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Französische Avantgardistin. Inga Sempé zählt mit ihren originellen Entwürfen von Haushaltsgegenständen und Möbeln zu Frankreichs Topdesignern. Sie arbeitete schon mit Firmen wie Cappellini, Edra, Magis, Baccarat, Pallucco und David Design zusammen.

© Sofia Sanchez und Mauro Mongiello

Frankreichs kreativer Stern: Designer haben keine Macht

Inga Sempé ist derzeit Frankreichs innovativste Designerin, die dennoch einen sehr nüchternen Blick auf ihre Branche wirft. Ein Gespräch über Leere, Überfluss und die Mühsahl des Zeichnens.

Die vielgefragte französische Designerin Inga Sempé (Jahrgang 1968) hält nichts von viel Tamtam und Plaudereien. Sie gilt als eine der wichtigsten und innovativsten Designerinnen unserer Zeit, aber sie erklärt vor vollen Sälen ohne Umschweife, dass sich ihr Werk nicht verkauft. In Interviews spricht sie mit bestürzender Offenheit über ihre Rückschläge. Selten begegnet man jemandem, der so entschlossen ist, sich ja nicht besser, erfolgreicher oder sympathischer zu geben als er ist.

Ihr Vater, der französische Illustrator und Zeichner Jean-Jacques Sempé, lieferte mehr als 70 Titelbilder für „The New Yorker“ und wurde weltberühmt mit der „Kleine Nick“. Auch ihre Mutter, Mette Ivers-Sempé, hat eine gute Reputation als Malerin und Illustratorin. Aber über ihren Einfluss spricht Tochter Inga nicht. Höchstens will sie ihren – in Frankreich – ungewöhnlichen Vornamen erklären. „Inga ist Dänisch. Meine Mutter ist dänischer Herkunft, aber sie ist in Frankreich aufgewachsen. Ich würde sogar sagen, dass sie ganz und gar französisch ist – bis auf ihr Aussehen“, hat sie einmal gesagt.

Sie arbeitete nach ihrem Industriedesign-Studium, das sie 1993 in Paris an der renommierten Ecole Nationale Supérieure de Création Industrielle abschloss, bei Marc Newson und bei Andrée Putman, beide Weltspitze, aber um ihre Reputation macht sie kein großes Aufheben.

In Italien experimentierte sie mit einer Technik, mit der sie große Aufmerksamkeit erregen sollte: plissieren oder falten. Die ersten Unternehmen, die ihre Entwürfe in die Produktion aufnahmen, waren die italienischen Möbelmarken Cappellini und Edra.

Chris Meplon traf die Designerin zum Interview.

Wie waren Ihre ersten Berufsjahre als Designerin?

Ich war eine fürchterlich schlechte Assistentin. Ich hasste es, für jemand anderen arbeiten zu müssen. Aber ich war zu verlegen, um es zu wagen, auf eigenen Beinen zu stehen. Dann habe ich Glück gehabt, um für einen Aufenthalt in der Villa Medici in Rom ausgewählt zu werden. Ich bekam ein Jahr lang ein Stipendium, um das zu tun, was ich wollte. Danach eröffnete ich im Jahr 2000 mein eigenes Büro in Paris.

Mit Ihren ersten Entwürfen für Cappellini und Edra hatten Sie gleich ein großes Medienecho.

Aber das ist noch keine Garantie, dass man auch ein Einkommen hat.

Warum lieben Sie Ihren Beruf als Designerin?

Na ja, in erster Linie muss man natürlich Objekte lieben, wenn man sie entwerfen will. Wir sind in unserem täglichen Leben von Objekten umringt. Es scheint mir also nicht absurd zu sein, um mich wirklich für Objekte zu interessieren. Auch wenn das viele Menschen offensichtlich als absurd ansehen. Ich liebe es, um für Objekte eine andere Verwendung zu finden, sie neu zu interpretieren, anzupassen, zu verbessern. Ich mag die Vielfalt des Jobs. Zusammenarbeiten mit ganz unterschiedlichen Unternehmen, die ganz unterschiedliche Aufträge formulieren, mit verschiedenen Menschen, Techniken, Maßstäben, Materialen arbeiten, immer etwas anderes.

