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Fragen Sie Dr. Om: Kleine Meditationen über die großen Fragen des Lebens - Folge 1

"Ich bin dieses Jahr auf schmerzhafte Weise betrogen, belogen und verlassen worden. Ganz ehrlich: Ich bin wütend und verletzt. Ich würde das alles gern hinter mir lassen, aber wenn ich einfach vergebe, sende ich das falsche Signal - nämlich, dass die Art der Trennung okay war. Was soll ich mit meiner Wut tun?"

Schon in seiner ersten Lehrrede sprach Buddha das Leid an, das durch den Verlust des Angenehmen entsteht - und die Notwendigkeit, dieses Leid anzuerkennen. Es ist wahr: Eine Beziehung hinter sich zu lassen, die einmal liebend und unterstützend war, bedeutet großen Schmerz.

Eine Trennung kann aber mitfühlend vollzogen werden, mit dem ehrlichen Ziel, den anderen so wenig wie nur möglich zu verletzen. Durch Demut, durch Ehrlichkeit zu sich selbst und höchste Aufmerksamkeit gegenüber den Bedürfnissen des anderen. Was aber sollen wir tun, wenn das nicht der Fall ist? Wenn eine Trennung die Folge von Betrug oder Missbrauch ist, wenn sie zu starken negativen Gefühlen wie Wut, Hass oder dem Wunsch nach Rache führt?

Die Chance, Gelassenheit zu lernen

Die tibetische Geistesübungen des „lo dschong“ wurden entwickelt, um auch in den schwierigsten Umständen zu wachsen. Mit ihnen verbleiben wir in Gefühlen und Situationen, die wir normalerweise vermeiden würden. Sie ermuntern uns, solche Situationen als Gelegenheiten zu verstehen, geduldiger, demütiger und liebevoller zu werden. Als Chance, unser Ego zu reduzieren. Wer sagt denn, dass es bei dieser Trennung überhaupt um Sie ging? Vielleicht war Ihr Partner einfach in großer seelischer Not?

Eine besonders schwierige Situation ist, verletzt zu werden, wenn wir denken, dass wir das Gegenteil verdient hätten. Der tibetische Meister Geshe Langri Thangpa (1054-1123) schrieb: “Wenn jemand, dem ich mit großer Hoffnung geholfen habe / mich ganz ohne Grund verletzt / will ich lernen, diesen Menschen / wie einen edlen geistigen Lehrer zu sehen.“

Was können wir von so einem Menschen lernen? Wenn man die Kommentare dieses Verses liest, bedeutet er, dass Menschen, die uns verletzen, den Egoismus in uns offenlegen. Oft gibt man in Beziehungen eigene Bedürfnisse auf - weil man darauf spekuliert, etwas zurückzubekommen. Außerdem geben uns Menschen dadurch, dass sie unsere Wut wecken, die Chance, Gelassenheit zu lernen. Zudem ist so eine Situation eine Gelegenheit, echtes Mitgefühl zu entwickeln, das den Schmerz jedes Menschen sieht, egal wie er oder sie uns behandelt hat. An den Verletzungen, die Ihnen zugefügt werden, erkennen Sie das Ausmaß des innerlichen Leids des anderen.

Die Übungen des „lo dschong“ sind komplex und anspruchsvoll. Wenn sie jenseits unserer Fähigkeiten liegen, sollten wir versuchen, ein Bewusstsein für uns selbst zu entwickeln, und für den Schmerz, den wir verspüren. Sie müssen nicht unbedingt dem anderen verzeihen, was Ihnen angetan wurde. Sie müssen sich selbst verzeihen, verletzt worden zu sein.

Oren Hanner, 1979 in Jerusalem geboren, studierte Philosophie in Tel Aviv und promovierte in Buddhismuskunde an der Uni Hamburg. Schicken Sie Ihre Frage an om@tagesspiegel.de

Oren Hanner

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