zum Hauptinhalt
Cemile Sahin, Autorin und Künstlerin mit kurdischen Wurzeln

© Sonja Hamad

Cemile Sahin: Niemand erzählt vom Krieg wie sie

Ihr Roman „Taxi“ ist eine Sensation: dicht, hart, schnell. Wir haben die Autorin Cemile Sahin im Atelier besucht.

Auf der Couch sitzt Cemile Sahin in Jogginghosen und Kapuzenpulli, auf dem Boden schläft ihre Hündin Marla. Draußen wird es bereits dunkel, obwohl doch erst Nachmittag ist. Auf dem Tisch liegt eine Pistole. Dies ist ein zweistöckiges Atelier in der Akademie der Künste in Berlin Charlottenburg.

Unten: Kunst, an die Wand geheftete, mit Hand beschriebene Blätter, großformatige Drucke, eine Autotür, ein großer silberner Mac. Oben: ein Bett, ein Bad, eine Sitzecke, ein Balkon, ein Tisch, sehr wohnlich alles.

Und eben die Pistole auf dem Tisch: schwarz, irgendwie furchteinflößend. „Die ist nicht echt“, sagt Sahin. „Sie ist ein Requisit für eine Videoarbeit.“ Cemile Sahin ist 29 Jahre alt, Künstlerin, gerade ziemlich müde, aber eigentlich richtig am Durchstarten.

Ihre letzten Wochen sahen wie folgt aus: Ausstellungseröffnung in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig, Buchmesse in Frankfurt, Lesung in Frankfurt, Lesung im Berliner Club Tresor, Party nach der Lesung in Berlin, gemeinsam mit der Rapperin Ebow und anderen befreundeten Musikerinnen.

Wer nach so einer Woche nicht müde ist, ist ein Roboter. Trotzdem ist Sahin seit acht Uhr morgens im Atelier, arbeitet für eine kommende Ausstellung in Hamburg. „Ich brauche die Routine“, sagt sie knapp.

„Oft komme ich auch nur her, um Material im Internet zu sammeln, um Texte zu lesen. Meistens sind Fundstücke aus dem Netz der Beginn einer neuen Arbeit.“ In diesen hektischen Wochen, scheint es, klappt alles in Sahins Kunstkarriere. Sie ist Stipendiatin an der Akademie der Künste, weshalb sie für einige Monate das riesige Atelier beziehen darf.

[Lesen Sie das Wichtigste aus der Berliner Kunstszene, alle 14 Tage im Newsletter Tagesspiegel BERLINER – KUNST. Hier kostenlos abonnieren!]

Gerade hat Sahin den Kulturpreis der deutschen Wirtschaft gewonnen. Durch das Preisgeld kann sie sich die Autoteile leisten, die sie in ihre Kunst integriert. Zu der Auszeichnung gehört auch die Ausstellung in Leipzig. Dort wird, unter anderem, eine Videoarbeit gezeigt, die Teil einer fortlaufenden Serie ist. Der Name: „Center Shift“. Weitere Teile sind in Arbeit.

Lob von den Feuilletons

Außerdem ist vor wenigen Wochen Sahins Debütroman „Taxi“ im Berliner Korbinian Verlag erschienen, einem Independent Verlag, der den Literaturbetrieb nicht so gern mag, den der Literaturbetrieb dafür aber umso lieber mag.

Weil: Rebellion! Geil! Und weil das so ist und weil „Taxi“ nicht nur Sahins erster Roman, sondern tatsächlich auch ein sehr guter Roman ist, schrieb schon einige Wochen vor Veröffentlichung eine Kritikerin in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass „Taxi“ eigentlich für den Deutschen Buchpreis hätte nominiert werden müssen.

Die anderen großen Feuilletons der „Süddeutschen Zeitung“, der „Zeit“ und des „Spiegel“ zogen nach, lobten das Buch. Cemile Sahin, die sich selbst, sagt sie, überhaupt nicht als Literatin versteht, muss das jetzt erst mal verkraften.

„Für mich ist das Buch eher etwas, das aus meiner Kunst kommt. Ich bin eine Künstlerin, die auch schreibt. Sprache ist eines der Medien, die ich nutze“, sagt sie und versinkt noch etwas tiefer in der Couch.

Es geht um ein ausgestochenes Auge

Auch den Roman muss man erst mal verkraften. Es geht um Krieg, um Folter, um ein ausgestochenes Auge, vor allem aber geht es darum, wie ein Krieg und dessen Folgen in den Köpfen der Menschen weitergären, auch wenn sich längst niemand mehr bekämpft.

