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Die Lobby überrascht durch die überdimensionierten glockenförmigen Lampen, die aus dem ehemaligen Lichtschacht der Bibliothek herunterhängen. Auch der Teppich nimmt das Motiv des Delfter Blaus wieder auf. Die Sessel sind ebenfalls von Wanders.

© Marcel Wanders

Der Designer Marcel Wanders: Design mit Emotion und Geschichte

Marcel Wanders – ein Popstar der Designer. Der Holländer erzählt Geschichten in Objekten. Handwerk und Tradition sind ihm wichtig - ein Virtuose in Form und Farbe.

Von außen sieht das Haus unscheinbar aus. Eine gute Adresse zwar, Prinsengracht 587 am bekannten Amsterdamer Grachtengürtel, doch die dunkle Fassade mit den Klinkern der späten 1970er Jahre strahlt nicht gerade den Glanz des Goldenen Jahrhunderts aus. Der schlichte Bau beherbergte von 1977 bis 2007 Amsterdams öffentliche Bibliothek, doch die ist längst zum Oosterdokseiland im Hafengebiet gezogen, das hippe Entwicklungsgebiet der Stadt und mittlerweile ein oft besuchtes Vorbild für andere große Bibliotheksneubauten. Was also tun mit dem alten Gebäude? Es verzaubern – und zwar von innen.

Wer durch die Tür des ehemaligen Bibliotheksbaus schreitet, der heute das Boutiquehotel „Andaz Amsterdam“ beherbergt, hält den unwillkürlich den Atem an: Man steht in einem perspektivisch verkürzten Durchgang und gelangt in ein Foyer, das sprachlos macht. Riesige Lampen in Glockenform – im Innern vergoldet und mit Kronleuchtern „gefüllt“ – hängen von einer unsichtbaren Decke, irgendwo hoch oben. Im Lichtschacht schweben weitere glitzernde Lampen und leuchtende Ringe; Assoziationen an einen Sternenhimmel enstehen. Zwei weiße runde Tische vor einem dunklen Holzregal bilden die Rezeption, ein Teppich mit den drei Andreaskreuzen aus dem Amsterdamer Wappen und Motiven des klassischen Delfter Blau zeigt an, in welchem Land man sich befindet. Hochlehnige rote Sessel erwecken nicht gerade den Eindruck einer Hotellobby. Vielmehr hat man das Gefühl, in einer Theater-Inszenierung zu stehen.

240 000 Besucher kamen ins Stedelijk Museum

Der Künstler, umgeben von seinen Skulpturen.
Der Künstler, umgeben von seinen Skulpturen.

© Stedelijk Museum

Der niederländische Designer Marcel Wanders hat sich hier einen Traum verwirklicht – und ein ganzes Haus entworfen. 99 Prozent der Dinge, die man sieht, stammen von ihm. Gelungen ist ein Gesamtkunstwerk wie die berühmte ehemalige Amsterdamer Börse der Architektur-Ikone Hendrik Berlage. Wanders ist zwar kein Architekt, aber mehr als ein Designer, ein Virtuose der Formen und Materialien. Deshalb widmete ihm das Amsterdamer Stedelijk Museum zu Beginn des Jahres eine große Retrospektive, eine beeindruckende Schau, die das Werk von 25 Jahren kreativen Schaffens präsentierte.

Als Marcel Wanders im Januar auf der kleinen Bühne des Museums vor die internationale Presse trat, wurden die Smartphones hochgerissen und begeistert Fotos geschossen. Der 50-Jährige im schwarzen Anzug, mit Schlaghose und schwarz-weiß-karierten Schuhen ist ein Star. In der ersten Designausstellung seit seiner Wiedereröffnung 2012 widmete das Stedelijk Museum dem Schaffen seines halben Lebens auf 1300 Quadratmetern die Retrospektive „Pinned up“. Sie zeigte Wanders, aufgespießt wie einen Schmetterling – freigegeben zur Analyse. „Pinned up“ war keine chronologische Ausstellung, sondern eine Inszenierung des Phänomens Wanders. Bei der abendlichen Eröffnung kamen über 2300 Gäste, insgesamt hatten bis zum 15. Juni mehr als 240 000 Besucher die Schau gesehen.

Er erzählt Geschichten mit Objekten

Die "Egg Vase" von 1997 entstand mit Hilfe von Quarz, Kondomen und gekochten Eiern.
Die "Egg Vase" von 1997 entstand mit Hilfe von Quarz, Kondomen und gekochten Eiern.

