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"Der Autobahnrasthof Avus steht da, wo A115 und A100 aufeinanderstoßen, mitten im Gewirr der Trassen und Zubringer, wie ein geschlagener Turm neben einem Schachbrett."

© Saskia Otto

Menschenmuseum: Im blauen Nebel

Schildkröten beobachten in der Zwischenwelt: Dirk Gieselmann fährt am Avus-Rasthof rechts raus.

Im Raucherraum des Autobahnrasthofs Avus ist immer Mittwoch. Der Tag, an dem das Wochenende noch so weit entfernt ist, dass Warten die einzige Möglichkeit ist. Warten, bis es vorbei ist. Warten, bis es zu spät ist für alles.

Ein großes Pils trinken, ein kleines zahlen, so steht es in der Karte. Das ist eine gute Idee, die beste wohl für heute, ein Versprechen immerhin, das niemand brechen kann. Die Heizung ist auf Stufe fünf gestellt, die Wachstischdecken kleben, auch nach dem Wischen. Es ist Dienstag, der 30. Januar, ein Mittwoch also, wie immer hier.

Der Autobahnrasthof Avus steht da, wo A115 und A100 aufeinanderstoßen, mitten im Gewirr der Trassen und Zubringer, wie ein geschlagener Turm neben einem Schachbrett. Es ist unklar, warum jemand hier anhalten sollte, am Rande Berlins, es lohnt sich noch nicht oder nicht mehr. Die Reise hat gerade begonnen oder endet, es besteht kein Grund, rechts rauszufahren. Die Rennstrecke, deren Teil der Turm einmal war, ist seit zwanzig Jahren außer Betrieb. Die Tribünen sehen aus wie die Ruinen einer untergegangenen Zivilisation.

Eine Zimmerpalme ringt mit dem Tod

Viele denken, sagt die Frau hinterm Tresen, wir hätten geschlossen, und dann fahren sie einfach weiter. Sie sagt es, als wollte sie sich selbst Trost spenden, einen Trost, der an sich schon traurig ist.

Vielleicht denken auch die, die drinsitzen, dass die Raststätte längst geschlossen ist. Und deshalb bleiben sie hier. Der Turm an der Avus ist ein Asyl für die, die vergessen haben, worauf sie warten, und jetzt warten sie, bis es ihnen wieder einfällt. Das kleine rote Rechteck, mit dem auf dem Kalender der Tag markiert wird, ist für immer stehengeblieben auf einem Mittwoch.

In einer Ecke des Zimmers ringt eine Zimmerpalme mit dem Tod, in der anderen raucht ein Mann eine Zigarette, oder die Zigarette raucht den Mann. Er wird zu Asche, grau wie der Tag, verfestigt sich wieder und zündet sich die nächste an. Er berührt sein Telefon, als pulte er in einer alten Wunde. Dank moderner Technik ruft ihn jetzt, auch wenn er unterwegs ist, niemand an.

Hier habe ich wenigstens meine Ruhe

Ein paar leere Tische weiter, im blauen Nebel, isst ein anderer Mann ein Schnitzel wie bittere Medizin. Den Salat schiebt er von sich. Über ihm an der Wand hängt ein Foto von Paris, ein Liebespaar küsst sich im Jardin du Luxembourg. Der Mann bestellt noch ein Schnitzel, wieder schiebt er den Salat von sich.

Ich bin Busfahrer, sagt er, ich setze die Leute hier ab und warte. Dann fahre ich sie wieder zurück nach Paderborn.

Ich komme fast jeden Tag hierher, sagt der andere, Kaffee trinken, rauchen, Zeitung lesen, hier hab ich wenigstens meine Ruhe. Sein Telefon schweigt weiterhin.

Im Fernsehen läuft ein Film über Schildkröten. Sie kehren, sagt ein Wissenschaftler, um ihre Eier abzulegen, an den Strand zurück, an dem sie geschlüpft sind. Sie haben über die Jahrmillionen nicht bemerkt, dass der Strand sich durch die tektonische Verschiebung immer weiter entfernt hat. Sie schwimmen, um ihre Eier abzulegen, von Amerika nach Afrika.

Liegt unter dem Pflaster noch der Strand?

Jetzt rauchen beide Männer im stummen Einklang. Sie blicken auf den Fernseher, in dem die Schildkröten schlüpfen und sich hastig ins Meer schleppen. Hinter den Fenstern des Rasthofs rasen die Automobile in die Stadt hinein und rasen aus ihr hinaus, 200.000 sind es am Tag, als wollten auch sie ihre Eier ablegen und dann zurückkehren nach Amerika. Nach Paderborn. Wohin auch immer.

Auf der anderen Seite der Autobahn ragt das Messezentrum drohend auf wie eine Steilküste, dahinter muss es sein, dieses Berlin. Liegt unter dem Pflaster noch der Strand?

Im Fernsehen lauern die Geier auf die Schildkröten. Nur jede dritte schafft es ins Meer, sagt der Wissenschaftler, der Rest wird gefressen.

Diese armen Tierchen, sagt der Busfahrer leise. Diese armen, armen Tierchen.

Dirk Gieselmann, 1978 in Diepholz geboren, schaut mit einer Mischung aus Faszination und Fluchtreflex auf die Welt. Hier erzählt er davon.

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