zum Hauptinhalt
Schweifhaare von 43 Pferden braucht Daniel Heer für eine Matratze. Dadurch hat sie ihren Preis, hält aber angeblich auch 100 Jahre lang.

© Inge Ahrens

Rosshaarunterlagen: Matratze fürs Leben

Der Schweizer Sattler Daniel Heer fertigt in seinem Berliner Studio robuste Rosshaarunterlagen. Ganz von Hand - wie seine Vorfahren.

Vor dem großen Fenster eines Berliner Studios bleiben Spaziergänger staunend stehen. Sie sehen einen schlanken Mann im weißen Kittel über einen riesigen Wust sperriger krauser Haare gebeugt, den er mit Hilfe kräftiger langer Nadeln zwischen zwei Lagen Stoff zu bändigen versucht. Daniel Heer darf man bei der Arbeit zuschauen. Der Schweizer ist Sattler wie schon sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater. Rosshaarmatratzen sind die Familienspezialität. Drinnen im Studio hat der Urenkel sie in matten, zarten Farben malerisch gestapelt.

Jedes Exemplar ist sorgfältig von Hand gearbeitet. „Tritt der Betrachter dann ein, entspinnt sich meist ein Gespräch über Gesundheit, weniger über Design“, weiß Daniel Heer zu berichten. Heer versteht sich als moderner Handwerker, weniger als hipper Designer. Für seine hochwertige bodenständige Arbeit wurde er gerade vom Magazin „Wallpaper“ als Modern Craftsman ausgezeichnet. Daniel Herr geht es nicht darum, den Lifestyle zu bedienen oder wie er es nennt: „etwas Lustiges zu machen“. Seine langlebigen Matratzen sind im besten Sinne nachhaltig.

Und: Sie haben eine magische Wirkung. Manch ein Besucher legt sich gleich mal hin und fühlt sich wohl. Der Liegekomfort ist sofort spürbar. Man ruht fest, ohne zu schwingen und kann sich doch irgendwie anschmiegen. Kein Schwitzen, kein Rascheln, wenn man sich mal rührt. Das Rosshaar sorgt für das perfekte Schlafklima. Eine Matratze fürs Leben.

„So viel Staub! Das mochte ich nicht“

Aus Daniel Heers Dasein sind Rosshaarmatratzen nicht wegzudenken. Er wuchs gleichsam mit ihnen auf. Und natürlich schlief er auf ihnen, so lange er denken kann. Der heute 36jährige Luzerner musste schon als Kind in der Sattlerwerkstatt seiner Eltern helfen, alte Matratzen aufzutrennen, die Kunden am Morgen anschleppten, um sie am Abend aufgearbeitet wieder abzuholen. „So viel Staub! Das mochte ich nicht“, erinnert sich Daniel Heer, und zieht bei der Erinnerung daran die Schultern zusammen. „Das Wertvolle am Produkt erkannte ich damals noch nicht. Trotzdem stand von klein auf die Frage im Raum: Setze ich die Familientradition fort oder nicht?“

Daniel Heer hinter einem Wust sperriger Haare, die er zu Matratzen bändigt.
Daniel Heer hinter einem Wust sperriger Haare, die er zu Matratzen bändigt.

© Inge Ahrens

Daniel Heer lernte schließlich Sattler, zwei Jahre davon im elterlichen Betrieb. Mit der Abnabelung von zu Hause folgten seine Wanderjahre. In Prag büffelte er Tschechisch. In Berlin assistierte er an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz einem Kostümbildner. 2007 zog Heer endgültig in die deutsche Hauptstadt. Dort gründete er seine eigene Sattler- und Polsterwerkstatt im Stadtteil Kreuzberg. Seit September vergangenen Jahres arbeitet er in seinem neuen offenen Studio in Mitte.

„Ich musste nach Berlin gehen, um zu sehen, was man hat. Von hier aus ist der Blick auf das Zuhause in der Schweiz ein anderer“, findet Daniel Heer. Urgroßvaters Tradition ist jedenfalls wieder gefragt, da ist sich Daniel sicher. Benedikt Heers Vorfahre schaut selbstbewusst und man könnte meinen wohlwollend aus dem Rahmen an der Wand auf seinen Urenkel herab. Darunter steht seine schöne alte Werkzeugkiste, und auch die seines Sohnes, Daniels Großvater.Nichts ist verstaubt oder altmodisch in Daniels Heers Studio. Im Raum herrschen Ordnung und Klarheit, und der moderne Handwerker sieht im Kittel seines Großvaters einfach wunderbar aus.

