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Der Autor, Martin Rennert, ist Präsident der Universität der Künste Berlin.

© Daniel Nartschick

Essay des Präsidenten: Vom Meer aufs Land, vom Land aufs Meer

Die Verunsicherung in den europäischen Gesellschaften stellt die Kraft gemeinsamen politischen Willens auf die Probe.

Es gäbe viele Themen, über die ich hier schreiben könnte, die Künste halten unendlich viele bereit. Die Grundlagen der Arbeit in dieser Universität sind vielfältig, Wissen und Fertigkeiten, historisches und prognostisches Denken. Verständnis für das Sehen und Hören; Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, Betrachtung der Gegenwart. Gerade weil die Universität der Künste Berlin ein Ort der Ausbildung junger Menschen ist, will ich über Grundvoraussetzungen auch, nicht nur der Künste in der Zukunft schreiben, denn ich meine, dass wir genau dann, wenn es am verwirrendsten ist, den klarsten aller Blicke entwickeln müssen, die größte Courage, die Erkenntnis eigener Blindheit und Voreingenommenheit. Diese Erkenntnis macht oft wahrlich bescheiden.

Desinformation und Demagogie halten Einzug an Stellen, die wir bis vor Kurzem für sichere Häfen hielten. Im Großen, wo zentrale Werte planvoll und zynisch zerstört werden, wo mit „BDS – Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ endlich ein Weg gefunden zu sein scheint, Antisemit zu sein und sich gleichzeitig moralisch überlegen zu fühlen, im Kleineren, wo mit Gesten der Selbstverständlichkeit Grundprinzipien solidarischer Gemeinschaften geschliffen werden. Kaum ein Bereich unseres Lebens ist nicht in Mitleidenschaft gezogen. Und doch wissen wir: Wir leben an einem Ort, der zu den besten der Welt zählt, in Europa, in Sicherheit und in Frieden, schrecklich errungen, über Jahrhunderte, in Blutbädern und Pogromen. Zwar haben die Kulturen unseres Kontinents, auf die wir so stolz sein könnten, gerade im letzten Jahrhundert nicht dazu geführt, dass man sich unter Hinweis auf das Abendland dem Schlachten verweigerte. Doch heute sollte man meinen, wir hätten endlich etwas begriffen. Dieses fragile, so schwer errungene Europa gilt es zu erhalten, nicht nur unseretwegen, sondern als Beispiel für all das, was möglich ist.

Eine europäische Konföderation, in der die Grenzen des Hasses aufgehoben würden

Schon die Gründungsdokumente der Europäischen Union enthielten subtile, aber bestimmende Elemente der Mythologie. Christen wie Schumann, De Gasperi und Adenauer schrieben sie. Diese Pläne waren das Produkt eines zweifachen Erbes: der Gedanke einer gemeinsamen Civilitas nach schrecklichen Erfahrungen. Vergil beschrieb den Untergang Trojas, aus dem Rom entstand, den Untergang Europas von 1914 bis 1945 hatten gerade alle erlebt. Das zweite Erbe war das Christentum, das dieser Civilitas den Plänen Karls des Großen entsprechend prägen sollte. Die Idee einer europäischen Konföderation, in der die Grenzen des Hasses aufgehoben würden, und die Rolle Europas als Quelle moralischen und intellektuellen Lebens von Neuem bestätigt würde, diese Idee geht weiter zurück, auf das Konzept des Heiligen Römischen Reiches Karls des Großen im Jahre 800. Rom war das wiedergeborene Troja, das Grab Karls des Großen wurde zur Krönungsstätte des Römischen Reiches, von Madrid bis Warschau, von Antwerpen bis Messina.

Für wenige Augenblicke nach 1945 nahmen diese Traumgebilde und Mythen für einige von ihren historischen Aufgaben durchdrungene Menschen Gestalt an und verliehen ihnen Kraft. Dürfen wir zulassen, dass dieses Vermächtnis der Hoffnung ins Reich der Mythen zurücksinkt?

Immer schwächer werden die Demokratien in Ost und West, sie scheinen an einer verschwommenen Sehnsucht zu leiden, nach faschistischen Elementen in ihrer Gesetzgebung und ihrer sozialen Struktur; schon das Wort Brüssel ist für viele zum Synonym einer obskuren Karikatur eines einstmals ehrfurchtgebietenden Traumes von einer Gemeinschaft geworden, die von den Fehlern des 20. Jahrhunderts gelernt hat.

Eine graue Müdigkeit wirft ihren Schatten auf die Gemeinschaft

Die gegenwärtigen Gräuel, die Verunsicherung in den europäischen Gesellschaften, der Aufruhr der Welt, stellt die Kraft gemeinsamen politischen Willens, die Tiefe unseres Wissens, unserer Einsichten in die jüngsten Katastrophen ununterbrochen auf die Probe; unsere Motive, unsere Überzeugungen werden jeden Tag gewogen und fast jeden Tag für zu leicht befunden.

Eine graue Müdigkeit wirft ihren Schatten auf die Gemeinschaft. Doch es ist auch vielen zunehmend und ängstlich bewusst, dass es unsere Aufgabe sein wird, eine eigene Philosophie, eine politische und soziale Theorie zu entwickeln, die dem so stolz vorangetragenen kulturellen Erbe verpflichtet ist und gleichzeitig den Anspruch erhebt, Gültigkeit für die Welt zu haben. Ethische Führung ist keine Aufgabe, die man nicht auch selbst von sich verlangen muss, barmherzige und sanftmütige Zugewandtheit, von der man im Talmud oder bei Matthäus liest, sind ein guter Leitfaden – nicht Selbstaufgabe in die Lähmung, nicht Sehnsucht nach despotischer Ordnung, von der wir nur zu gut wissen, dass sie mit Kriegen und Brutalität einhergeht. Um diesen Gefahren zu begegnen, benötigen wir allen verfügbaren Mut. Sprechen, denken, eingreifen, auch erziehen kosten Mut.

