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Fressen, schmatzen, toben – mehr tun Schweine hier nicht.

© Boltenhof

Besuch auf Gut Boltenhof: Tierisch ruhig in der Uckermark

Die Zimmer heißen Biberburg oder Schneckenhaus. Auf Gut Boltenhof regieren Schweine, Gänse und Esel - das entspannt.

Die Schweine haben Geschmack. Als die Werkstudentin ihnen den Biosalat vor die Füße wirft, stürzen die Riesentiere sich darauf, gierige Connaisseure, die ihre Geschwister zur Seite schubsen, um ihnen wegzuschnappen, was sie können. Nicht nur Kinder schauen fasziniert zu, auch die ausgewachsenen Großstädter machen Augen. Die Duroc-Schweine haben ihnen längst den Hintern zugewandt. Die Ringelschwänzchen wedeln.

Frühstückszeit auf Gut Boltenhof, 70 Kilometer nördlich von Berlin, gefühlt noch viel weiter ab vom Schuss. Die Gäste, die sich an diesem nieseligen Tag zur morgendlichen Fütterung der Tiere versammelt haben, traben zurück ins Gutshaus. Zu Biojoghurt und Obstsalat, Käse aus der Uckermark und, ja: Salami vom Boltenhofer Schwein. Muss ja niemand nehmen. Wobei - sie schmeckt verdammt gut. Auch das Steak am Abend kommt von den eigenen Limousin-Rindern.

Ein Huhn auf dem Kaffeetisch

Tiere sind omnipräsent auf dem Hof in der Uckermark, tot, gemalt - und lebendig. Russische Graugänse und weiße Weihnachtsgänse, Heidschnucken und Hühner, Kaninchen und Ziegen, Esel und Hängebauchschweine. Man sieht sie nur nicht gleich, leben sie doch versteckt hinter den Seitengebäuden, in denen Festsaal und Ferienwohnungen untergebracht sind.

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In den Illustrationen, die Website, Speisekarte und Hauswände vom Boltenhof schmücken, sitzt sogar ein Huhn auf dem Kaffeetisch, ein Schaf auf der Schaukel. An einer Mauer schaut ein gezeichnetes Lämmchen zum Wegweiser hoch: Rechts geht's zum Tiergarten, links zum Gutshaus mit dem holzgetäfelten Speiseraum. „Ich könnte jetzt Mittagsschlaf halten“, seufzt dort eine junge Mutter kurz nach neun.

Warum nicht? Die Zimmer hier heißen Biberburg, Mäuseloch und Schneckenhaus, was vielleicht ein bisschen irreführend ist, denn klein und dunkel wie ein Loch sind sie nicht, erst in jüngster Zeit aufgefrischt und modernisiert. So gemütlich wie ein Schneckenhaus, das schon.

In diesem Haus wohnte bereits der Inhaber der Meierei Bolle.
In diesem Haus wohnte bereits der Inhaber der Meierei Bolle.

© Boltenhof

Der Treppenaufgang ist nachtblau gestrichen, wie eine Einladung zum Schlafen. Erholung ist der Daseinszweck des Hofs. Blätter rascheln im Wind, ein Käuzchen ruft, der Springbrunnen plätschert. Das Gefährlichste scheint ein bellender Hund zu sein. Das Aufregendste ist eine Schaukel, auf der eine Frau gerade quietschend vor Vergnügen in die Luft fliegt, ihre Kinder kreischen begeistert mit. Beides, das Quietschen und das Kreischen, dringt nur gedämpft nach oben.

Schon die kleine, buschige Lindenallee, die auf das helle Gutshaus mit seiner Freitreppe zuführt, sagen Andrea und Jan-Uwe Riest, funktioniere für viele wie ein Tunnel in eine andere, langsamere Zeitzone. Auch die Verwandlung des verfallenen Hofes zum Ferienziel vollzog sich ja nicht über Nacht.

In der Zeitungsanzeige stand: Gutshof zu verkaufen

Die heutige Anlage stammt aus dem 19. Jahrhundert (der Hof selber ist älter). Immer wieder wechselten die Besitzer, darunter auch, ein paar Jahre lang, Herr Bolle von der berühmten Berliner Meierei, Anfang des 20. Jahrhunderts. In der DDR waren hier mal Kindergarten und Konsum untergebracht, zudem 15 Familien. Ende der 80er Jahre stand die Anlage leer und bröselte vor sich hin, bis sich nach der Wende ein Verein formte, der mithilfe von Ein-Euro-Jobbern den Verfall aufhielt.

Dann entdeckte Uwe Riest senior in Frankfurt am Main eine Zeitungsanzeige: Gutshof zu verkaufen. Der promovierte Landwirt wollte noch mal in die Praxis gehen. Ein Wochenende später kam er, sah und kaufte das Gut samt 60 Hektar Wald, zog 1997 mit seiner Frau in die Uckermark. Ganz langsam, Jahr für Jahr, bauten sie den Biobetrieb auf, richteten eine Frühstückspension und Ferienwohnungen im Gebäude ein. Heute leben sie in der Remise.

