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100 Jahre Titanic-Tragödie: Gestorben April 15, 1912

Sie hatten Särge an Bord, Leichensäcke und Balsamierflüssigkeit. Von Halifax aus starteten die Schiffe, die die Toten des Titanic-Unglücks bargen und an Land brachten. So ist die kanadische Küstenstadt wie wenige andere Orte für immer mit dem Untergang verbunden.

Schlicht sind die Grabsteine aus poliertem schwarzem Granit. Sie stehen auf Betonsockeln, die sich treppenförmig dem leicht ansteigenden Gelände des Fairview Lawn Friedhofs in Halifax, Kanada, anpassen. Es sind 121. Meist ist ein Name eingraviert, manchmal nicht. Aber auf allen steht: „Died April 15, 1912“ – gestorben am 15. April 1912.

In leichten Bögen führen drei lange Grabsteinreihen auf eine kleine Anhöhe, wo sie aufeinander zulaufen, ohne sich zu treffen. Sie sehen aus wie der Rumpf eines Schiffs. Eine vielleicht nur zufällige Gestaltung der Gräberreihen. Die Menschen, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden, waren Passagiere der Titanic. Ihr Leben endete vor 100 Jahren in der Nacht vom 14. auf den 15. April im eisigen Nordatlantik, als das Kreuzfahrtschiff der Reederei White Star Line zwei Stunden und 40 Minuten nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg unterging.

Fast eine Stunde verbringt Lorelei Brown zwischen den Gräberreihen. Die 29-jährige Australierin besucht Freunde in Halifax. Schon als Kind hatte sie sich für die Titanic interessiert. „Die Steine ohne Namen berühren mich am stärksten. Sie sind ein Mahnmal für alle Opfer der Titanic“, sagt sie leise. Von Halifax fuhren nach dem Unglück Rettungsboote los, um die Leichen zu bergen, und so wurden nirgendwo so viele Titanic-Opfer beigesetzt wie hier: 121 auf diesem Friedhof, 19 auf dem katholischen Mount Olivet-Friedhof und zehn auf dem jüdischen Baron de Hirsch-Friedhof – 150 von 337 Opfern, die gefunden wurden.

Vor einem Denkmal geht Lorelei Brown in die Knie: „Errichtet zur Erinnerung an ein unbekanntes Kind, dessen sterbliche Überreste nach dem Untergang der Titanic geborgen wurden“, steht auf dem Grabstein. Lorelei Brown kämpft mit den Tränen. Sie streicht sich eine Strähne ihres rötlich gefärbten Haares aus dem Gesicht. „Dies ist das tragischste Denkmal“, sagt sie.

Das Wetter schlägt Kapriolen in diesem Frühjahr in Kanada. An einem Tag liegt eine dünne Schneedecke auf den Gräbern, und ein eisiger Wind zieht über die Friedhöfe, dann springt das Thermometer auf über 20 Grad, und die Sonne verbreitet sommerliche Wärme. Ein Gesteck aus Tannenzweigen mit einer kleinen goldfarbenen Geige lehnt am Grabstein von John Law Hume. Er war Mitglied des Bordorchesters, das bis zum Untergang des Schiffs an Deck spielte. Alle acht Orchestermitglieder kamen bei der Katastrophe ums Leben, nur drei – der Violinist Hume, Orchesterleiter Wallace Hartley und Bassist John Frederick Preston Clarke – wurden geborgen. Während Hartley in seine britische Heimat überführt wurde, fanden Clarke und Hume ihre letzte Ruhestatt in Halifax.

Für Halifax ist der 100. Jahrestag der Katastrophe kein leichtes Gedenken. Die Titanic und die Orte, die mit ihr in Verbindung stehen, sind Teil der Geschichte der Stadt und der Provinz Nova Scotia, die auch Touristen anziehen: die Friedhöfe, die Kirchen, in denen Trauergottesdienste stattfanden, das Pier, an dem die Schiffe mit den Opfern anlegten, das Haus des Millionärs George Wright, der mit der Titanic unterging. Gleichzeitig bemüht sich die Stadt, Rummel zu verhindern. Wenn im Sommer die Kreuzfahrttouristen busweise zu den Friedhöfen gebracht werden, hören sie gefasst alle Mahnungen, sich beim Rundgang auf den Friedhöfen respektvoll zu verhalten.

