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Der Pianist Igor Levit in Berlin-Mitte.

© Daniel Hofer

Doktor Körners gesammeltes Schweigen: Igor Levit springt auf wie ein Messer

Was erfährt man über einen Menschen, wenn man nicht mit ihm spricht? Diesmal: der Pianist Igor Levit.

Wie viele Finger hat ein Klavier? Wie viele Tasten eine Hand? Wie viele Töne hausen in Igor Levits Knöcheln? Da steht sein Flügel, Steinway & Sons, ein schwarzer Schmetterling, bereit zum Flug. Bücherregale werden geliefert, wir machen uns aus dem Staub, der Pianist nimmt ein Buch mit auf die wortlose Reise: Maxim Billers Roman "Biografie". Über die Torstraße. Die Stadt ist kompositions- und spielfreudig. Straßenbahnen, Laster, Kräne, Sägen, Tauben, Automobile, Presslufthammer, Schuhe: Sie alle wurden nur erfunden, um nie gehörte Töne zu erfinden, sie schreiben eine Partitur mit uns, auf unserem Fleisch und Bein. Tacet! Levit, der Schmetterlingsgeliebte, springt auf wie ein Messer, ruht wie ein Stein, die Körperspannungen wechseln rasch. Ich denke an den schwarzen, schweren, glänzenden Falter in Levits Wohnung. Hat er die Handwerker gefressen? Ist dieses Instrument ein Oger? Jeder Pianist ein Menschenopfer? Oder sind Pianisten die friedenswahrenden Diplomaten, an deren nachwachsenden Seelen die Untiere fressen? Levit gluckst, seine Knöchel - wir sitzen jetzt in einem Café - trommeln vor Vergnügen auf den Biller. Was wäre, wenn Levit... Tacet! ... gespielt würde von einem Pianisten, den ich nicht sehe? Ich blicke aus dem Augenwinkel auf seine Tasten, Finger. Sie sind atemlos. Er trägt eine graue Flanellhose, einen grauen Mohairpullover. Sind die Textilien resonanzregelnde Dämpfer, die seine Innenwelt-Schwingungen auffangen? Müssen Pianisten Menschen fressen, um ihre Klaviere zu besänftigen oder besänftigen Klaviere die menschenhungrigen Pianisten? Levit wirkt sanft, aber auch schneidig, uralt und kindlich, ein Greis, ein Jüngling, ein Held, ein Galeerensträfling, ein Denkspieler, ein Rätsel. Mit Schmackes schmettert er den Biller zu und schickt ihn quer durch meinen Kopf. Er und der Autor müssen Resonanzpartner sein, möglicherweise spielen sie vierhändig auf den Tasten der Stadt und ihrer Bewohner. Wir schlürfen den letzten Schaum aus den Tassen, der Pianist ist ein Anspitzer für das stumpfe Blei in meinem Schädel. Für Momente schwebe, höre ich, musiziere, komponiere ich. Jede Stadt ist ein Flügel, Soulways & Daughters & Sons. Dann ist er urplötzlich verschwunden, an meinen Fingern klebt ... Blut? ... Gold?

Igor Levit, 31, wird als „einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts“ gehandelt. Überdies ist er ein ziemlich politischer Twitterer. Er kam als Kind mit seiner Familie aus Russland nach Hannover, heute lebt er in Berlin.

Dr. Torsten Körner, geboren 1965 in Oldenburg, ist Journalist und Schriftsteller. Für diese Kolumne führt er Interviews ohne Worte.

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