Auch der Generationswechsel vollzog sich allmählich. 2015 stießen Riests jüngster Sohn, heute 48, und seine Frau aus Frankfurt dazu, seit Anfang dieses Jahres sind sie offiziell alleinige Betreiber. Andrea Riest - 42, große Augen, die Haare locker hochgesteckt - war Anwältin in einem Unternehmen, ihr Mann - blond, schwarzes Hemd zur Jeans - leitete als Betriebswirt das Marketing bei Samsung. In ihrer neuen Branche hatten sie keinerlei Erfahrung. „Hätten wir die gehabt, hätten wir's wahrscheinlich nicht gemacht“, sagt Andrea Riest im Gartencafé und lacht, während die beiden kleinen Töchter, Fine und Flo, auf Laufrad und Traktor um den Brunnen des Rondells rasen.

Die kleine Lindenallee ist wie ein Tunnel in eine andere Zeitzone.
Die kleine Lindenallee ist wie ein Tunnel in eine andere Zeitzone.

© Boltenhof

Inzwischen hat das Gut mehr Betten als das Dorf Einwohner. Auf 20 Boltenhofer kommen bis zu 53 Ferien- und Seminargäste, die meisten aus Berlin, einige aus Hamburg, andere aus Sachsen oder Sachsen-Anhalt. Einen Konsum gibt's nicht mehr, dafür einen Hofladen, der zugleich als Rezeption dient. Wer das denkmalgeschützte Haus von 1887 betritt, steht schon mittendrin. Ein großer Strauß Wiesenblumen begrüßt die Besucher, es gibt Holz für das Lagerfeuer oder den Kamin in der Ferienwohnung. Selbstversorger können Biomilch, krumme Gurken, Brötchen, hausgemachte Erdbeermarmelade, Leberwurst und Wein bekommen. Was besonders praktisch für nichtmotorisierte Urlauber ist.

Denn die Bushaltestelle, die Dachpfannen von Moos bewachsen, liegt zwar direkt vor dem Gut, von hier aus kommt man mit dem 854er nach Himmelpfort, zur Hasenheide, und mit dem 838er nach Fürstenberg und Zehdenick. Nur nicht so oft. Der Busfahrer muss auch mal Ferien machen. Es empfiehlt sich, den Fahrplan genau zu studieren.

W-Lan gibt's nur im Gutshaus

Deswegen fährt man ja hier hin: um weit weg zu sein. Zum Glück hat das Handy nur sporadisch Empfang, funktioniert das W-Lan allein im Gutshaus. Man könnte jetzt vier Kilometer zum Haussee wandern oder an die Havel fahren - Fahrräder kann man hier ebenso ausleihen wie Schaukelpferde und Federballschläger. Oder man bleibt einfach im Brandenburger Zimmer. Die Wolken hängen gerade schwer über dem Weizenfeld, an dessen Rand der Mohn knallrot blüht.

So also sieht Brandenburg aus: minimalistisch, edel und natürlich. Ins Kissen ist ein kleiner Kiefernwald gewebt, die blauen Streifen auf dem Läufer erinnern an die vielen Seen im Land, die grünen Fliesen im Bad sind handlackiert, die offene Garderobe aus Brandenburger Buche gefertigt. Genau wie das Bett, dessen Fußende als Ablage dient. Den ebenfalls hölzernen Sessel macht eine dicke Auflage aus roher Schafwolle weich. Am liebsten möchte man alles streicheln, so wie die Kinder draußen die Kaninchen.

Als „Lebensprojekt“ beschreiben die Hausherren, die in einem kleinen Apartment hinter dem Hofladen wohnen, das, was sie hier treiben. Das Brandenburger Zimmer ist Teil davon. Zwei Jahre hat es gedauert, bis es fertig war. Im Juni erst wurde es eingeweiht, vom Wirtschaftsstaatssekretär persönlich.

Skandinavischer Minimalismus in der Uckermark.
Skandinavischer Minimalismus in der Uckermark.

© Boltenhof

Denn es ist weit mehr als ein Hotelzimmer. Eher ein Showroom für Brandenburger Gestaltung und Handwerkskunst. Manufakturen haben die Möbel nach Entwürfen der Produktdesignerin Bernadette Wüchner hergestellt - alle ohne Honorar. Noch als Studentin in Potsdam hatte Wüchner sich mit dem Thema Askese in Brandenburg beschäftigt, dessen Natur und Stille sie liebt. Es fiel ihr nicht schwer, die Riests zu begeistern.

Dass der Ziegenkäse für den Salat hier vom Capriolenhof kommt, der Fisch aus dem nahen Lychen, die Eier von den eigenen Hühnern, versteht sich heutzutage fast von selbst. Aber warum immer nur beim Essen regional denken? Ihre Mitarbeiter kommen ja auch alle aus der Gegend oder sind aus Berlin hierhergezogen, die meisten von ihnen Quereinsteiger. Viele scheinen wie durch eine glückliche Fügung hier gelandet zu sein.