© Stedelijk Museum

Der Designer erzählt gerne Geschichten mit seinen Objekten – etwa mit der riesigen Hängelampe „Skygarden“, deren innerer weißer Schirm mit filigranen Stuckelementen verziert ist und die so im Neubau die geliebte Altbaudecke ersetzt. Ein Tisch mit dünnen Holzbeinen erinnert an klassische Möbel. Er stammt aus der Serie „Neue Antiquitäten“, denn nichts altert nach Wanders’ Auffassung so schnell wie das Neue. Die Patchwork-Teller an der Wand – ebenfalls in der Retrospektive zu sehen und mit verschiedenen Dekorfragmenten verziert – und die „Neuen Antiquitäten“ versteht Wanders als Protest gegen ein industriell vorgefertigtes Design. Er produziert auch gegen die Dominanz der Moderne: „Für die Moderne war die Vergangenheit irrelevant. Was bedeutet es für morgen, was wir heute tun?“

Wanders experimentiert mit der Tradition, mit Archetypen. Die Replik einer Ming-Vase macht aus etwas Altem etwas Neues und feiert im noch nicht geglätteten Porzellan die Schönheit des Unvollendeten. Eine halbe Lampenschirmsilhouette aus Holz ergänzt das Gehirn unwillkürlich zur ganzen Form. Wanders entwirft Möbel, Lampen, Gebrauchsgegenstände, aber auch Schmuck wie das „Rainbownecklace“ (2007). Aufgefädelt sind Glasperlen, Delfter Fayence, aber auch Schräges wie eine Viagra-Pille und Nierensteine.

Wanders kann alles gebrauchen, selbst den gescannten Auswurf eines Niesers. „Airborne Snotty“ („Rotz aus der Luft“) heißen die Unikate menschlicher Sekrete, die zigfach vergrößert ihre formvollendete Schönheit in einer Vasen-Serie zeigen. Dieser seltsam-organischen Momentaufnahme ist ihre Herkunft allerdings nicht anzusehen, man muss die Hintergrundgeschichte schon kennen. Genauso ist es bei der „Eiervase“: Wanders füllte dafür hart gekochte Eier in ein Kondom und schuf so die Form für eine Porzellanvase. Ganz anders ging der Designer bei „One Minute Delft Blue“ (2006) vor. Aus der traditionellen Delfter Manufaktur De Porceleyne Fles nahm er sich unbemalte Klassiker – Vasen, Flaschen und kleine Skulpturen – und gestaltete sie mit blauer Farbe innerhalb einer Minute.

Ein Hotel als Gesamtkunstwerk

Auch das stille Örtchen lädt ein, sich auf originelle Art und Weise mit der Geschichte der Neiderlande auseinanderzusetzen.
Auch das stille Örtchen lädt ein, sich auf originelle Art und Weise mit der Geschichte der Neiderlande auseinanderzusetzen.

© Marcel Wanders

Die finden sich natürlich auch wieder im Hotel „Andaz“. Das Delfter Blau ist hier sozusagen das Leitmotiv. Auf den Zimmern stehen die „One-Minute-Delft-Blue“-Waschschüsseln, aber auch die Tapete auf den Toiletten hat den Bezug zur niederländischen Tradition: Briefmarken, alte Stiche, Literaturzitate – es findet sich alles auf dieser Wanders-Tapete in Weiß und Blau; dadurch wirkt sie so unverwechselbar niederländisch. Doch Wanders collagierte nicht nur altbekannte Motive, er schuf auch neue im historisierenden Look, wie etwa die Hand, die eine Karte hält, auf der steht: „Jeder Nachteil hat seinen Vorteil“ (Johan Cruyff).

Wanders verbindet gerne Dinge, die scheinbar nicht zueinander passen. So findet sich in jedem Hotelzimmer ein Foto in den Grundfarben Blau und Weiß, auf dem ein Objekt aus zwei völlig konträren anderen Dingen zusammengesetzt wird – etwa ein halber Fisch und eine halbe Delfter Vase. Alles in Delfter Blau natürlich und verbunden durch die drei Kreuze aus dem Stadtwappen von Amsterdam. „Ich wohne hier in diesem Land, und es gibt Dinge, die zu diesem Land gehören, wie das Delfter Blau“, sagt Wanders. Die Idee kam damals aus China, man wollte Porzellan kopieren und entwickelte den Gedanken weiter. Marcel Wanders setzt ihn fantasievoll fort. Etwa in großen runden Teppichen in der Form eines Delfter-Blau-Tellers.

In der Einrichtung des Hotels finden sich aber auch Objekte, die Wanders für jedermann herstellt, etwa die „One Minute Sculptures“ (2004). Beim Tonmodellieren mit seiner Tochter kam ihm die Idee zu diesen abstrakten kleinen Skulpturen, jede ein Unikat. Jedes Stück in 60 Sekunden aus einem Klumpen Ton geformt, gebrannt und anschließend vergoldet, manchmal gar mannshoch vergrößert. Dann verliert sich komplett die Geschichte ihrer Entstehung und man fragt sich: Wie hat er das gemacht?

Wanders widmet auch der Umhüllung der Objekte besondere Aufmerksamkeit, da sie für ihn oft identisch mit der Konstruktionsweise ist. „Wer denkt, dass die Oberfläche oberflächlich ist, dessen Augen beweisen nur, dass sein Hirn nicht gut funktioniert.“ So entwarf er für Droog Design 1997 einen Stuhl aus gehäkelter Spitze – ein Verfahren, das er später auf Lampen und andere Objekte im Raum übertrug. Es gibt wohl kaum etwas, womit sich Wanders nicht beschäftigt hat, sei es die Konsistenz japanischer Kosmetikpuder oder die Gravur von Essbesteck und Töpfen.