Wie der Hass wächst, wenn die Wut nicht vergeht. Wie die Gewalt überhandnimmt. Und es geht um Rosa, eine ältere Frau, die ihr Leben nach dem Krieg als Serie neu schreibt, um zu verarbeiten, dass ihr Sohn während seiner Zeit als Soldat Opfer eines Bombenangriffs wurde, seine Leiche nie gefunden wurde, er nie zurückkam. Es geht um Polat, dessen Eltern einfach verschwanden, als er noch ein Kind war, der auf sich alleine gestellt war, begann, mit anderen Kindern zu kämpfen, sie zu verletzen, weil ihm kein anderer Weg blieb, Nähe zu erfahren.

Polat wird später, als erwachsener Mann, von Rosa in ihrer Real-Life-Serie zu ihrem Sohn erkoren und beginnt sich nach und nach in dieser Rolle wohl zu fühlen. Denn: Sowohl Polat als auch Rosa sehnen sich nach Normalität und Geborgenheit.

Sie wollen endlich vergessen. Doch der Krieg und der Tod holen sie beide ein. Nicht nur in Sahins Videoarbeit, auch in „Taxi“ spielt eine Pistole schließlich eine wichtige Rolle.

Man kann sie, klar, auch als Symbol verstehen: Dafür, dass der Krieg nie wirklich verschwindet. Die Pistole ist nie wirklich weg. Als sie jemand abfeuert, ist das Grauen auf einen Schlag zurück, die konstruierte Normalität zerfällt.

Aber es ist nicht nur der Inhalt, der „Taxi“ zu einem besonderen Text macht. Es ist auch die Form. Der Roman ist als Serie aufgebaut, mit zwei Staffeln, die aus jeweils mehreren Episoden bestehen.

Ein Roman aus Text und Bild

Einige Seiten sind aus Text kreierte Bilder samt Rahmen. Darin stehen dann Anweisungen wie in einem Filmskript: „Wir sehen den Title Screen der Serie: TAXI“. Überhaupt: Text und Bild sind in „Taxi“ untrennbar miteinander verknüpft, obwohl im Buch kein einziges Foto zu finden ist. Wäre zu teuer gewesen, der Farbdruck, erklärt Sahin.

Und doch: Die Idee zum Buch sei rund eineinhalb Jahre lang in ihrem Kopf herumgegeistert. „Schreiben funktioniert bei mir übers Bild. Ich habe die Bilder im Kopf, sehe sie vor mir wie einen Film. Daraus entsteht am Ende ein Text. Das Aufschreiben von ‚Taxi‘ ging ziemlich schnell.“

Ohne Filme, ohne das Kino, ohne Musikvideos und ohne ihren Vater wäre Sahin womöglich nie zur Künstlerin, nie zur Autorin geworden. Ihr Vater ging mit ihr als Kind wöchentlich ins Kino, erzählte ihr abends Geschichten, die wie Filme funktionierten.

Mit Plots und Cliffhangern. „Und irgendwann hat er mir diese Kamera in die Hand gedrückt“, sagt Sahin. Zehn Jahre war sie damals alt. Ein sehr kleines Gerät war das, mit Mini-DV-Kassetten. Ein Format, das heute niemand mehr nutzt. „Ich habe dann immer mit meinen Cousinen und meiner kleinen Schwester Filme gedreht. Ich habe mir Plots ausgedacht und fast immer selbst die Hauptrolle gespielt“, sagt sie und lacht mit der Erinnerung.

„Wir haben viel improvisiert und dann oft sechs Stunden lang gefilmt. Ständig waren die Kassetten voll.“ Ein paar Jahre lang ging das so, während Sahin im Musikfernsehen ikonische Videos von Künstlerinnen wie Missy Elliott sah.

Missy Elliott läuft auf dem Handy

Auch jetzt, im Charlottenburger Atelier, läuft Missy Elliott auf Sahins Handy, das neue Video zu „Throw It Back“: Die Farben sind knallig, die Schnitte hart, die Bewegungen der Rapperin und ihrer Tänzerinnen schnell. Diese Schnelligkeit, sagt Sahin, habe sie an Musikvideos immer gereizt. „Die haben sogar einen höheren Stellenwert als Kino für mich. Es sind kurze Erzählungen, alles geht schnell:

Bam! Bam! Bam! Bam!“ Diese Schnelligkeit spiegelt sich auch in Sahins Art zu schreiben wieder. Nichts wird in die Länge gezogen. Sahin schreibt maximal direkt. Kurze Sätze. Starke Bilder. In „Taxi“ haben Wörter die Kamera als Werkzeug ersetzt.