Zwischen Wildwuchs und Schönheit

Das Paar, das inzwischen in der Küche steht zum Beispiel, hat auf dem Gut mal ein langes Wochenende genossen - und wollte gar nicht mehr weg. „Die hatten schon die Übernahme geplant“, sagt Andrea Riest. Stattdessen kamen die beiden als Angestellte und brachten neuen Schwung in die Küche. Oder Stefan Schiemann, der Gärtner, 59, der auf den Boltenhof aufmerksam wurde durch WWOOF. Was wie ein Hundebellen klingt, bedeutet World Wide Opportunities on Organic Farms. Menschen aus der ganzen Welt arbeiten für Kost und Logis auf Biohöfen. „Mit Herzblut“, so Jan-Uwe Riest.

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Schiemann, der in Berlin gelebt hatte, bis es ihm dort nicht mehr gefiel, zog vor drei Jahren als fester Mitarbeiter mit seinen Katzen hierher. Er hat den zugewachsenen kleinen Park aus den 1920er Jahren wieder freigelegt, 40 Bäume wurden in Absprache mit dem Denkmalamt gefällt. Aus dem Holz entstanden Bänke und die Bühne eines kleinen Amphitheaters. Hochzeiten, Konzerte, Lesungen, Puppenspiel - das Parktheater bietet viele Möglichkeiten. Vor dem ebenfalls denkmalgeschützten Gutshaus hat Schiemann bunt wuchernde Staudeninseln angelegt, eine Pergola aufgestellt und mit Blauregen und Trompetenwinden bestückt. Bei ihm kommen Brennnesseln und Disteln zu ihrem Recht. „Ich möchte die Balance zwischen Wildwuchs und Schönheit halten.“

Einige der 280 Boltenhofer Gänse landen zu St. Martin und im Advent auf dem Teller.
Einige der 280 Boltenhofer Gänse landen zu St. Martin und im Advent auf dem Teller.

© Kitty Kleist-Heinrich

Das macht den Charme des ganzen Gutes aus, das 2018 mit dem Preis des Pro-Agro-Verbands für Land- und Naturtourismus ausgezeichnet wurde. Auch die Gebäude wirken teilweise noch wild und unsaniert. Der Hof ist nicht so großstädtisch geleckt wie manches Dorf in der Uckermark, das eher wie eine Außenstelle von Kreuzkölln wirkt.

Werte statt Wert!

Ihr Konzept beschreiben die Riests als „werte-, nicht wertorientiert“. Ihr Leitbild: die Kreislauflandwirtschaft des einstigen Ritterguts, wo man produziert, was man konsumiert. Teil dieses Zyklus ist auch der Biobauer, der das Bistro mit Obst und Gemüse beliefert und für die Tiere das mitbringt, was er nicht verkaufen kann, wie die überreifen Salatköpfe. Dafür bekommt er guten Mist. Mit der Beuth-Hochschule in Berlin entwickelt Familie Riest ein gefördertes Energie- und Versorgungskonzept, Holzhackheizung. Wald haben sie ja genug.

Jetzt ist es wieder Essenszeit. Um 17 Uhr werden die Tiere gefüttert, die Gäste schauen zu. Die Ponys, die hier ihr Gnadenbrot bekommen, schubsen einander weg. „Sie müssen sehr schlecht beim Zirkus behandelt worden sein“, erklärt Gutsherrin Andrea Riest deren Aggressivität.

„Ich mag's gar nicht, wenn Tiere sich streiten!“, ruft ein Mädchen, das den ganzen Tag unerschrocken über den Hof bis in die Küche gerannt ist, und umklammert ihren Plüschesel noch fester. „Können wir nicht länger bleiben?“, bittet es die Eltern später. „Nächstes Jahr wieder“, versprechen diese ihrer Tochter, „auf jeden Fall zwei Nächte.“ - „Fünf!“, schallt es zurück.

HINKOMMEN
Die Fahrt im Zug von Berlin Hauptbahnhof bis Fürstenberg an der Havel, dann weiter mit dem Bus 838 (Linientaxi, keine Fahrradmitnahme möglich) dauert zwei Stunden, ab 8,50 Euro. Für die Sportlichen: mit dem Zug in 55 Minuten nach Dannenwalde, dann noch fünf Kilometer mit dem Rad. Mit dem Auto 1,5 Stunden.

UNTERKOMMEN
Gut Boltenhof, Lindenallee 14, Boltenhof, Fürstenberg/Havel, Telefon 033087-52520, gutboltenhof.de. Doppelzimmer ab 80 Euro, Ferienwohnung ab 85 Euro. Das Café-Bistro Gutess hat täglich von 12 bis 20.30 Uhr geöffnet..

GENIESSEN

Wer zu viert oder zu sechst kommt, bekommt am 16. November und an den Adventswochenenden nach Vorbestellung eine ganze Gans im Saal mit den gemütlich knarzenden Dielen serviert (Samstags ab 18 Uhr & Sonntags ab 12.30 Uhr).

Die Reise wurde teilweise unterstützt vom Gut Boltenhof.

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