Natürlich muss der „Knotted Chair“ (1995/96) erwähnt werden, mit dem Wanders der internationale Durchbruch gelang. Er besteht aus Kohlenstofffasern, die mit Aramid ummantelt sind, einem Kunstgewebe, das für kugelsichere Westen benutzt wird. Ausgeführt wurde die Arbeit in Macramé-Technik, das Geflecht dann an vier Punkten aufgehängt und in Epoxidharz getaucht. So entstand eine Struktur, die eigentlich gar nicht halten kann, dank der Materialien aber zehnmal stärker ist als Stahl.

Experimente sind ohnehin Wanders’ Stärke. So päsentierte er im Stedelijk Museum erstmals den Prototypen des „Carbon Balloon Chair“ (2013), der aus langen Luftballons gefertigt ist, wie man sie vom Jahrmarkt zum Figurenknoten kennt – und mit Hilfe von Harz hergestellt wird. Der Stuhl wiegt nur 800 Gramm und erinnert mit seiner rund geschwungenen Rückenlehne entfernt an einen Wiener Kaffeehausstuhl. Er wirkt fragil und unpraktisch – eben weil er scheinbar aus aufgeblasenen Luftballons besteht. Aber die sind erstaunlich stabil.

In einer sogenannten schwarzen Zone zeigte das Stedelijk Museum aber auch eine andere Seite von Marcel Wanders. Wie Alice im Wunderland wandelte der Besucher zwischen überdimensionierten Lampen umher und betrachtete einen sich drehenden Kopf mit Haaren aus Tulpen, der künftig das Entrée eines Immobilienprojektes in der Türkei schmücken wird. Düstere Videoclips vermittelten eine Traumwelt, bei der die Grenzen zwischen Design, Theater und Film verschwammen. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch eine sphärisch-mystische Musik, die immer wieder bedrohlich anschwoll und einen mitunter dramatischen Soundtrack zu den überdimensionierten Objekten lieferte.

Wanders will verblüffen

Am Abend entfaltet das Foyer mit dem Lichtschacht seine ganze Pracht.
Am Abend entfaltet das Foyer mit dem Lichtschacht seine ganze Pracht.

© Marcel Wanders

Der Designerstar ist längst bei der Raumgestaltung angekommen; das Hotel an der Prinsengracht ist nicht das einzige, das er gestaltet hat. In den letzten Jahren wurde er spielerischer, auch nachdenklicher: „Besteht das Konzept Zukunft noch in einer Kultur, in der eine zusammenhängende Vision davon verschwunden ist?“, fragt er.

Wanders will die Menschen verblüffen. „Wir dürfen von alten Dingen träumen, denn modern ist morgen schon alt“, sagt er. Tradition ist ihm wichtig, ebenso Nachhaltigkeit. Er mag Emotionen und Träume, der Mensch sei nicht nur rational. „Die Funktionalität der Dinge ist wichtig, aber sie ist nur die Basis, auf der alles andere aufbaut“, lautet seine These. Gerade mit seiner Neuinterpretation des Delfter Blaus ist er sehr niederländisch und damit zugleich fern von allem folkloristischen Touristennepp. Merkwürdigerweise hat man das in Delft noch nicht erkannt. In den anerkannten Geschäften der Fayence-Ware weiß man von Marcel Wanders nichts.

Wer die Ausstellung im Stedelijk Museum verpasst hat, muss unbedingt im Showroom seines eigenen Labels moooi vorbeischauen, das er mit Casper Visser gegründet hat. Mooi heißt auf Niederländisch schön – und da Wanders seine Objekte besonders schön und einzigartig findet, schreibt er sein moooi mit drei „o“. Seit 2008 besteht der Showroom im trendigen Jordaan-Viertel in der Westerstraat 187. Unter dem Label moooi gibt Wanders als Artdirektorauch anderen Designern Möglichkeiten und Raum, ihre Entwürfe zu präsentieren. Auf 700 Quadratmetern bekommt der Besucher praktisch eine wechselnde Ausstellung der Marcel-Wanders-Welt, die sich mit atemberaubender Geschwindigkeit erweitert.

Dass die Website eines Designers ständig Neues zu bieten hat, ist schon eine Seltenheit. Und man hat das Gefühl, es gibt keinen Bereich, den er auslässt. Als Freund des traditionellen Handwerks und der Tradition überhaupt hat er für die Leerdamer Kristallmanufaktur Royal Leerdam gut zwölf Jahre nach der Hochzeit von König Willem-Alexander und Königin Máxima eine orangefarbene Kristallvase (Oranjevase Königliches Kupfer) geschaffen, deren zwölfeinhalb Lamellen die Ehejahre des Königspaares symbolisieren. Die bauchige Vase mit der kleinen Öffnung auf elegantem Fuß zeigt die hohe Kunst der Glasbläser von Leerdam. Wanders erweist sich auch hier einmal mehr als Virtuose der Form, des Materials und der zündenden Idee. Ein Geschichtenerzähler, der sein Publikum immer aufs Neue verzaubert.

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