John Boileau, 67, kennt die Geschichte fast aller namentlich bekannten Opfer. Der frühere Colonel der kanadischen Armee hat zum Jahrestag der Katastrophe das Buch „Halifax and Titanic“ veröffentlicht, das die Verbindungen zwischen der kanadischen Hafenstadt und der fatalen Reise des Luxusdampfers schildert. „Es gibt viele Bücher, die sich mit den Überlebenden befassen, die von der Carpathia aufgenommen und nach New York gebracht wurden. Ich befasse mich mit dem Schicksal der Opfer. Was geschah mit ihnen, wo wurden sie beigesetzt?“, sagt er.

Ein "Todesschiff" kehrte nach Halifax zurück

Während die Überlebenden von der Carpathia, einem Schiff der Konkurrenzreederei Cunard, aufgesammelt werden, belud man in Halifax Rettungsschiffe mit Särgen, Leichensäcken, Eis und Balsamierflüssigkeit. Es waren drei Schiffe, die bei der Verlegung von Telegrafenkabel quer durch den Atlantik eingesetzt wurden, deren Besatzungen daran gewöhnt waren, unter widrigen Verhältnissen auf hoher See zu arbeiten. Sie hießen Mackay-Bennett, Minia und Montmagny.

Fünf Tage nach dem Unglück war die Mackay-Bennett am Unglücksort, nach einer Fahrt von 1300 Kilometern. Die Männer an Bord des Schiffs arbeiteten sorgfältig. Die Leichen wurden in der Reihenfolge, in der sie geborgen wurden, nummeriert. Die gleiche Nummer erhielt ein Leinensack, der alle persönlichen Gegenstände, die sie noch bei sich hatten, oder Kleidungsstücke aufnahm. Dieses System sollte sich später als von unschätzbarem Wert für die Identifizierung der Opfer herausstellen. Zwischen dem 21. und 26. April bargen die Mackay-Bennett und die anderen Schiffe 306 Leichen, von denen 116 auf See bestattet wurden.

Mit 190 Opfern an Bord kehrte Mackay-Bennett als „Todesschiff“ am 30. April nach Halifax zurück. Angehörige der Toten aus den USA und Kanada warteten schon am Pier. Die Geschäfte hatten schwarz geflaggt, Kirchenglocken läuteten. Mehr als drei Stunden dauerte das Entladen. Der Mayflower Curling Club diente als Leichenhalle: Es war der größte Raum in Halifax, der gekühlt werden konnte. Die White Star Line kaufte von der Stadt Halifax Gelände auf den Friedhöfen und gab bei dem Steinmetz Frederick Bishop die Grabsteine in Auftrag. Zwischen dem 3. Mai und dem 12. Juni 1912 wurden die Opfer auf den drei Friedhöfen in Halifax beigesetzt.

Joan Doherty führt in der Norwood Street in Halifax das Marigold Bed and Breakfast. Für die 62-jährige Frau ist die Titanic Teil ihrer Familiengeschichte. Sie geht in das Wohnzimmer und nimmt ein Schwarz-Weiß-Foto von der Wand. Es zeigt einen kräftigen Herrn mit einem breitkrempigen weißen Hut. Ihren Großvater, Frederick Bishop. Im Zentrum von Halifax, in der Argyle Street, hatte der seinen Steinmetzladen.

„Wenn meine Mutter über ihren Vater erzählte, dann beendete sie ihre Erzählungen meist mit dem Hinweis: Vater stellte die Grabsteine für die Titanic her“, sagt Joan Doherty. Als die White Star Line den Auftrag ausschrieb, bewarb sich Bishop und bekam den Zuschlag. In der Familiengeschichte ist notiert, dass die White Star Line sehr zufrieden mit der Arbeit war, und Bishop einen nicht näher bezeichneten „Bonus“ bekam.

Eines der wenigen Fotos des Großvaters zeigt diesen mit Rabbi Jacob Finegold an den Titanic-Gräbern auf dem jüdischen Baron de Hirsch-Friedhof. Die Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag der Katastrophe gehen Joan Doherty sehr nahe. „Das alles bringt die Erinnerungen an meine Eltern und ihre Geschichten zurück.“ Sie erzählt, dass ihre Mutter ihr von einem Traum ihrer Großmutter berichtet habe. Als die Titanic unterwegs war, träumte sie, dass ein großes Schiff unterging. Einen Tag später habe sich die Nachricht verbreitet, dass die Titanic gesunken war. „Die Titanic sollte zwar Halifax nicht ansteuern, aber es kamen viele große Schiffe über den Atlantik in unsere Stadt. Halifax ist so sehr mit der Schifffahrt verbunden. Und weil wir am Ozean leben und so viele aus dieser Stadt ihr Leben auf See verloren, hätten wir auch niemals gesagt, dass ein Schiff unsinkbar ist.“

