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Rund 18 Millionen Tonnen Lebensmittel landen hierzulande jährlich im Müll.

© Getty Images/iStockphoto

18 Millionen Tonnen Abfall: Hier bekommen Lebensmittel eine zweite Chance

Tonnenweise Essen landen täglich im Müll. Initiativen kämpfen dagegen an - und Unternehmen machen es zu ihrem Geschäft.

Von Laurin Meyer

Wer Lebensmittel vor der Mülltonne bewahren will, der muss früh aufstehen – zumindest am Bahnhof Zoo in Berlin. Pünktlich um acht Uhr verteilt die Filiale einer Bäckereikette übriggebliebene Waren vom Vortag. Nicht an alle, aber an jene, die sich vorher angemeldet haben. Die 18-jährige Milena aus Berlin macht das regelmäßig. Ausgestattet mit einem Wanderrucksack betritt sie die Backstube der Filiale, packt Lebensmittel aus einer randvollen Plastikkiste um. Diesmal dabei: Pizzen, belegte Brötchen, verpackte Stullen. „Es gibt einem das seltene Gefühl, etwas moralisch Einwandfreies zu tun“, sagt die junge Studentin. Schließlich lohne sich das Foodsharing für alle Beteiligten: Die Betriebe müssen nichts wegwerfen, Lebensmittelretter wie Milena sparen sich den Brötchenkauf. Und hat die 18-Jährige noch etwas übrig, bringt sie es zur nahegelegenen Bahnhofsmission.

Dennoch weiß auch sie: „Damit lösen wir das Problem der Lebensmittelverschwendung nicht.“ Was die junge Studentin vor der Mülltonne rettet, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Jährlich landen schätzungsweise 18 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll: Essensreste aus Restaurants, vermeintlich abgelaufene Ware, unästhetisches Obst. All das zusammen entspricht mehr als 700000 Lkw-Ladungen. Einen Großteil schmeißen Verbraucher in der eigenen Küche weg – Ware im Wert von zusammengerechnet 20 Milliarden Euro jährlich, schätzen die Verbraucherzentralen.

„Lebensmittelverschwendung ist ein großes Problem, das alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft und Auswirkungen auf Klima und Umwelt hat“, sagt Sonja Pannenbecker, Referentin für Lebensmittel und Ernährung bei der zuständigen Verbraucherzentrale Bremen. Schließlich werde wertvoller Boden, Wasser, Arbeitskraft und Energie für den Anbau von Waren benötigt, die am Ende ungenutzt in Biogasanlagen landen würden. Das hätte globale Konsequenzen. „Eine Überproduktion erhöht die Nachfrage nach Rohstoffen wie Getreide“, erklärt Pannenbecker. „Dadurch wiederum steigen die Preise für wichtige Grundnahrungsmittel, wovon arme Länder besonders betroffen sind.“ Die Vorstellung der Verbraucher, nur perfekte Lebensmittel konsumieren zu können, führe außerdem dazu, dass Produkte manchmal gar nicht erst geerntet werden.

Die Bundesregierung will das Problem angehen, besser gesagt: Sie muss. So hat sich Deutschland dem Ziel der Vereinten Nationen verpflichtet, die nationale Lebensmittelverschwendung bis zum Jahr 2030 zu halbieren. So steht es auch im Koalitionsvertrag. Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat deshalb vor knapp einem Jahr einen Plan entwickelt, die Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung. Geplant sind regelmäßige Dialogforen zwischen Produzenten, Handel und Verbrauchern, um Lösungen zu erarbeiten.

Zwei davon haben ihre Arbeit bereits aufgenommen, erklärt eine Sprecherin. Außerdem will das Ministerium bestehende Initiativen ausbauen – darunter die Informationskampagne „Zu gut für die Tonne“. Dazu gehört etwa eine Rezepte-App, die seinen Nutzern anhand von Lebensmittelresten passende Rezepte vorschlägt. Daneben steckt das Ministerium rund eineinhalb Millionen Euro in ein Projekt, das Händler und Tafeln künftig besser vernetzen soll. Vor schärferen Gesetzen schreckt Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) bislang jedoch zurück. So ist es etwa dem Handel in Frankreich verboten, noch genießbare Lebensmittel wegzuwerfen.

