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Gieselmann, schlendernd. Ein seltenes Bild, die Stadt erlaubt es ihm nicht.

© Privat

Menschenmuseum: Delirium Furiosum

Dirk Gieselmann schlendert gerne ruhig durch die Stadt. Doch in den Parks und auf den Gehsteigen gilt längst das Recht des Schnelleren.

Es gibt ein Verb, das noch nie im Zusammenhang mit meinem Namen verwendet wurde: rasen. Kein Mensch hat je den Satz formuliert: Da kommt der Gieselmann schon wieder angerast. Denn ich vermeide das Rasen, wo ich nur kann, ob mit dem Auto oder zu Fuß. Wie einst die ersten Eisenbahnskeptiker befürchte ich nämlich, bei Geschwindigkeiten jenseits der dreißig Stundenkilometer wahnsinnig zu werden.

Hinzu kommt ein gewisser Hang zur Gemächlichkeit. Meine Freunde deuten sie als einen Mangel an Agilität. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie auf der Flucht vor einem wütenden Nashorn allesamt abhängen würde. Ich könnte schnell sein, wenn ich wollte. Aber ich will nicht, aus Respekt vor der Zeit, dem Raum und allem, was es in ihm zu beobachten gibt: schüchterne Blumen am Wegesrand etwa, weggeworfene Briefchen („Bitte Bier mitbringen, hab dich lieb, dein Günther“) oder drollige Käfer. Es gibt in dieser oftmals so brutalen Stadt viel wundersam Zärtliches zu entdecken. Man muss nur langsam genug sein, um es zu sehen.

Skater, die Passanten als Rampen benutzen

Mitunter habe ich durchaus ein Ziel. Ich lasse mich aber nicht durch aggressives Warten zur Eile antreiben, von keiner Person, keiner Institution und keiner hysterisch piependen U-Bahn. Ich habe noch nie erlebt, dass ein dezentes Zuspätkommen peinlicher gewesen wäre, als mich durch sich schließende Türen zu quetschen. Ich halte nicht viel von Sting, aber in einem hat er doch recht: A gentleman will walk, but never run.

Doch leider muss ich feststellen, dass das Schlendern in den letzten Jahren zu einem ähnlich riskanten Unterfangen geworden ist, als würde ich in der Einflugschneise von Tegel einen Drachen steigen lassen. Ich bin zum lebenden Hindernis geworden, zum potenziellen Unfallopfer, einem baldigen Roadkill mit menschlicher Silhouette. Der Darwinismus der Straße, wo jeder unbedingt als Erster an der nächsten roten Ampel stehen will, hat sich auf die Gehsteige und in die Parks verlagert: Auch hier gilt nun das Recht des Schnelleren.

Diese Schnelleren, das sind, in aufsteigender Reihenfolge: Hochleistungsfußgänger, die sich, in Überlebensjacken gehüllt, auf einer militärischen Mission des rechtzeitigen Ankommens befinden und nicht gewillt sind, irgendwem auszuweichen. Jogger, die jedem, der nicht joggt, verächtlich ihr zähes Sputum vor die Schuhe schleudern. Skater, die Passanten als Rampen benutzen. Radfahrer schließlich, die von den Autos hierher verdrängt wurden, jetzt endlich auch mal Jäger sein können statt immer nur Gejagte und ihren lange aufgestauten Hass ausleben. Letztere tragen zumeist Helme, ich weiß aber nicht genau, ob sie ihrem Schutz dienen oder lediglich signalisieren sollen, dass der Krieg ausgebrochen ist.

Das wundersam Zärtliche kommt mir abhanden

Wo ich einst schlenderte, liefert sich die Stadtgesellschaft also ein Rennen gegen die Zeit. Ein paar von diesen Zeitgenossen könnte ich ja noch ausweichen, ohne meine geliebte Gemächlichkeit zu verlieren, mit einem anmutigen Schlenker nach links oder rechts. Doch sie wälzen sich mir aus allen Richtungen entgegen wie eine Horde Gnus, die sich blindwütig in den Sambesi stürzt. An das ruhige Betrachten von Blumen, Briefchen („dein Günther“) und Käfern ist nicht mehr zu denken. Das wundersam Zärtliche kommt mir abhanden. Statt wie früher den Boden abzusuchen, spähe ich nun die Wege hinunter, um rechtzeitig vor einem rasenden Leggingsrentner auf seinem neuen Raketenrennrad ins Dickicht hechten zu können.

Die Angst vor dem durch Geschwindigkeit ausgelösten Wahnsinn, dem Delirium furiosum, habe sich als unbegründet erwiesen, so wird es zumindest behauptet, seit die erste Eisenbahn am 7. Dezember 1835 mit Tempo 30 von Nürnberg nach Fürth raste und die Passagiere mit völlig verzückten Gesichtern ausstiegen.

Ich halte das für eine der größten Fehldiagnosen der Medizingeschichte.

Dirk Gieselmann, 1978 in Diepholz geboren, schaut mit einer Mischung aus Faszination und Fluchtreflex auf die Welt. Hier erzählt er davon.

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