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Können Haie lachen? Wie kann man sie trösten?

© Saskia Otto

Menschenmuseum: Mond über Dallas, Zehla-Mehlis

Fernlicht gegen die Einsamkeit: Unser Kolumnist begibt sich auf die längste Heimfahrt aller Zeiten.

Von Würzburg kommend, in eine Frühlingsnacht, als der Mond so wissend vom Himmel schmunzelte wie in dem alten Film von Georges Méliès, sah ich einen Hai auf der Autobahn, 358 Kilometer vor Berlin.

"Erlebnispark Meeresaquarium" stand auf dem Schild an der Abfahrt Zella-Mehlis, darunter das Bild jenes Hais. Ein Meeresräuber am Südhang des Thüringer Waldes, er war so weit weg vom Ozean, dass mich plötzlich großes Mitleid überkam. Doch es war spät, zu spät, um ihn zu besuchen an seinem engen Bassin und ihn zu trösten. Wobei ich auch gar nicht gewusst hätte, wie ein Hai denn zu trösten wäre.

Können Haie weinen? Sieht man ihre Tränen unter Wasser, im Erlebnispark Meeresaquarium?

Ich fuhr weiter, wie auf Schienen, die Autobahn 71 hinunter in Richtung Berlin, der Asphalt vor mir war schwarz-weiß und rollte sich ab als ein endloses Band. Der immer noch schmunzelnde Mond folgte mir, oder ich folgte ihm, der Hai aber blieb hinter uns zurück und verschwand dann bald, in Zella-Mehlis.

Wo das Schicksal uns hinführt, dachte ich auf dem Weg von Würzburg nach Berlin in dieser Frühlingsnacht, ist mitunter ein Witz, über den man lange nachdenken muss.

An der Raststätte Schkreuditzer Kreuz machte ich eine Pause, rauchte eine Zigarette und trank einen Kaffee, der nach Kohlenstaub schmeckte. Ich hatte neben einem Wagen mit spanischem Kennzeichen geparkt, am Steuer saß ein Mann, die Hände am Lenkrad verkrampft. Aber er fuhr nicht, blickte nur starr auf die Armaturen vor ihm, als stünde dort eine Botschaft, die er nicht entziffern konnte, eine Wegbeschreibung, die ihn heillos in die Irre geführt hatte, hierher, ans Schkreuditzer Kreuz.

Die Namen der Orte klingen, als lägen sie immer weiter entfernt von Berlin

Noch so ein Hai im engen Bassin, der nicht weiß, wohin er geraten ist, dachte ich, und er weiß auch nicht, wen er eigentlich jagt, so weit weg von seinem Ozean. Vielleicht war das Auto voller Wasser. Jedenfalls hätte es mich nicht gewundert, wenn Bläschen aufgestiegen wären, als er nun anfing, mit sich selbst zu sprechen. Ich hörte ihn durch die Scheibe leise fluchen.

Schwimmen wir nicht alle im Kreis und wissen es nicht? Erlebnispark Leben, dachte ich.

Ich kippte den Rest des Kaffees in den Rinnstein und fuhr dann weiter, Bitterfeld-Wolfen, Vockerode, Klein-Marzehns, Orte, deren Namen klingen, als lägen sie immer weiter entfernt von Berlin, als führe ich rückwärts auf meinem Weg und in der Zeit. Ich war nun schon seit vier Stunden unterwegs, vielleicht länger, der Mond hatte begonnen, mich auszulachen. Im Radio lief ein zäher Beitrag über die Fernsehserie Dallas, die an diesem Tag vor vierzig Jahren auf Sendung gegangen war, im Jahr meiner Geburt. Der Bösewicht J.R. Ewing lachte unentwegt sein fieses Lachen. Er lachte, das konnte kein Zufall sein, wie ein Hai.

Können Haie lachen? Würde das bedeuten, dass sie auch weinen? Wie kann man sie trösten? Ich bekam Heimweh auf meinem Weg nach Hause, mit jedem Kilometer mehr. Dallas, Zella-Mehlis, dachte ich, und der Ozean. Ich schaltete das Fernlicht ein, um mich nicht so einsam zu fühlen, und erreichte das Gegenteil. Die Welt vor mir war leer.

Hinter der Autobahnabfahrt Tempelhof, kurz vor der Ankunft, musste ich an einer roten Ampel warten. Der Mann im Wagen auf der Spur neben mir schien schon länger hier zu stehen, er sah aus, als ob er schliefe. Im Radio lief jetzt die Dallas-Titelmelodie von Jerrold Immel. Und ich dachte, wenn ich gleich losfahre und der Mann neben mir einfach stehen bleibt, habe ich dieses Duell verloren. Das Duell um die längste Heimfahrt aller Zeiten.

Als die Ampel nach Minuten, Stunden, Tagen doch noch auf Grün sprang, bog er rechts ab und ich links. Berlin kam mir jetzt, um halb vier in dieser Frühlingsnacht, verlassen vor. Wie abgedeckte Möbelstücke standen die Häuser unter dem weißen Tuch des Mondscheins. Das Haifischbecken in Zella-Mehlis, las ich später, ist einer untergegangenen Stadt nachempfunden.

Dirk Gieselmann, 1978 in Diepholz geboren, schaut mit einer Mischung aus Faszination und Fluchtreflex auf die Welt. Hier erzählt er davon.

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