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Panorama: 400 Jahre vernichtet – in einer Nacht

Die Flut raubt einer Familie in Weesenstein ihr Haus aus dem 17. Jahrhundert. Nächste Woche kommt der Bagger

Von Frank Jansen, Weesenstein

Die schwere, dunkle Polstergarnitur hängt direkt über ihren Köpfen. Rudolf und Kerstin Fritzsche könnten im nächsten Moment erschlagen werden. Der Boden des Wohnzimmers im ersten Stock neigt sich hinunter, die wuchtige Sofaecke hat auf der abschüssigen Fläche kaum noch Halt. Doch das Ehepaar scheint die Gefahr nicht wahrzunehmen. Die Fritzsches stehen an ihrem Haus, an der weit aufgerissenen Ecke, und blicken auf die vor ihnen plätschernde Müglitz. Davor ragt aus den Schutthalden die letzte, schmale Grundmauer empor, auf der die Familie Jäpel stundenlang ausharrte, bis ein Hubschrauber kam. Vor den Augen der Fritzsches breitet sich aber auch die absurd scheinende Pracht des Schlosses aus, das auf dem Felsen thront, ohne einen Kratzer oder Wasserflecken. Sonnenschein und blauer Himmel verstärken noch den Kontrast: Oben die Idylle, unten das Chaos. „Der Statiker war schon da“, sagt Kerstin Fritzsche in einem sachlich klingenden Tonfall. „Unser Haus wird abgerissen.“ Ihr Mann sagt gar nichts. Er kann nicht. Rudolf Fritzsche dreht sich weg und geht.

Weesenstein bietet einen Anblick, der auch anderthalb Wochen nach der Flut eher surreal erscheint. Der 180-Seelen-Ort an der Müglitz, 30 Kilometer südöstlich von Dresden, ist kaum mehr als eine Ruinenlandschaft – aufgeschlitzte Häuser, in der Luft hängende Eisenbahnschienen, zerstampfte Autos, überall Schutthügel. Bagger dröhnen durch das Tal, sie schaufeln Trümmer und Geröll weg. Soldaten der Bundeswehr wieseln herum, Männer des Technischen Hilfswerks und freiwillige Helfer. Aber wird es möglich sein, wieder in Weesenstein zu leben? Hat eine Familie wie die Fritzsches hier noch eine Zukunft? Wird dem Dorf und ähnlich getroffenen Orten genügend Aufmerksamkeit zuteil, auch wenn Städte wie Dresden und Grimma viel bekannter sind?

Die letzte Frage ist vielleicht schon positiv beantwortet. Vergangenen Sonntag kam reichlich Prominenz nach Weesenstein: Bundesaußenminister Joschka Fischer und Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt begleiteten den Präsidenten der EU-Kommission, Romano Prodi, sowie EU-Kommissar Günter Verheugen bei einem Blitzbesuch im Dorf. Die Politiker waren geschockt und versprachen Hilfe. Doch es gibt Familien, denen auch viel Geld nur halbwegs nützt. Der Verlust, der zum Beispiel die Fritzsches trifft, ist nicht mehr zu ersetzen.

Das Haus war hochwassererprobt

„Mein Mann ist in unserem Haus geboren“, sagt Kerstin Fritzsche. Und nicht nur er. Seine Mutter Edith kam hier 1924 auf die Welt. Das dreigeschossige Haus ist uralt: Errichtet im 17. Jahrhundert und durchaus hochwassererprobt. „Als die Flut kam, haben wir gedacht, das wird wie 1927“, sagt Edith Fritzsche. Damals kamen in Ostsachsen mehr als 100 Menschen ums Leben. Das Haus in der Schulstraße Nummer 9 hielt allerdings stand. Doch am Abend des 12. August 2002 prallte die Müglitz mit ungeahnter Kraft auf Weesenstein. „Wir sind erst rauf, in den ersten Stock“, sagt die schwer behinderte Edith Fritzsche, „wie mein Vater uns früher geraten hat“. Es half nichts. Die Wassermassen stiegen. Edith Fritzsche, ihr Sohn Rudolf, seine Frau Kerstin und Enkel Peter flüchteten sich auf das Dach. Gegenüber hockte Familie Jäpel auf der übrig gebliebenen Grundmauer ihres weggerissenen Hauses und schrie um Hilfe. Morgens kam endlich ein Hubschrauber. „Wir haben gewunken“, sagt Edith Fritzsche leise. Mit einer Tasche lebenswichtiger Medikamente wurde sie in den Helikopter gehievt. Dort saßen schon die Jäpels. Mehr kann und will Edith Fritzsche über jene Nacht nicht erzählen.

Überlebenswille strapaziert

Sie ist mit ihrer Familie in Pirna untergekommen, bei einer Tochter, die nicht mehr in Weesenstein lebt. „Ich werde wohl in Pirna bleiben“, sagt Edith Fritzsche. Nach dem Abriss könne auf dem Grundstück so nah am Fluss kein neues Haus gebaut werden. Rudolf und Kerstin Fritzsche wollen jedoch bleiben. „Mal sehen, ob wir im Ort wieder eine Wohnung kriegen“, sagt die 44 Jahre alte Kerstin Fritzsche. Sie will nicht aufgeben, obwohl das Leben schon vor der Flut nicht einfach war. Nur Sohn Peter, 22, hat einen Job, als Werkzeugmacher. „Ich bin gelernte Bürokauffrau und auf Arbeitssuche“, sagt Kerstin Fritzsche. Ihr Mann, 50 Jahre alt, sei Kfz-Mechaniker „und auch auf Arbeitssuche“. Sie betont dieses Wort. Den Begriff „arbeitslos“ will Kerstin Fritzsche nicht hören.

Ihr Überlebenswille wird allerdings stark strapaziert. Auch Hilfsangebote verursachen Stress, weil nur mühsam ein Überblick zu gewinnen ist. „Man möchte sich zerteilen“, sagt Kerstin Fritzsche, „hier sein, da sein, überall sein“. 300 Euro habe sie bislang erhalten, gespendet von der Feuerwehr im Nachbarort Meusegast. „Wir müssen jetzt nach Pirna zum Landratsamt, da gibt es 250 Euro pro Mann“. Und den Antrag auf Soforthilfe habe sie schon gestellt, „das gibt 2000 Euro“. Doch das Haus ist verloren, die Familie entwurzelt. Nächste Woche kommt der Bagger.

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