bis zur völligen körperlichen Erschöpfung.

Er hasste faule Kompromisse

Pierre Boulez 1972 in Paris.
Pierre Boulez 1972 in Paris.

© imago/Haytham Pictures

Die Musiker bewundern Boulez’ Musikalität, seine analytischen Fähigkeiten, vermissen aber doch, ebenso wie viele Hörer, in den Aufführungen von der Musik mitgerissen zu werden. Die Klarheit des Klangbildes geht bei Boulez mit einer bewussten emotionalen Distanziertheit einher. Als Dirigent eigener Werke, als Interpret der französischen Komponisten seit Debussy, aber auch von Bartok, Mahler oder der zweiten Wiener Schule wird er dennoch weltweit verehrt, gastiert regelmäßig bei den berühmtesten Orchestern. In Berlin ist er nicht allein bei den Philharmonikern zu erleben, sondern – dank seiner Freundschaft mit Daniel Barenboim – ab den neunziger Jahren auch häufig an der Staatsoper. „Weil ich einen faulen Kompromiss nicht als Lösung ansehen kann, bin ich imstande, nach vorne zu fliehen“, hat Pierre Boulez seine Geisteshaltung einmal umrissen. Und viele der radikalen Forderungen, die er als junger Kulturkämpfer aufgestellt hat, konnte Pierre Boulez tatsächlich in seinem langen Künstlerleben umsetzen. Er hat die Opernhäuser nicht gesprengt, sondern den mühsamen Weg durch die Institutionen angetreten, das System von innen heraus reformiert. Auch unter den Kulturpolitikern des späten 20. Jahrhunderts nimmt der machtbewusste Boulez eine Spitzenstellung ein. Experimentalbühnen für zeitgenössische Werke, wie er sie 1967 anmahnte, besitzt inzwischen fast jeder Musiktheaterbau. Mit dem legendären Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ von Boulez und Regisseur Patrice Chéreau begann 1976 tatsächlich eine neue musikästhetische Epoche. Die erst wütend bekämpfte und nach fünf Sommern dann frenetisch bejubelte Produktion machte ein Weiter-So bei der Inszenierungspraxis ebenso unmöglich wie bei der musikalischen Wagner-Interpretation. Pierre Boulez hat Generationen geprägt, auf Seiten der Macher ebenso wie auf Seiten der Zuschauer.

Eine eigene Oper blieb er schuldig

Nachdem ihn Präsident Georges Pompidou 1969 persönlich gebeten hatte, die Musiksparte am neuen Pariser „Centre Pompidou“ zu übernehmen, baute er das IRCAM-Forschungsinstitut zu einem bedeutenden Player in der zeitgenössischen Musikszene auf. 1976 gründete er das ganz auf heutige Werke spezialisierte Ensemble Intercontemporain, dem er 1995 in der neuen Cité de la musique im Nordosten der französischen Hauptstadt schließlich sogar einen eigenen Konzertsaal verschafft.
Nur eine eigene Oper ist Pierre Boulez der Welt schuldig geblieben. 1967, im „Sprengt die Opernhäuser“-Interview hatte er versprochen, sich „mit einem Schriftsteller zusammenzutun, der bei jedem Wort, das er niederschreibt, spürt, dass Musik dazukommt“, ja dass der Text nur mit Musik existenzfähig ist. Doch kein Autor vermag dem Komponisten dieses Material zu liefern. Selbst Daniel Barenboim gelang es nicht, seinen Freund zur Tat zu bewegen.
2003 hat Pierre Boulez dafür noch einmal ein bedeutendes Projekt gestartet, mit 78 Jahren: Beim feinen Schweizer Lucerne Festival gab er allsommerlich sein Wissen weiter, als Leiter einer Festival-Academy, half jungen Instrumentalisten wie Dirigenten, sich das Universum zeitgenössischer Musiksprachen zu erschließen. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens dieses Projekts schreibt der Komponist Wolfgang Rihm: „Sein Hauptprojekt ist das aufleuchtende Wesentlich-Werden musikalischer Ereignisse, die auf ihrem Weg von der Konzeption zur Rezeption allen denkbaren Gefahren der Verwischung, des Verschleißes, des Verlustes ausgesetzt sind. Künstler wie Pierre Boulez stehen gegen diese Verlustsphären. Er hält den Verlust auf. Das bereichert unser Leben.“
Bis in sein 86. Lebensjahr beeindruckt Pierre Boulez Publikum wie Musiker durch seine geistige und körperlich Präsenz. Dann aber stürzt er auf dem Frankfurter Flughafen: Da scheint mit der Schulter auch sein Lebensmut zu zerbrechen. Im Sommer 2014 besucht er ein letztes Mal Luzern, doch er ist nur noch ein Schatten seiner Selbst, ein zerbrechlicher Greis. Keine der Feiern, die 2015 rund um seinen 90. Geburtstag in aller Welt stattfinden, kann Boulez besuchen, nicht einmal die in Baden-Baden, wo er seit den sechziger Jahren lebt. Dort ist er nun am Dienstag gestorben.
Dass bald Straßen und Plätze nach ihm benannt werden, ist sicher. Berlin ist schon einen Schritt weiter: In der Barenboim-Said-Akademie trägt der von Frank Gehry entworfene Saal bereits jetzt seinen Namen.

Regine Zott hat im Wissenschaftlichen Verlag Berlin eine Publikation mit dem Titel "Klangvoller Auftakt - stilles Finale" herausgebracht, in dem es auch um Boulez' Beziehung zu Deutschland geht. Das Buch dokumentiert die Diskussion, die ab 1965 in der Max-Planck-Gesellschaft über die Einrichtung eines Instituts für Musik stattfand, an dem auch Boulez beteiligt sein sollte. In dieser Zeit entschloss sich der Komponist, nach Baden-Baden zu ziehen.

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