"Zeichnen ist Arbeit"

Schlicht und gemütlich. Ihre größten Erfolge verbuchte Inga Sempé bei Ligne Roset – wie hier mit dem Sessel "Moel", für den sie 2007 den Red Dot Award „best of the best“ gewann.
Schlicht und gemütlich. Ihre größten Erfolge verbuchte Inga Sempé bei Ligne Roset – wie hier mit dem Sessel "Moel", für den sie 2007 den Red Dot Award „best of the best“ gewann.

© Ligne Roset

Können Sie Beispiele für Objekte nennen, die Ihnen besonders gut gefallen?

Da gibt es viele. Ich fahre zum Beispiel voll auf eiförmige Türknaufe aus Porzellan ab. Dass jemand auf die Idee kam, einen Türknauf zu entwerfen, finde ich großartig. Sie sind stabil, schön und angenehm, wenn man sie anfasst. Selbst als ganz kleines Kind habe ich mich schon gefragt: Wer soll sich dieses Objekt nur ausgedacht haben? Wie kam diese Person auf diese Idee? Warum ist dieses Stückchen nicht etwas länger, das nicht kürzer, jenes etwas schmaler, das dort sanfter? Das beschäftigt mich. Das ist es auch, was mich antrieb, Designerin zu werden.

Wie bekommen Sie selbst gute Ideen?

Durch Skizzen.

Skizzieren Sie lieber frei oder im Auftrag?

Wenn ich keinen Auftrag bekomme, dann zeichne ich auch nicht. Jetzt doch nicht mehr. Dann tue ich lieber etwas anderes. Dann gehe ich lieber spazieren. Zeichnen ist Arbeit. Ich finde es schwierig. Ich bin träge.

Welche Objekte haben Sie gerne in Ihrer Nähe?

Ich liebe Gegenstände, aber ich habe überhaupt nicht das Bedürfnis, sie zu besitzen. Bei mir zu Hause ist überhaupt keine Rede von einer Sammlung von Objekten. Ich finde es sogar nicht so schön, wenn mir jemand ein Objekt schenkt. Ich finde, dass wir durch die Bank schon viel zu viel Dinge zu Hause haben. Ich ziehe die Leere dem Überfluss vor.

Als Kind verbrachte ich mit meiner Mutter viel Zeit auf Trödelmärkten. Ich finde es toll, Gegenstände zu betrachten, aber ich kaufe wirklich nicht viel.

Finden Sie, dass ein Designer nach Originalität streben muss?

Das ist eine schwierige Frage. Originalität muss immer Qualitäten haben. Etwas kann vielleicht originell sein, aber wenn es nichts taugt, dann ist es möglicherweise wertlos. Ich denke, dass es eine typisch menschliche Eigenschaft ist, dass wir nach neuen Dingen verlangen. In diesem Sinne möchte ich nicht, dass Originalität unbedeutend genannt wird. Innovation ist eine fundamentale Notwendigkeit des Menschen. Sie ist deshalb notwendig, um die Gradlinigkeit des Lebens zu durchbrechen, auch wenn dies nur mit Hilfe kleiner Details geschieht.

Tiere kennen das nicht. Sie folgen nicht so etwas wie einer Mode. Wir Menschen schon. Das ist meiner Ansicht nach auch nicht einfach närrisch. Veränderung macht das Leben interessant. Menschen fragen oft: Warum nur immer wieder neue Designobjekte? Aber haben Sie schon einmal jemanden fragen hören: Warum immer wieder neue Romane? Es gibt doch auch viel mehr Romane als wir jemals in einem Menschenleben werden lesen können.

Sobald es um Design geht, denken die Menschen sofort an Überproduktion. Natürlich existiert eine Menge wertlosen neuen Designs. Aber es gibt genauso viele wertlose Bücher. Von denen dann doch noch Tausende über den Tresen gehen. Und die haben auch noch einen enormen Einfluss auf das Leben der Menschen.