Ganz edle Schweifhaare

Die Farben der Stoffe sind meist gedeckt.
Die Farben der Stoffe sind meist gedeckt.

© Inge Ahrens

In den Kartons mit den verschiedenfarbigen Schweifhaaren der Rösser möchte man die herumwuscheln. Drahtig und elastisch wie feine Sprungfedern liegt das krause Haar in der Hand. Das Rosshaar bekommt Daniel Heer aus dem schweizerischen Marthalen, wie schon seine Eltern. „Toggenburg“ heißt die einzige Rosshaarspinnerei des Alpenlandes. Dabei ist Rosshaar bloß ein Sammelbegriff für alle möglichen Haare: es kann von Pferden, Ochsen, Kühen, Schweinen oder Ziegen sein.

Daniel Heer aber verarbeitet tatsächlich nur Pferdehaar: das festere vom Schweif. Weicher ist nur das Mähnenhaar. Im Marthaler Betrieb aus dem 19. Jahrhundert wurde es gewaschen, desinfiziert, getrocknet und gesponnen. So kommt es zu Zöpfen gedreht oder bloß gezupft in großen Säcken nach Berlin. Je länger die Faser, desto kostbarer ist das Haar. „Ganz edle Schweifhaare von 80 Zentimetern Länge sind für Geigenbögen“, verrät Daniel Heer.

Für eine Matratze benötigt der Handwerker die Haare von 43 Pferden. 17 Kilo wiegt deren Schweif- oder Mähnenhaar alles in allem. 50 Zentimeter aufbauschendes störrisches Gekräusel schnürt Daniel Heer bis auf 15 Zentimeter Matratzendicke runter. Auf dem Stoff, den er aus Dänemark, England und der Schweiz kommen lässt, hat er die jeweilige Matratze in Umrissen markiert. Darauf legt er zuerst eine Schicht Wolle. Dann wird der Rand mit Rosshaar aufgefüllt.

Das hat Stil

Dann folgt die Mitte. Die Menge muss Daniel Heer nicht mehr abwiegen. „Das hab ich im Griff.“ Ist das Rosshaar verteilt, legt er noch eine Schicht Wolle drauf und dann erst den Bezugsstoff. Alles wird genadelt und schließlich mit dem Sattlerstich zugenäht. Mit den Fingern formt er die runden Ecken und versieht die Wülste mit dem Garnierstich. 18 Stunden braucht Daniel Heer für eine Matratze. Fehlen nur noch die Knöpfe, die bei ihm Abhefter heißen.

Passend zum Stoff werden aus den Fäden die Knöpfe, sogenannte Abhefter, gefertigt. Sie fixieren später das Rosshaar.
Passend zum Stoff werden aus den Fäden die Knöpfe, sogenannte Abhefter, gefertigt. Sie fixieren später das Rosshaar.

© Inge Ahrens

Stück für Stück hat er sie aus den Fäden des ausgewählten Bezugsstoffes gemacht. Das hat Stil. 46 Abhefter stecken in einer Matratze. Sie werden mit einer langen Doppelspitznadel festgezogen und fixieren das Rosshaar.„So eine Matratze hält 100 Jahre“, da ist Daniel Heer zuversichtlich. „Einmal im Jahr sollte man sie allerdings in die Sonne legen.“ Außerdem sei nach 15 bis 20 Jahren eine Aufarbeitung fällig. Das bedeutet für den Fachmann: Den Bezug öffnen, das Innere lockern, Wolle erneuern, und neu beziehen.

Damit man zuhause die Matratze auch drehen kann, packt man sie am besten am Wulst an. Die Standardgröße beträgt ein mal zwei Meter und kostet im Studio rund 2000 Euro. Wenn Daniel Heer einen größeren Auftrag hat, kommen die Eltern aus der Schweiz und packen mit an. „Sie sind neugierig“, erzählt er. „Es ist schließlich ein Teil von ihnen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false