Der Ansturm zum Gedenken ist groß

Am Abend des 14. April hat Joan Doherty der Opfer gedacht. Sie nahm an einer Prozession im Hafen teil. Um 0.20 Uhr Ortszeit – dies entspricht 2.20 Uhr am Ort des Titanic-Untergangs – wurde eine Schweigeminute eingelegt. Zwei Tage später, am 16. April, wird wird der Dampfer MS Balmoral in Halifax anlegen.

Nicht weit von ihrer Ankerstelle entfernt ist das „Maritime Museum of the Atlantic“ ein Magnet für alle, die sich für Schifffahrt und für die Titanic interessieren. Kurator Gerry Lunn bereitet sich mit seinen Mitarbeitern schon seit Monaten auf den Besucheransturm zum Jahrestag vor. Er ist einiges gewöhnt. Das Museum erlebte nach dem Erscheinen von James Camerons „Titanic“-Film Ende 1997 einen enormen Anstieg bei den Besucherzahlen. Vor dem Film zählte das Museum jährlich etwa 110.000 Besucher, im Jahr danach eine viertel Million. Im Durchschnitt kommen jährlich 165 000 Besucher. „Wir werden sicher einen deutlichen Anstieg im April und im Sommer sehen“, erwartet Gerry Lunn.

Das Museum dokumentiert die Reise der Titanic, ihren Untergang, die Rettung von Passagieren und die Bergung der Opfer. Auf einer Wand sind in Wellenform die Namen aller Passagiere aufgeschrieben, schwarz die der Opfer, weiß und hellblau die der Geretteten. Das Museum hat mehrere Objekte von der Titanic erworben, darunter eine Kiste aus Mahagoniholz, die zur Einrichtung in den Erste- Klasse-Kabinen gehörte, und ein Stück der legendären Treppe, die in ihrer Totalen in einem Foto gezeigt wird. Das bemerkenswerteste Stück ist ein Deckstuhl der Titanic. Er war zu kostbar, um ihn offen auszustellen. Er wird in einer Glasvitrine ausgestellt.

Dass die Geschichten so vieler Titanic-Toter nicht vergessen sind, ist sicher auch das Verdienst von John Boileau. Er hat recherchiert und in seinem Buch aufgeschrieben, was von ihnen zu wissen ist. Von Arthur Gordon McCrae, dem australischen Ingenieur, dessen Grab mit dem keltischen Kreuz das auffallendste Denkmal ist. Von Steward Ernest Freeman, dessen Grabstein White Star Line-Eigentümer Bruce Ismay bezahlte. Ismay war auch an Bord der Titanic, wurde aber im Gegensatz zum Großteil der Crew gerettet. Von Joseph Dawson, einem Crewmitglied, dessen Grab zu einer Pilgerstätte wurde, weil er mit „Jack Dawson“ identifiziert wurde, in Camerons Film gespielt von Leonardo DiCaprio. Und vom „unbekannten Kind“, das erst 2007 durch eine DNA-Analyse mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit als die 19 Monate alte Sidney Leslie Goodwin identifiziert wurde, die mit ihren Eltern und fünf Geschwistern bei der Katastrophe ums Leben kam.

Marie-France Parent und ihr Vater Guy stehen auf dem Fairview Lawn Friedhof vor den Gräbern. „Alle, die nicht in Rettungsbooten saßen, wussten, dass sie verloren sind. Dass es keine Hilfe gab. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, was in diesen Menschen vor sich ging“, sagt Guy Parent aus Ottawa. „Es ist überwältigend, dies hier zu sehen“, ergänzt seine Tochter.

„In der Mitte der Nacht, keine Hilfe in Sicht.“ Dann liest sie die Inschrift auf dem Grabstein des 21-jährigen Harold Reynolds. Sie erzählt von der Einsamkeit, dem Alleinsein, nur mit Gott an der Seite. Von der vergeblichen Hoffnung auf Hilfe. Und sie schließt mit dem verzweifelten Ruf, in der Mitte des Lebens dem Tod geweiht zu sein: „In the midst of life, we are in death.“

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