Es verändert sich gerade viel in der Designwelt. Finden Sie, dass zur Zeit viele positive Entwicklungen stattfinden?

Nicht wirklich. Designer sind nun beim Publikum viel bekannter als früher, aber in Wirklichkeit bekommt nur eine kleine Minderheit die ganze Aufmerksamkeit der Medien. Alles in allem produzieren diese bekannten Designer fürchterlich wenig im Verhältnis zu der totalen Masse an Objekten, die momentan in der Welt produziert werden.

Dennoch wird diese kleine Gruppe, zu der ich auch gehöre, durch die Medien immer mehr nachgefragt. Man fühlt zurzeit einen wachsenden Vorwurf an die Adresse bekannter Designer. Ich bekomme die ganze Zeit die gleichen Fragen. Denken Sie über die Umwelt nach? Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie zum Konsum anregen? Mit einem Unterton von: Schämen Sie sich nicht?

Was antworten Sie darauf?

Warum lese ich nie ein Interview mit Designern, die die Gratisbeigaben, die Kinder bei McDonalds bekommen, gestalten? Zum ersten ist es ihr einziges Ziel, die Kinder noch mehr Mist essen zu lassen, zum zweiten geht es hier um eine Massenproduktion, die in die Millionenstückzahlen geht. Und obendrein sind in den Dingern oft noch Batterien drin, die man nicht entfernen kann, ohne das Objekt zu zerstören.

Ich finde es merkwürdig, dass niemand kritische Fragen an diese Designer stellt, die in dieser Art von Industrie arbeiten, denn auch das sind Designer. Die Journalisten reden immer vollmundig über Nachhaltigkeit und Recycling, aber sie widmen ihre ganze Aufmerksamkeit dem teuren Möbeldesign, den kleinen Serien, für die sehr viel Forschung und Innovation notwendig ist. Als ob die Designer dieser kleinen Serien die großen Umweltverschmutzer wären.

Trägt nicht jeder Designer eine Verantwortung?

Ja, aber den Designern mit einem großen Namen wird oft eine Macht zugeschrieben, die sie überhaupt nicht haben. Die Produktionsmethoden innerhalb eines Unternehmens zu verändern, verlangt wissenschaftliche Kenntnisse. Das ist die Arbeit hochspezialisierter Ingenieure, nicht der Designer. Es sind die Unternehmen selbst, die diese Entscheidungen treffen.

Wollen Sie als Designer etwas zur Gesellschaft beitragen? Ist Design eine Berufung?

Das scheint mir eine Frage für jemanden zu sein, der einen Impfstoff entwickelt. Dennoch glaube ich, dass für jeden gilt, der eine Leidenschaft für seinen Beruf empfindet: Man tut es, weil es einen interessiert. Selbst wenn man Menschenleben rettet, macht man es doch auch für sich selbst. In diesem Sinn ist Design auch eine Berufung. Aber dann nicht nach diesem altmodischen Bild, dass jemand ein Licht gesehen hat und dann in diesem erleuchteten Zustand sein Ding tut.

Man kann sehr gut aus Überzeugung einen Beruf wählen und dennoch Momente erleben, in dem er sehr langweilig ist. Ich möchte meinen Beruf nicht wechseln, aber es kommt vor, dass ich alles als sehr schwierig und langsam empfinde. Ich mache das alles sehr gerne, aber manchmal denke ich: Vielleicht muss ich einen Delikatessenladen eröffnen. Irgendwo in einem Provinzstädtchen…

"Die Franzosen haben keine wirkliche Designkultur"

Plissieren, falten, steppen. "Ruché" (Ligne Roset), ein schlankes Massivholzgestell, bezogen mit einer abgesteppten Polsterung, eignet sich gut auch für kleine Räume.
Plissieren, falten, steppen. "Ruché" (Ligne Roset), ein schlankes Massivholzgestell, bezogen mit einer abgesteppten Polsterung, eignet sich gut auch für kleine Räume.

© Ligne Roset

Wer sind Ihre Designhelden?