Sahin wurde in Wiesbaden geboren, ihre Familie stammt aus dem kurdischen Dersim. In Wiesbaden, sagt Sahin, hatte sie im Kunstunterricht eine Vier. „Ich war auf einer krassen Nazi-Schule und wollte unbedingt weg“. Mit 16 Jahren zog sie nach London, machte dort Abitur und begann sofort nach der Schule Kunst zu studieren. Nach zwei Jahren wechselte sie an die Universität der Künste in Berlin. Sie wollte näher bei ihren Eltern sein, sagt sie.

Wenn über Sahin und über „Taxi“ geschrieben wird, geht es aber nie um ihre Zeit in London, nicht um Berlin und nicht um Wiesbaden. Es geht immer um Kurdistan. Die Frage ist: zu Recht? Auch wenn die Interpretation nahe liegt, geht es in „Taxi“ nie explizit um Kurdistan und die vielen Kriege, die dieses Volk ohne Staat zwischen Syrien, dem Irak, dem Iran und der Türkei erlebt hat und gerade wieder erlebt.

Sahin überlegt: „Mich stört es nur, wenn mir von außen mein Kurdischsein aufgezwungen wird. Ich will das nicht verstecken. Ich sage allen, dass ich Kurdin bin, habe eine klare politische Position.

Wer ,Taxi‘ liest, erkennt natürlich, woher diese Geschichten kommen. Es hat viel mit Kurdistan zu tun, auch mit Erzählungen von Bekannten. Aber mein Kurdischsein ist keine Erklärung für meine Kunst.“

Keine Slogans, keine Moral zum Anlehnen

Sahin macht keine plumpe Politkunst. Es gibt keine Slogans und keine Moral, an der man sich anlehnen oder wärmen könnte. „Es ist wichtig, Stellung zu beziehen“ sagt Sahin. „Deswegen muss aber nicht jede Arbeit offensichtlich politisch sein.“

Wer Sahins Haltung zu politischen Themen erfahren will, kann sie auch ganz konkret nachlesen: Seit kurzem schreibt sie eine monatliche Kolumne mit dem Titel „Orient Express“ in der Tageszeitung taz, gemeinsam mit der Autorin Ronya Othmann. „Orient Express“, erzählt Sahin, entstehe aus der Diskussion heraus, über ein gemeinsames Dokument bei Google Docs und am Telefon. Auch die Kolumne ist sehr direkt, sehr hart. Es geht um „Türkische Angriffspläne auf Rojava“ und um „Rechte und linke Projektionen auf Rojava“.

Aber wenn man Sahin gerecht werden will, muss man die Kolumne von ihrem künstlerischen Schaffen scharf trennen. Und mit ihr ganz konkret über Kunst und ihr Verständnis als Künstlerin sprechen, etwa über das Bild vom Künstler als Genie, das Sahin ablehnt und über das sie ihren Protagonisten Polat in einem inneren Monolog urteilen lässt: „Ich bin das Spätwerks eines Künstlers. Kein Genie, denn sowas gibt es nicht.“

Transiträume und Fluchtorte

Oder man muss sich mit Cemile Sahin über Autos unterhalten. „Wir haben gar nicht über Autos und Flugzeuge gesprochen!“, sagt sie, als das Interview längst beendet ist. In einer Ecke des Ateliers lehnt eine Wagentür an der Wand. Auf Folie, mit der üblicherweise Autos getunt werden, ist der Innenraum eines Flugzeugs gedruckt.

Der ganze Raum, das fällt erst jetzt so richtig auf, ist von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen eingenommen. Einige Tage später schickt Sahin eine Sprachnachricht via WhatsApp, um all das zu erklären: „Autos und Flugzeuge sind für mich Transiträume und gleichzeitig Fluchtorte“, erklärt sie. Auch in „Taxi“ tauchen immer wieder Autos auf:

Immer dann, wenn große Veränderungen anstehen. Oder wenn Menschen verschwinden. Je länger man durch das Atelier schreitet, desto klarer wird: Dieser riesige Raum ist nicht einfach ein Atelier. Es ist, als wäre der ganze Ort das Wirklichkeit gewordene Gehirn von Cemile Sahin: Da liegt die Pistole, da steht die Autotür, ganz real zum Anfassen. Vieles von dem, das in „Taxi“ vorkommt, findet sich als Objekt oder Bild in Sahins Atelier.

Und so ist „Taxi“ eigentlich auch kein eigenständiges Buch, kein Werk der Literatur. Es ist von Sahins künstlerischem Schaffen nicht zu trennen. Ein Teil des Ganzen.

Ein bisschen wirkt es, als filme Cemile Sahin noch immer viel zu viele Stunden, Bam! Bam! Bam! Bam!, schnell und hart, und als sammle sie schon die Requisiten für die Verfilmung von „Taxi“. Denn natürlich soll es die geben. In Sahins Kopf wachsen schon die Bilder.

Johann Voigt

Zur Startseite