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Schon Goethe sprach vom Weltbürger.

© dpa

Wir in Europa: Beilage von Exiljournalisten: Eine globale Identität

Bringt die EU echte Weltbürger hervor? Eine Vision.

Dieser Text ist im Rahmen des Exiljournalistenprojekts #jetztschreibenwir entstanden. Das mehrfach preisgekrönte Tagesspiegel-Projekt, das von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und der Robert Bosch Stiftung unterstützt wird, begann im Herbst 2016 mit einer ganzen Tagesspiegel-Ausgabe mit Texten von Exiljournalisten. Nach "Wir wählen die Freiheit" (September 2017) und "Heimaten" (Juni 2018) erscheint mit "Wir in Europa" (Mai 2019) die dritte Beilage, die von Exiljournalisten gestaltet wurde. Der Autor (32) ist seit Sommer 2016 in Deutschland. Er absolviert ein Masterstudium in Anglistik und Amerikanistik an der Universität Potsdam.

Seit ihrer Gründung 1993 ist die Europäische Union nicht bloß eine ökonomische und politische, sondern auch eine soziale und bürgerliche Union. Die 28 Mitgliedstaaten haben – nach der Entwicklung eines Binnenmarktes – begonnen, eine Art soziale Gemeinschaft zu schaffen, also gemeinsame soziale Normen für alle europäischen Bürger. Im Gegensatz zu der Zeit vor der Gründung der EU haben die Bürger Europas nun doppelte Identitäten: sowohl nationale als auch europäische. Das ermöglicht ihnen – jedenfalls dem Ideal nach –, ihre nationale Identität zu transzendieren; sie können sich so fühlen, als ob sie alle einer einzigen Nation angehörten.

Die Europäische Union erweiterte mit vollem Erfolg den Raum des Selbst auf Kosten des Raumes des Anderen. Jedes europäische Land betrachtet die anderen nun als Verbündete – und damit in gewissem Sinne nicht als ein „Anderes”, sondern eher als Erweiterung seiner eigenen Identität.

Auch Goethe hat den Begriff verwendet

Wenn nationale Identitäten jedoch aggressiv verteidigt werden, ist der Frieden in Gefahr. Der Europäischen Union ist es gelungen, Mauern zwischen den Nationalstaaten einzureißen, sie unter einer Flagge zu vereinen, eine stärker kollektive Identität zu entwickeln und dabei nationale Identitäten der Mitgliedsstaaten zu wahren.

Nun wäre es nur folgerichtig, wenn die Europäische Union in Richtung Globalismus oder, genauer gesagt, Weltbürgertum voranschreiten würde. Der Begriff selbst wurde im 8. Jahrhundert von den Stoikern geprägt. Er bedeutet, dass alle Menschen einer einzigen Gemeinschaft angehören, die alle Nationen, die ganze Menschheit umfasst. Auch Goethe hat den Begriff verwendet. Für ihn ist ein Weltbürger jemand, der „ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet“.

Die Pflicht der Weltbürger

Auf heute übertragen hieße das, dass es an allen Europäern ist, nicht nur ihre Vertreter im Europäischen Parlament zu wählen, sondern selbst Repräsentanten aller Weltbürger zu werden und zugunsten der gesamten Weltgemeinschaft zu handeln. Der Grund hierfür ist, dass der europäische Bürger bereits seine nationale Identität zu einer eher kollektiven Identität transzendiert hat. Solche Transzendenz steht nicht im Widerspruch dazu, eine nationale Identität zu haben oder patriotisch zu sein. Es heißt vielmehr, dass die Interessen der Menschheit in ihrer Gänze vor den Interessen einer einzelnen Nation stehen. Die Pflicht der Weltbürger, wie der stoische Philosoph Hierocles behauptete, wäre einfach, die größeren Kreise zur Mitte hin zu ziehen, beginnend mit dem größten Kreis, der die gesamte menschliche Gemeinschaft umfasst.

Eine solche Welt erscheint utopisch

Sich eine Welt vorzustellen, die aus einer einzigen großen Gemeinschaft zusammengesetzt ist, erscheint utopisch. Die Europäische Union könnte jedoch ein Schritt sein, um dies zu erreichen. Obwohl ihre Interessen zum gegenwärtigen Zeitpunkt eurozentrisch sind, hat sie es auf dem Weg von einer nationalen Politik hin zu einer europäischen weit gebracht. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Bürger erneut transzendieren – diesmal zum Weltbürgertum.

Mazen Abo-Ismail

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