Ich vertrete eine der größten Kulturinstitutionen dieses Landes. Sie ist der Bewahrung von Tradition und der Entwicklung von Zukunft verpflichtet. Täglich ist zu fragen, ob man der Aufgabe gerecht wird. Kreisen wir um uns selbst, oder entwickeln wir tatsächlich Zukunft, jenseits der kleinen Münze, die so schön abzulenken vermag? Es gäbe viel Neues zu sehen und bedenken, doch in einem in der Geschichte ungekannten Ausmaß ist die Kultur unseres Kontinents eine Kultur des fernen Rückblicks und der Selbstvergewisserung geworden.

Eine neu gedachte Geschichte ist vonnöten

Wie könnte das verwundern? Zwischen August 1914 und Mai 1945 starben auf eben diesem heute neuerlich auseinanderstrebenden Kontinent 70 Millionen Menschen in Kriegen, in Hungersnöten, auf der Flucht. Sie starben in Todeslagern und Folterzellen, genau hier, auf dem Boden des Reiches Karls des Großen, das er zu befrieden versucht hatte, von Madrid bis Moskau, von Antwerpen bis Messina. Die Unterjochung ungezählter Millionen, dann der Gipfel des Schreckens, die Verbrennung von Menschen: All das gelang den Gesellschaften Deutschlands und Mitteleuropas.

Wir wissen: Keine Note von Schubert, kein Satz von Cervantes oder Goethe konnte auch nur einen einzigen Augenblick Auschwitz verhindern. Weder Puschkins grenzenloser Humanismus noch Tolstois Mitleid konnten beenden, was in KZs und Gulags geschah. Mit diesem Wissen müssen alle leben, mit diesem Wissen leben wir auch in den Künsten und in dieser Universität.

Es heißt, die Zeit der großen Geschichten, der großen Mythen sei vorüber. Ich denke jedoch, dass eine nicht ganz neue, aber neu gedachte Geschichte vonnöten ist. Sie muss sich von Neuem an der menschlichen Gestalt orientieren, muss von der gesamten Menschheit und ihren vielfältigen Erscheinungsformen ausgehen. Sie muss die Wissenschaft und die Künste berücksichtigen, die Sichtweise von Frau und Mann, deren Gedanken und Einsichten Ausdruck verleihen. Wir müssen, so glaube ich, versuchen, auf die Stimme Europas zu hören, in dem Moment, in dem sie dem weißen Stier zum ersten Mal ins Auge blickt, das Unzähmbare erkennt und sich ihm dennoch hoffnungsvoll anvertraut, während ihres nicht enden wollenden Ritts über die Wogen des Meeres, in dem heute wieder Leichen liegen, und während der heftigen Wehen, die mit der Geburt der ersten Zukunft unseres Kontinents einhergingen.

Eine neue sinnstiftende Geschichte wird sich vielen alten Fragen stellen müssen, etwa, ob wir begriffen haben, was die tatsächlichen Lehren aus unseren jüdischen, christlichen, griechischen und römischen Wurzeln sein könnten. Doch zuallererst wird sie sich ein weiteres Mal mit der Shoah auseinandersetzen müssen.

Wir sind drauf und dran, alle bisher gemachten Fehler zu wiederholen

Denn diese so dringend notwendig gewordene neue Geschichte muss weit über das hinausgehen, was sich Homer auch nur erträumen konnte. Sie erzählt vom vorsätzlichen, systematischen Versuch, die Hölle auf Erden zu schaffen, zu einer Zeit, in der die alte Hölle in den Tiefen unseres Planeten an Überzeugungskraft eingebüßt hatte, sie muss dieses fast unergründlich schreckliche Geschehen zumindest teilweise ergründen und unseren Herzen und Hirnen verständlich zu machen versuchen, dass die Schergen aller Art keine andere Spezies, sondern Teil der vertrauten Menschheit waren.

Diese Parabel könnte uns von verfärbten Sternen am Firmament berichten: von Sternen über europäischen Köpfen, von Sternen in leuchtenden Farben, von gelben Sternen, die Millionen Menschen, Männer, Frauen und Kinder getragen haben, während sie von Menschen des Abendlandes vergewaltigt, gefoltert und ermordet wurden. Die Parabel wird ihren Blick auf die Farbe der Sterne über Afrika, Syrien und den ganzen Himmel richten müssen, auf die Schlafstätten der Verstoßenen auch vor den nahegelegenen Bahnhöfen, auf die Sterne der Übersehenen, der Herumirrenden, der Hungernden und Verlorenen. Medea und Europa, das sind die Asylanten unter uns.

Vielleicht könnte eine solche Parabel uns zwingen zu erkennen, dass wir drauf und dran sind, alle bisher gemachten Fehler zu wiederholen, dass wir alles daran setzen müssen, unseren Kindern und Kindeskindern zu beweisen, dass wir das, was auch in den Kirchen, den Stuben und Parlamenten gesagt wird, dass wir nämlich ein Gemeinsames sind, zu beherzigen in der Lage sind, ohne selbstgewisses Getue, mit größter und vorsichtiger Bescheidenheit. Hierzu braucht es Mut und Kraft. Hierzu bedarf es neuer Gedanken, Großzügigkeit, neuer Worte, offener Herzen. Aber ich bin mir sicher, dass wir in der Lage sind zu erkennen, was zu tun ist, was von uns erwartet wird, was gerade von uns Privilegierten erwartet werden muss, und dass wir in der Lage sein werden zu hören, zu sehen, zu erkennen und zu handeln.

Martin Rennert

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