Initiativen kämpfen dagegen an, Unternehmen machen es zum Geschäft

An freiwilligen Angeboten mangelt es jedenfalls nicht. Die Einsätze von Studentin Milena vermittelt das Internetportal „Foodsharing.de“, eine Initiative gegen Lebensmittelverschwendung. Auf der Seite des Vereins können sich Betriebe mit übriggebliebenen Waren listen lassen, Mitglieder sich dann zum Abholen anmelden. Wer Teil des Netzwerks sein will, muss dafür aber etwas tun. Angehende Abholer müssen zunächst einen Onlinetest bewältigen. Darin werden etwa Verhaltensregeln abgefragt. Neumitglieder müssen außerdem drei Probeabholungen absolvieren, begleitet von erfahrenen Lebensmittelrettern. Erst dann bekommen sie einen Ausweis, mit dem sie sich bei den Betrieben als alleinige Abholer legitimieren dürfen. Europaweit zählt die Foodsharing-Initiative fast 200000 registrierte Mitglieder.

Neben freiwilligen Initiativen wie dieser haben sich auch zahlreiche Unternehmen zum Ziel gesetzt, noch brauchbare Lebensmittel vor der Mülltonne zu bewahren. Ein solches Projekt ist die App „Too Good To Go“, auf Deutsch: zu gut, um es wegzuwerfen. Rund 2700 Restaurants, Bäckereien, Cafés und Supermärkte bieten per Klick übrig gebliebene Mahlzeiten zum reduzierten Preis an, wie Sushi, Suppen oder Salate. Nutzer können in der App sehen, welches Geschäft in der Nähe noch Portionen übrig hat.

Zweite Chance für hässliches Gemüse

Die dänischen Macher von Too Good To Go verdienen auch daran. Sie nehmen eine Provision pro vermittelter Mahlzeit, außerdem müssen Partnerbetriebe eine monatliche Teilnahmegebühr zahlen. Verbraucher müssen die App allerdings nicht kaufen, die Mahlzeiten kosten im Durchschnitt drei Euro und sollen dabei im Vergleich zum Originalpreis mindestens um die Hälfte günstiger sein. Mehr als 28 Millionen Essen will Too Good To Go in zehn verschiedenen Ländern seit seinem Start im Jahr 2015 schon vor der Tonne gerettet haben.

Sirplus-Gründer Raphael Fellmer hält eine fleckige Avocado.
Sirplus-Gründer Raphael Fellmer hält eine fleckige Avocado.

© dpa

Ein Geschäft mit geretteten Lebensmitteln hat auch Raphael Fellmer aufgebaut. Der Gründer der kleinen Supermarktkette „Sirplus“ verkauft überschüssige Ware der Produzenten und bietet diese in seinen drei Berliner Läden sowie in einem Onlineshop an. Dazu gehören beispielsweise Produkte, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Die können Supermärkte nämlich nicht mehr verkaufen, sind meistens aber trotzdem noch unversehrt. Auch frisches Obst und Gemüse, das für die Supermarkttheken zu krumm oder zu hässlich war, bekommt bei Sirplus eine zweite Chance.

Unternehmen will mit Kindheitserinnerungen punkten

Über zwei Millionen Kilo Lebensmittel sollen seit 2017 schon über die Ladentheken gegangen sein. Mit dem Geschäft will Fellmer nun expandieren. Sein Onlineshop soll in den kommenden zehn Jahren in 15 verschiedenen Ländern erreichbar sein, zudem möchte Fellmer ein Franchise-System mit weiteren Filialen aufbauen. Das Geld dafür soll eine Crowdfunding-Kampagne einbringen.

Die Gründer von Dörrwerk machen aus Obst zweiter Klasse Esspapier.
Die Gründer von Dörrwerk machen aus Obst zweiter Klasse Esspapier.

© Promo

Das Unternehmen Dörrwerk will die Lebensmittelverschwendung hingegen mit Kindheitserinnerungen angehen. Das Berliner Start-up nutzt Obst zweiter Klasse, um Esspapier herzustellen. Die Jungunternehmer pürieren aussortierte Äpfel, Mangos oder Erdbeeren, streichen den Obstbrei auf Backbleche – und lassen ihn trocken. Mehr als 70000 Kilo Obst sollen so schon verarbeitet worden sein.

Lebensmittelrettung oft teurer

Die Kunden müssen sich das Esspapier allerdings leisten können: 100 Gramm Esspapier kosten stolze 7,50 Euro. „Lebensmittelrettung ist oft teurer als die Verarbeitung von klassifizierter Ware“, sagt Mitgründer Jonas Bieber. Ein Beispiel: Bei Kartoffeln, die verformt sind, würden bis zu 40 Prozent mehr Schälverluste anfallen. Daneben setzen die Jungunternehmer auf teureren Ökostrom bei der Produktion. Außerdem unterstützen sie mit einem Teil ihres Gewinns das Berliner Bildungsprojekt „Gemüseackerdemie“, das Kindern an Schulen nachhaltige Ernährung beibringt.

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