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Panorama: Alles ist aus

Tom und Sonja sind Opfer eines Verbrechens geworden – die Angst vor dem Täter hat ihre Heimat im Griff

Eine Woche nach ihrem Bruder Tom ist jetzt auch die verschwundene Sonja tot gefunden worden. Damit hat die Eschweiler Familie S. beide Kinder verloren – Trauer überkam ganz Bergrath, jenen Teil von Eschweiler, in dem die Eltern wohnen. Bergrath ist ein heimeliger Ort mit heimeligen Menschen. Die Kinder aber werden jetzt morgens zur Grundschule gebracht und mittags wieder abgeholt. Einige mit dem Auto, diese stehen am Schuleingang im Halteverbot, das die beiden Ortspolizisten derzeit nicht durchsetzen. Die meisten aber zu Fuß, denn Bergrath ist klein. Eines dieser überschaubaren und aufgeräumten Dörfer, die die Illusion nähren, das Leben sei ebenso aufgeräumt und überschaubar. „Unvorstellbar, hier bei uns…“, heißt es überall – doch jetzt sind alle Regeln, alle Gewissheiten außer Kraft.

Da stehen sie zum Ende der fünften Schulstunde, Eltern und Großeltern, müssen über das Eine reden und warten auf die Tochter, den Sohn, das Enkelkind. „Man sieht nachmittags kein Kind mehr auf der Straße, das ist eine tote Stadt“, sagt eine Frau.

Hier besuchte die neunjährige Sonja S. die vierte Klasse. Seit sie verschwand, am Sonntag vor acht Tagen, herrscht Beklemmung. Notfallseelsorger kommen seitdem, um sich vor allem um die Kinder der 4. Klasse zu kümmern; normaler Unterricht fand kaum noch statt. „Für uns ist es das Wichtigste, die Kinder zu beruhigen", sagt Schulleiterin Ulrike Gerhards. Ansonsten geht der Schulbetrieb weiter, auch wenn es für viele derzeit weniger um das Lernen als vielmehr darum geht, umsorgt zu werden. Die Angst hat Bergrath im Griff. Eine Frau sagt: „Ich lasse die Kinder weiter zur Schule kommen. Viele Eltern sind berufstätig. Würde ich schulfrei geben, wären zahlreiche Kinder allein zu Hause. Das möchte ich auf keinen Fall.“

Eine Woche war das Mädchen weg. Eltern trafen sich, berieten, was zu tun sei, kümmerten sich um die Eltern der Geschwister. Noch am Sonntag, auf dem Stadtfest, verteilten sie tausende Flugblätter mit Fotos und einer Beschreibung des Mädchens. Dort hinein platzt dann die schlimme Nachricht: Eine Mädchenleiche ist gefunden worden, 90 Kilometer entfernt, 500 Meter hinter dem Ende der Autobahn 1, an der Landstraße, die zum Nürburgring führt, auf einem Forstweg. Ist das Sonja? Um Himmels willen. Ist das noch ein anderes armes Mädchen? Die Polizei benachrichtigt Sonjas Eltern. Sie müssten sich „auf alles vorbereiten“.

24 Stunden später, nach der Obduktion der Leiche (siehe Kasten), setzen Polizei und Staatsanwaltschaft im nahen Aachen der Ungewissheit ein Ende. Das tote Mädchen ist Sonja, sie wurde erdrosselt, sichere Hinweise auf ein Sexualverbrechen gebe es aber nicht. Ein Schicksal wie das ihres elfjährigen Bruders Tom, der schon am vergangenen Montag gefunden worden war, erwürgt und mit einer Plastiktüte über dem Kopf. „Einen solchen Kriminalfall gab es in Deutschland noch nie“, sagt ein Experte des Landeskriminalamtes. „Zwei Kinder verschwinden, eins wird tot aufgefunden, das andere eine Woche später auch.“ Und der sichtlich bewegte Leiter der Mordkommission, Reinhard Pitz, verspricht: „Ich kann versichern, dass dieser Fall von uns unter Zurückstellung jeglicher privater Anliegen bearbeitet wird; dass das, was man sich an eigener Hingabe vorstellen kann, deutlich überschritten wird.“

Die Bergrather Kinder sind nicht mehr frei. Zum Sport, zu Kursen, zu Geburtstagen: Die Eltern gehen mit ihnen. Sie erzählen einander schlimme Gerüchte: Dass seit Jahren im Westen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ein Serientäter morde. Dass Belgien ja so nah sei, Belgien mit seinen vielen schlimmen Kinderschänder-Geschichten. „Wie kann man helfen, was kann man tun?“, fragt ein Mann verzweifelt. Nichts. Die Kinder wegbringen, die Kinder abholen. Leben ist wichtiger als Selbstständigkeit.

Hubert Wolf[Eschweiler]

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