Ich werde niemanden einen Helden nennen, wenn ich diese Person nicht im wirklichen Leben kennengelernt habe. Jemand kann ein glänzender Designer, aber auch ein Unmensch sein, und umgekehrt habe ich sehr gute Freunde, deren Arbeit mir überhaupt nicht gefällt, die ich aber als Personen sehr schätze. Aber sie sind keine Helden.

Für welche Betriebe arbeiten Sie gerne?

Immer für Familienunternehmen. Luceplan, LigneRoset oder Wästberg… Es ist essenziell, dass dein Gesprächspartner wirklich dem Unternehmen angehört und seine Kultur versteht, dass er oder sie den Betrieb lieben und nicht vorhaben, sechs Monate später wieder zu verschwinden, weil man anderswo mehr verdienen kann.

Ich habe es nicht in mir, um Bestseller zu entwerfen. Aber als ich meinen ersten Entwurf für Ligne Roset zeichnete, sagte Michel Roset: „Vielleicht verkauft es sich nicht, aber es ist wichtig für uns, um es in unserer Sammlung zu haben.“ Es ist bei einem Designunternehmen wie bei einem Buchverlag. Der Verleger muss ab und zu eine Biographie von Oprah Winfrey verlegen, wenn er sich in Zukunft auch inhaltlich ambitionierte Projekte leisten wollen kann.

Aber Ihre Sofas bei Ligne Roset laufen doch recht gut?

Verglichen mit vielen meiner Entwürfe für andere Firmen schon. Auch wenn es vor allem um die Objekte geht, die überall veröffentlicht werden. Auch wenn ich Preise dafür bekam. In Wirklichkeit muss mein Büro mit zwei Mitarbeitern beinahe ausschließlich von den Einkünften laufen, die ich durch meine Arbeit für Ligne Roset bekomme.

Meine Mitarbeiter werden auch schlecht bezahlt. Ich arbeite in meinem eigenen Appartement in Paris. Man investiert oft unvorstellbar viel Zeit und Mühe in die Entwicklung eines Produktes. Aber letztendlich werden dann nur eine Handvoll verkauft.

Sie werden der nächste Ehrengast der Stockholm Furniture & Light Fair 2012. Auf Ihrer Liste mit Auftraggebern stehen auffallend viele schwedische Unternehmen wie David Design, Almedahls, Wästberg, Gärsnäs und Svenskt Tenn. Verbindet Sie etwas besonderes mit Skandinavien?

Ich arbeite mehr in Italien und Schweden als in Frankreich. Alle französischen Designer, die nun mehr in den Medien auftauchen, arbeiten mehr für ausländische als für französische Unternehmen. Ich habe kürzlich einen Stuhl und einen Tisch aus Holz für die schwedische Marke Gärsnäs entworfen. Ich fand es eine fantastische Chance, denn in Frankreich ist es undenkbar, dass ein Betrieb aus der Holzindustrie einen zeitgenössischen Designer um einen Entwurf bittet. Die Kehrseite der Medaille ist, dass ich oft den Ort wechseln muss, wobei ich eigentlich nicht so gerne verreise.

Wollen die Franzosen wirklich immer noch Badewannen auf Löwenpfoten und Holzmöbel mit Locken?

Man kann natürlich nicht sagen, dass in Frankreich alles Retro ist, aber die Franzosen haben keine wirkliche Designkultur. Ich finde dafür auch keine Erklärung. Man kann im kleinsten französischen Dorf fragen, wer der Designer von Dior ist, und jeder wird es wissen. In Frankreich besteht eine große Kultur um Mode, Parfums, Küche oder Film. Aber Möbel – nein! Roset ist mein einziger wichtiger Auftraggeber.

Denken Sie, dass Sie auch etwas anderes tun können?

Ja, Drehbücher schreiben. Ich bin verrückt nach Filmen.

Welcher ist Ihr Lieblingsfilm?

Die Regenschirme von Cherbourg (ein populäres romantisches französisches Musical von Jacques Demy mit Catherine Deneuve von 1964).

Aus dem Niederländischen von Rolf Brockschmidt

Chris Meplon

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