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Wirtschaft: Kleingeld vom Schaffner

Bahnfahrer haben seit 2004 bei Verspätungen Anspruch auf Entschädigung – aber nur im Fernverkehr. Experten wollen das ändern

Zwei Stunden als Puffer müssten reichen, hatte sich Helmut Z. gedacht. Denn die Fahrt mit dem ICE von Münster zum Frankfurter Flughafen sollte ja nur drei Stunden dauern. Von dort wollte er nach Seattle fliegen. Doch unterwegs hat der ICE eine Panne, Helmut Z. muss in Köln umsteigen, das bedeutet 35 Minuten Verspätung. Dann hat auch noch der Ersatzzug Probleme – bis Frankfurt verliert er noch einmal 95 Minuten. Mit insgesamt 130 Minuten Verspätung kommt Z. am Flughafen an. Sein Pech: Der Jet nach Seattle ist gerade gestartet.

Etwa neun von zehn Zügen rollen derzeit pünktlich in den Bahnhof – bei den übrigen ist die Lok ausgefallen, hat ein umgestürzter Baum die Oberleitung zerfetzt, oder es klemmt eine Weiche. Die Verspätungen, die so entstehen, kosten die Kunden oft eine Menge Geld und auch Nerven.

Einen Rechtsanspruch auf Entschädigung haben die Fahrgäste gleichwohl nicht – so steht es im Eisenbahngesetz aus dem Jahr 1937. Immerhin zahlt die Bahn seit Herbst 2004 in vielen Fällen auf der Grundlage einer einklagbaren Selbstverpflichtung. Die so genannte Kundencharta sichert jedem, der sein Ziel mit mehr als 60 Minuten Verspätung erreicht, eine Entschädigung von 20 Prozent des Ticketwertes zu. Voraussetzung: Die Bahn ist schuld an der Verspätung. Die Mindestentschädigung liegt bei fünf Euro. Gezahlt wird nicht in bar, sondern in Form eines Gutscheins. Kann ein Kunde seine Fahrt nicht bis 24 Uhr fortsetzen, zahlt die Bahn ein Hotel oder ein Taxi. Daneben gelten die üblichen Kulanzregeln: Bei Verspätungen von mehr als 30 Minuten erhalten etwa ICE-Reisende einen Gutschein über zehn Euro. Im Rahmen der Kundencharta melden pro Tag „mehrere hundert“ Bahnfahrer Ansprüche an, sagt ein Sprecher. Allerdings: Weiter gehende Schäden – durch entgangene Geschäfte oder verpasste Konzerte – begleicht die Bahn nicht.

Im Nahverkehr gibt es keine Entschädigungen – denn hier fährt die Bahn, wenn überhaupt, nur als Auftragnehmerin, etwa der Bundesländer. Die Verkehrsverbünde Rhein-Ruhr und Rhein-Sieg, die Verkehrsbetriebe in Kassel, München, Stuttgart und Berlin bieten ihren Kunden freiwillige Garantien an. Die BVG etwa zahlt ab Verspätungen von mehr als 20 Minuten einen Gratis-Fahrschein. „Die mangelnden Rechtsansprüche im Nahverkehr sind ein gravierender Nachteil“, sagt Otmar Lell, Bahnexperte beim Verbraucherschutzverband VZBV.

Womöglich können Reisende aber bald auf mehr hoffen als auf das Erbarmen der Verkehrsunternehmen. „Wir brauchen ein einheitliches Recht für die Personenbeförderung zu Lande, zu Wasser und in der Luft“, fordert Ursula Heinen, Verbraucherschutzbeauftragte der Union. Es gebe kaum einen Bereich, in dem Reisende so schlecht gestellt seien wie bei der Bahn. „Entsprechende Regeln könnte man zum Beispiel im Bürgerlichen Gesetzbuch festschreiben“, schlägt sie vor.

Auch Experten raten zu gesetzlichen Regeln. In einem noch unveröffentlichten Gutachten für das Bundesverkehrsministerium heißt es nach Informationen dieser Zeitung, Kunden im Nah- und Fernverkehr sollten ab einer Verspätung bis zu 60 Minuten 60 Prozent des Fahrpreises erstattet bekommen, bei einer Verspätung bis zu 90 Minuten sollen es 90 Prozent sein. Autoren der Studie, die in dieser Woche an das Haus von Verkehrsminister Manfred Stolpe (SPD) überreicht werden soll, sind das Baseler Institut Progtrans und der Rostocker Jura-Professor Klaus Tonner. Ihre Einschränkung: Bei Bagatellfällen, wie bei verspäteten U-Bahnen, wo die Bearbeitung einer Beschwerde mehr kosten würde als ein Zwei-Euro-Fahrschein, soll es keinen Anspruch geben.

Im Verkehrsministerium ist man von solchen Ideen wenig begeistert. Schon bei der Vorstellung der Zwischenergebnisse erklärte Stolpe, er setze auf freiwillige Verpflichtungen. Denn weit reichende Entschädigungsverpflichtungen würden die Deutsche Bahn, die zu hundert Prozent dem Bund gehört, viel Geld kosten. „Das würde sich sicherlich in den Fahrpreisen niederschlagen“, sagt ein Sprecher.

Vielleicht kommt die EU dem Bund zuvor. In Brüssel wird gerade auf Vorschlag der EU-Kommission eine Initiative debattiert, die einheitliche Fahrgast-Rechte in ganz Europa vorsieht – zunächst nur für den grenzüberschreitenden Verkehr. Die geplanten Entschädigungen würden weit über die bestehenden Regeln in Deutschland hinausgehen.

Helmut Z., der seinen Flieger in Frankfurt verpasst hatte, musste sich derweil auf die Kulanz der Bahn verlassen. Die Umbuchung auf einen späteren Flug nach Seattle kostete ihn 80 Euro. Seinen Regeln gemäß hätte der Konzern nicht zahlen müssen – rückte am Ende aber immerhin einen Reisegutschein über 50 Euro heraus.

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